Chief Inspector Donald Swanson las den Bericht an diesem Morgen zum dritten Mal.
Es war jener Bericht, den Constable Walter Dew über den Unfalltod von Dr. Abrahamsen angefertigt hatte. Der steinalte Gerichtsmediziner war vor zwei Tagen vor einem übel beleumdeten Haus in Hay Market von einem Bierwagen erfasst und fünfzig Yards weit mitgeschleift worden.
Abrahamsen war nahezu taub gewesen, vermutlich hatte er die Straße überqueren wollen und den herannahenden Wagen einfach nicht gehört. Böse Zungen dagegen behaupteten, er habe sich absichtlich davorgeworfen, um endlich seine Ruhe zu haben, friedlich auf dem Obduktionstisch zu liegen und einem anderen Gerichtsmediziner die Mehrarbeit aufzuhalsen.
Dew hatte sich auf Swansons Bitte hin mit dem Beamten in Verbindung gesetzt, der den Fall bearbeitete und die Aussagen der Augenzeugen aufgenommen hatte. Wenngleich Swanson auch ein ungutes Bauchgefühl hatte, was Abrahamsens Tod betraf, war nichts dabei herausgekommen, was auf etwas anderes als auf einen tragischen Unfall hindeutete. Fünf Passanten, die an der Straße auf den Bus nach Clapham gewartet hatten, waren Zeugen von Dr. Abrahamsens Ableben geworden. Offenbar war der Doktor eiligen Schrittes aus Richtung des Freudenhauses gekommen, hatte zwei der Passanten beiseitegeschoben und war direkt auf die viel befahrene Straße getreten und sofort von dem Bierwagen überfahren worden. Wie Dews Nachforschungen ergaben, hatte niemand etwas Verdächtiges beobachtet.
Er legte die losen Blätter in den Ordner zurück. Nicht überall lauerten die Mörder, Donald. Manchmal geschahen eben auch Unfälle, ganz egal, wie hartnäckig einem das Bauchgefühl etwas anderes einflüstern mochte.
Es klopfte an der Tür, und noch ehe Swanson »Herein!« gerufen hatte, stand Detective Sergeant Clarence Penwood vor ihm. Klein, rundlich und die ansonsten winzigen Knopfaugen durch die dicken Brillengläser ins Riesenhafte vergrößert. Er war mächtig außer Atem, denn um abzunehmen mied er den Aufzug und legte selbst die Strecke vom Kellergeschoss, wo die forensische Abteilung um die Inspectoren Steadman, Collins und Hunt residierte, und den Büros seiner Abteilung über das Labyrinth von Treppen zurück.
Jetzt stand er mitten in Swansons Büro und hielt einen kleinen blauen Teller in der Hand.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Sir.« Seine Brillengläser, bis eben noch durch den Wind in den zugigen Fluren des Yard gekühlt, beschlugen sofort, als Penwood bloß dastand und vom Laufen erhitzt schwitzte. »Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Und er hielt Swanson den Teller hin, als handle es sich um den heiligen Gral.
