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KAPITEL 8

Die alte Bibliothek zu betreten, war, wie eine Reise durch die Zeit zu unternehmen, fand Frederick. Als schritte man durch ein Portal in eine andere, friedlichere Welt, in der die Uhren gemächlicher tickten. Der Lärm der Moderne mit ihren Dampfmaschinen und ihrer geschäftigen Hektik blieb draußen und war bald ebenso vergessen wie der ärgerliche Mr Wilkes mit seinen Anwesenheitsbüchern, Launen und Vorschriften, als sich die mächtige Tür hinter ihnen schloss und die Stille des Lesesaals sie umfing.

Ringsum reichten die Regale bis an die mit kunstvollen Intarsien versehene Holzdecke, die sich von genauso reich verzierten Querstreben gestützt über ihren Köpfen spannte. Durch die hohen gotischen Fenster fiel das Licht der Nachmittagssonne, in deren warmen Strahlen der Staub auf und ab tanzte, wie eine Schar Spätsommermücken.

Es roch nach Bohnerwachs, feinstem Leder und sehr altem Zedernholz.

Frederick erfreute sich an Badger. Der Junge schritt mit großen staunenden Augen durch den Lesesaal. Ab und an trat er an eines der Regale und fuhr vorsichtig, fast zärtlich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken.

Frederick selbst erfreute sich an der Vorstellung, wie viele berühmte Literaten die Bibliothek im Laufe ihres Lebens wohl aufgesucht hatten, um hier zu arbeiten.

Er berührte das hölzerne Geländer, das sich links von ihm befand, und dachte, wie schade es war, dass es nicht in der Lage war, von all jenen Händen zu erzählen, die es in all den Jahrhunderten bereits gestreift hatten. Wenn es einen Ort gab, an dem sich die Geschichte durch die Zusammenkunft all der Gelehrten verdichtete, dann war es dieser hier. Ob Isaac Newton das Geländer berührt hatte? Sir Christopher Wren? Oder gar William Shakespeare?

Er strich abermals darüber und sah Badger hinterher, der um einen der Tische herumgegangen war, die hier überall standen.

Frederick folgte ihm. Doch ganz plötzlich blieb Badger stehen, schreckte zurück.

»Oh, verflucht noch eins«, stieß er halblaut hervor.

»Was hast du, Junge?« Frederick schloss zu ihm auf, und dann sah er den Grund dafür, weshalb der Junge sich nicht mehr von der Stelle rührte.

Der Mann lag neben dem mächtigen Eichentisch auf dem Bauch. Die Beine angewinkelt, der rechte Arm unter dem Körper, der linke daneben, die Handfläche nach oben.

Frederick genügte ein Blick auf dessen Hinterkopf, um zu erkennen, dass hier nichts mehr zu retten war.

Louisa, die hinter ihnen zurückgeblieben war, fragte: »Warum geht ihr nicht weiter?«

»Bitte bleib da stehen«, sagte Frederick streng, wandte sich halb um und hielt Louisa die rechte Hand vor das Gesicht. »Das ist kein schöner Anblick. Und du, Badger, läufst zurück zu diesem Archivar am Eingang. Er soll die Polizei verständigen.«

Zu seiner Überraschung gehorchte Badger sofort. Er zögerte keine Sekunde, wandte sich um und verschwand eilig und mit raschen Schritten zwischen den hoch aufragenden dunklen Regalreihen.

Frederick trat näher und besah sich den Toten genauer.

Die rechte hintere Hälfte seines Schädels war eingeschlagen worden, eine mächtige Blutlache hatte sich um seinen Kopf herum gebildet, und inmitten des Blutes lag eine vielleicht dreißig Zentimeter große Bronzestatuette, die eine Art Gottheit darstellte. Einen vierarmigen, dicken Mann mit einem Elefantenkopf, der halbnackt auf einem hohen Sockel hockte.

Handbeschriebene Papiere, die aus einem rotbraunen Umschlag herausgerutscht waren, lagen neben und unter der Leiche verstreut. Daneben eine zusammengerollte Zeitung und ein schwarzes Buch.

Frederick ging neben dem Toten in die Hocke.

