Es war Samstag, der zweite März.
Das Wetter war gut, die Sonne schien von einem bewölkten aber freundlichen Himmel herab, und die Wärme, die sich während der letzten Tage in Londons Straßen breit gemacht hatte, ließ den harschen, unbarmherzigen Winter, den sie gerade hinter sich gebracht hatten, beinahe unwirklich erscheinen.
John Sholto Douglas, der 9. Marquess of Queensberry interessierte sich nicht für das Wetter. Er war augenblicklich ganz bei sich, strich genüsslich mit einem grobzinkigen Kamm durch das drahtige Haar seines imposanten Backenbarts und verscheuchte damit die Flöhe, als es an der Tür klopfte.
»Harold?«
Stille.
»Haaroold?«
Abermals Stille.
»Haaarooold?«
Wieder kam keinerlei Reaktion.
»Verflucht noch eins, Harold!« Queensberry stand irritiert auf, als noch immer kein Butler erschien und das Pochen drängender wurde. Er wand sich den Gürtel seines Morgenmantels um die Taille und flocht einen Knoten hinein.
Vor der Tür stand ein kleiner, rundlicher Mann in schlecht sitzenden Kleidern, die offenkundig nicht bei einem der Schneider in Savile Row gefertigt worden waren, wo er selbst für gewöhnlich Maß nehmen ließ.
»Guten Abend«, sagte der Mann. Sein Gesicht sah ernst und grau aus. Unverkennbar das herbe, vom Leben enttäuschte Gesicht eines Mannes, der sein Auskommen damit verdiente, rechtschaffenen Bürgern unrechtschaffene Dinge aufzuschwatzen, die niemand brauchte. Zweifellos das Gesicht eines Hausierers oder Bettlers.
»Sie müssen sich in der Tür geirrt haben, guter Mann – das Armenhaus ist zwei Straßen weiter.« Er wollte die Tür eben schließen und sich wieder der Pflege seines Bartes widmen, doch der kleine, einfach gekleidete Herr stellte seinen Fuß in den Türspalt und zog ein offiziell aussehendes Papier aus der Innentasche seines Jacketts.
»Sind Sie der Marquess of Queensberry?«, fragte er mit unbewegtem Gesicht.
»Was haben Sie geglaubt, bei wem Sie anklopfen? Selbstverständlich bin ich das.«
»Mein Name ist Greet. Chief Inspector Thomas Greet.«
»Oh ja. Seien Sie ebenfalls gegrüßt.«
Greets Gesicht verdunkelte sich, als sei eine regenschwere Gewitterwolke darüber hinweggezogen. »Lassen Sie die Scherze, Sir. Ich bin in offiziellem Auftrag hier.«
»Nun denn, guter Mann. Sagen Sie, was zu sagen ist. Raus mit der Sprache. Worum geht es?«
»Ich habe einen Haftbefehl für Sie.«
»Einen Haftbefehl. Das ist mir jetzt etwas peinlich, wissen Sie? Aber mein Butler ist nicht hier«, sagte Queensberry. »Hielt ihn immer für einen anständigen Mann.« Er seufzte schwer. »Wie man sich täuschen kann. Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Kommen Sie doch herein. Was hat er sich zu Schulden kommen lassen, Mr Greet? Wenn es sich um bloße Geldschwierigkeiten handelt, komme ich selbstverständlich dafür auf.«
»Ich fürchte, Sie missverstehen mich, Lord Douglas.« Greet trat ein und reichte ihm den Haftbefehl. »Sie sind es, den ich festnehmen werde.«
Queensberry überflog das Papier flüchtig, fand seinen Namen darauf und reichte es dem Inspector zurück. Er war kein Mann, der sich lange sträubte. »Nun denn, wenn es sich nicht vermeiden lässt – wie lautet die Anklage?«
»Verleumdung, Sir«, sagte Greet, kniff die Lippen zu dünnen blutleeren Strichen zusammen und räusperte sich. »Sie werden beschuldigt, Mr Oscar Wilde einen posierenden Schiiten genannt zu haben.«
»Sodomiten«, korrigierte ihn Queensberry. »Das ist ein Unterschied, soviel ich weiß.«
»Äh … ja.« Greet hüstelte verlegen und steckte den Haftbefehl wieder ein. »Ist es korrekt, dass Sie am 18. Februar eine dementsprechende Karte in seinem Club, dem Albemarle, hinterließen?«
»Ob es der 18. oder der 19. war, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Aber ja – ja, ich hinterließ eine dementsprechende Karte für ihn.«
»War Ihnen bewusst, dass Sie damit den Strafbestand der Verleumdung erfüllten?«
»Nein.«
»Nein?«
»Mein guter Mann, ich war mir sicher, ich schriebe lediglich die Wahrheit nieder«, sagte Queensberry. »Ich sehe kein Vergehen darin.«
»Mr Wilde ist ein berühmter und ehrbarer Mann von internationaler Bedeutung. Sie haben ihn absichtlich verunglimpft. Dachten Sie, Sie kämen damit ungestraft davon?«
»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Von seiner Ehrbarkeit ist mir rein gar nichts bekannt. Im Gegenteil.«
Greet räusperte sich unbehaglich. »Sie leugnen also nicht, die Nachricht in seinem Club hinterlassen und ihn damit absichtlich verunglimpft zu haben?«
»Halten Sie es für verwerflich, den Gestank eines Iltis als Gestank zu bezeichnen, Chief Inspector?«
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Hielten Sie es für verwerflich, Sie als Chief Inspector zu bezeichnen?«
»Wollen Sie mich beleidigen, Sir?«
»Selbstverständlich nicht.« Queensberry rieb sich die Stirn. Der Mann verstand ihn nicht. Warum auch immer. »Ich stellte lediglich eine Tatsache fest.«
»Und ich stelle fest, dass ich Sie bitten muss, mich auf die Wache in der Vine Street zu begleiten. Dort werden Sie bis zur Gerichtsverhandlung vorerst festgesetzt.«
»Das klingt vernünftig.« Queensberry langte nach der Garderobe und warf sich einen leichten Mantel über die Schulter. »Wird Mr Wilde ebenfalls vor Gericht erscheinen?«
»Selbstverständlich. Er ist derjenige, der Strafanzeige gestellt hat.«
»Sehr schön.« Queensberry hakte den Chief Inspector gut gelaunt unter und trat mit ihm auf den Hotelkorridor hinaus. »Seit acht oder zehn Tagen schon versuche ich Mr Oscar Wilde zu finden. Diese schreckliche Sache läuft jetzt schon seit über zwei Jahren. Sie glauben gar nicht, wie gern ich Sie jetzt begleite.«