Swanson nahm die Lupe zur Hand, blickte hindurch auf den Teller und sagte in scherzhaftem Ton: »Ein gewöhnlicher blauer Teller, Penwood – und nicht gerade sonderlich sauber.« Er legte die Lupe wieder hin und fragte: »Was soll das? Was hat es damit auf sich, Clarence?«
»Der Teller ist leer, Sir.«
»Nun, das sehe ich.«
»Und zuvor war er es nicht.«
Swanson, der nicht die geringste Ahnung hatte, worauf Sergeant Penwood hinauswollte, fragte: »Was soll das werden, Sergeant? Ist heute der erste April?«
»Oh, natürlich nicht, Sir.« Penwoods Stimme bekam einen düsteren Unterton. »Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass hier im Yard seltsame Dinge vor sich gehen.«
»Seltsame Dinge?« Donald Swanson fand Penwoods Verhalten merkwürdiger als alle Dinge, die hier vor sich gehen mochten. »Klären Sie mich auf – bitte.«
»Sie wissen vielleicht, dass meine Gattin Victoria jeden Morgen Sandwiches für mich macht.«
»Ich hörte davon, ja.« Sergeant Penwood wurde nicht müde, die Bemühungen seiner Frau tagtäglich zu erwähnen. Sie putzte ihm die Schuhe, sorgte für sein Wohlergehen, indem sie ihm Lebensmittel für den Tag in seine Aktentasche packte, und schrieb ihm – das hatte Swanson eines Tages unfreiwillig herausgefunden – sogar Liebesbriefe für den Tag, damit er sich besser fühlte. Augenscheinlich war nun irgendetwas mit seinen Sandwiches geschehen, das sofortige Maßnahmen erforderte. »Also? Worum geht es, Sergeant?«
»Meine Sandwiches verschwinden.«
»Ihre Sandwiches verschwinden?«
»Ja, Sir. Es klingt seltsam, nicht wahr? Aber so ist es. Sie verschwinden. Und das irritiert mich, Sir.« Penwood sah dermaßen verwirrt aus, als habe man ihm gerade erklärt, die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten sei eine doppelte Schlaufe. »Wie kann es sein, dass ich mein Truthahnsandwich auf diesem Teller liegen hatte, und nun ist es fort.«
»Womöglich haben Sie es bereits gegessen«, sagte Swanson.
»Nein. Das habe ich nicht.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Ja, Sir.« Er drehte den Teller in der Hand und betrachtete ihn wie etwas Unerklärbares, das ein Archäologe bei Ausgrabungen gefunden haben mochte. »Anfangs habe ich mich noch gefragt, ob ich wegen der vielen Arbeit einfach nicht mehr wusste, wohin ich sie gelegt hatte. Dass ich sie nicht gegessen hatte war klar. Denn ich hatte immer noch Hunger.«
Das leuchtete Swanson ein. »Und was möchten Sie, dass ich nun in der Angelegenheit unternehme?«
»Ich wollte lediglich Meldung machen, Sir. Es ist jetzt fünf- oder sechsmal geschehen. Und ehe es wieder geschieht, wollte ich mit jemandem darüber gesprochen haben.«
Swanson wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. »Kein schlechter Gedanke, Penwood«, sagte er schließlich. »Sollte es wieder geschehen, geben Sie Bescheid. Ich bin sicher, wir finden den Schuldigen.«
»Danke für Ihr Verständnis, Sir.« Er schlug die Hacken zusammen und konnte es sich gerade noch verkneifen, die rechte Hand an die Stirn zu legen. »Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«
»Oxford?« Miss Louisa Balshaw schwebte in ihrem ausladenden Kleid vom Fenster zu Frederick Greenland hinüber.
Der lag mehr in dem Sessel am Kamin, als dass er saß, die Beine auf einem niedrigen, samtbezogenen Schemel; bequem ausgestreckt und an den Knöcheln übereinander geschlagen, und nippte an einem Glas Sherry, derweil er Louisa anlächelte – angrinste, wie Badger, sein Ziehsohn, sich vermutlich ausgedrückt hätte. Was für eine wunderschöne Frau, dachte Frederick.
Welches Glück er doch hatte.
Louisa und er waren sich bei einer Séance im letzten Jahr vorgestellt worden, die sie selbst gehalten und an der er mehr oder weniger zufällig teilgenommen hatte.
Als Madame Balshaw war sie eines der berühmtesten Medien Londons gewesen, hatte sich jedoch mittlerweile aus dieser Art von Geschäft zurückgezogen und sich des Teehandels ihres verstorbenen Bruders angenommen.
Seit einigen Monaten lebten Sie und Frederick unter einem Dach in seinem Haus am Gordon Square. Sein Butler Morton achtete mit Argusaugen darauf, dass sie sich beide bis zur Hochzeit im kommenden Frühjahr nicht zu nahe kamen.
Louisa blieb vor Frederick stehen.
»Ich dachte, die Stadt könnte Badger gefallen«, sagte der und nahm die Füße vom Schemel. »Er ist ja aus London noch nie weiter herausgekommen als bis nach Chelsea. Er wird die prachtvollen Geschäfte mögen, denkst du nicht auch? Und dann erst die Bibliothek. Der Junge liest doch so gern. Und Stratford würden wir selbstverständlich ebenfalls besuchen.« Er merkte selbst, wie er richtiggehend ins Schwärmen geriet. »Ich habe den Eindruck, Badger hat mittlerweile großen Gefallen an Shakespeare gefunden. Erst neulich erwischte ich ihn, wie er bei der Lektüre von Viel Lärm um nichts schallend lachte.«
»Ich hatte den Eindruck, er liest Shakespeare nur, wenn du in der Nähe bist«, sagte Louisa.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Nun, wenn ich ihn lesen sehe, dann nur diese grässlichen Penny Dreadfuls, in denen es immer um Mord und Todschlag geht.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Geschichten vom Newgate Gefängnis und von Sweeney Todd, dem bösartigen Barbier von Fleet Street.«
»Der dämonische Barbier«, korrigierte Frederick sie und winkte ab. »Das ist nichts weiter als eine Phase. Er ist eben ein richtiger Junge. Die interessieren sich für solche Sachen.«
Louisa betrachtete ihn leicht amüsiert. »Weiß Morton bereits von deinen Plänen?«
»Du hast recht.« Er klatschte in die Hände und sprang auf. »Ich sollte ihn unverzüglich darüber in Kenntnis setzen. Er muss sich natürlich um die Zugbillets kümmern und die Koffer aufgeben. Und wir benötigen ein Hotel.« Frederick raufte sich die Haare, als ihm bewusst wurde, wie wenig er doch selbst darüber wusste, wie man Hotelzimmer reservierte, geschweige denn eine ganze Reise organisierte. »Ich werde gleich mit ihm sprechen«, sagte er, trank den Rest seines Sherrys aus und stellte das Glas auf den Beistelltisch. »Meinst du, das Ganze lässt sich noch diese Woche arrangieren? Ich habe nämlich nicht die leiseste Idee, wie lange so etwas dauert.«
Louisa stieß ein herzliches Lachen hervor und schlang ihm die Arme um den Hals.
Der Donnerstagmorgen brach früher an, als es Frederick lieb gewesen wäre. Bereits um fünf Uhr in der Früh fuhr die Droschke vor seinem Haus am Gordon Square vor, und der treue Morton, der während ihrer Abwesenheit allein in Nummer 49 zurückbleiben musste, eilte mit ihrem Gepäck unter den Armen sogleich in die morgendliche Frische hinaus, wo er den Kutscher mit skeptischen Blicken beim Verstauen der Koffer beobachtete.
»Werden die Herrschaften zum Wochenende wieder zurück sein?«, fragte Morton, als Frederick nach Badger und Louisa als Letzter von ihnen den Wagen bestieg. »Falls nicht, so würde ich, wenn Sie erlauben, gern einmal mit Miss Magda eine Landpartie machen und am Samstag die Royal Albert Hall besuchen.« Miss Magda war das Hausmädchen der Hillermans, die ganz in der Nähe in Nummer 42 wohnten.
»Nur zu, Morton«, sagte Frederick und suchte im ewig steinernen Gesicht seines Butlers vergebens nach einem Anflug von Freude. Aus Mortons Zügen irgendwelche Gefühlsregungen herauszulesen, war schlichtweg unmöglich; da war es leichter, Runen zu werfen, um das Wetter fürs kommende Wochenende vorauszusagen. »Wenn Sie schon sämtliche Vorbereitungen für diese Reise für mich getroffen haben, dann tun Sie wenigstens auch, was Ihnen Freude macht. Ich nehme sowieso nicht an, dass wir vor Ablauf einer Woche wieder nach London zurückkehren werden.« Er klopfte Morton auf die Schulter. »Meine Empfehlung an Miss Magda.«
»Danke Sir. Und Ihnen allen eine angenehme Fahrt.« Er deutete eine Verbeugung an. Sein Gesicht blieb unbewegt. Er lächelte eben doch nur zu Weihnachten.