Der Anblick des Leichnams war grauenhaft, und er musste sich zwingen, genauer hinzusehen, derweil sein Magen spürbar zu rebellieren versuchte. Das Haar des Mannes war beinahe schwarz von Blut. An einigen Stellen schaute etwas Weißliches zwischen den verklebten Strähnen hervor; kleinste Teile der zertrümmerten Schädeldecke, wie Frederick vermutete.

Er hatte immer angenommen, Blut sei geruchlos, doch das stimmte nicht. Ein Hauch von Eisen stieg ihm in die Nase, vermischt mit etwas anderem. Er mochte gar nicht darüber nachdenken, was es war – der Anhauch des Todes womöglich.

Trotzdem streckte er die Hand aus und berührte das linke Handgelenk des toten Mannes. Es war noch warm. Kein Puls.

Frederick schwindelte, als er jetzt die Hände auf die Knie stützte und aufstand.

Louisa war beinahe zehn Meter weit zurückgewichen. Sie saß, mit dem Rücken zu ihm, auf einem Holzschemel, der vor einem der Regale stand, und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen.

Als Frederick ihr die Hand auf den Rücken legte, nahm sie die Hände herunter, wandte den Kopf ein Stück und fragte: »Ist er wirklich tot?«

»Ja. Gar kein Zweifel.«

»Was ist mit ihm geschehen?«

»Jemand hat den Mann erschlagen.«

»Du meinst absichtlich?«

»Daran besteht nicht der geringste Zweifel«, sagte Frederick.

»Oh, mein Gott. Ermordet?«

»Es sieht ganz danach aus.«

»Und was sollen wir jetzt tun?«

»Gar nichts. Wir haben getan, was wir konnten«, sagte Frederick. »Wir können jetzt nichts weiter mehr tun, als auf die Polizei zu warten.« Er hoffte nur, dass sie bald eintraf. Es kam ihm schon wie eine Ewigkeit vor, seit er Badger losgeschickt hatte. Wo blieb der Junge nur? Was konnte so lange daran dauern, jemanden zu finden, der nach der Polizei rief? Am Empfang hatte schließlich dieser einsilbige Mann gesessen.

»Aber das ist ja ganz furchtbar.« Louisa blickte zu Boden und rieb sich mit den Händen die Oberarme. »Ich kann nicht hier drin bleiben. Ich … ich muss raus an die frische Luft.« Sie stand auf.

»Es wäre mir lieber, du gingest nicht«, sagte Frederick. Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und drückte sie auf den Schemel zurück. »Ich möchte nichts riskieren. Niemand weiß, ob der Mörder sich nicht doch noch in der Nähe aufhält. Bleib einfach hier sitzen und schau dich nicht um, Louisa.«

»Aber allein die Vorstellung, mit einer Leiche im selben Raum zu sein …«

»Stell dir vor, es sei eine Beerdigung, dann wird es gehen, dessen bin ich mir sicher«, fuhr er ihr über den Mund und beendete damit die Diskussion. Er war selbst erstaunt, mit welcher Leichtigkeit ihm die Worte über die Lippen kamen. Für gewöhnlich war er einfühlsamer. Doch es hatte wenig Sinn, in dieser Situation gefühlsduselig zu werden. Wenn er eines von Chief Inspector Swanson gelernt hatte, dann das.

Zurück bei der Leiche, hielt Frederick nach weiteren Spuren Ausschau.

Auch wenn er keinerlei Ahnung von Polizeiarbeit hatte, so war ihm ein Satz Sir Arthur Conan Doyles im Gedächtnis geblieben: »Jeder Täter hinterlässt Spuren. Es ist unmöglich, einen Tatort nicht zu verändern.«

Und so war er sorgsam darauf bedacht, nicht versehentlich auf etwas zu treten, was der Mörder womöglich hinterlassen haben mochte, als er nun um die Leiche herum schritt.

Ihm fiel nichts Besonderes ins Auge.

Was hatte der Täter hier verändert?, fragte Frederick sich. Hatte er womöglich einen Hinweis auf sich selbst zurückgelassen, ohne es zu bemerken?

Vor Jahren hatte er Conan Doyle einmal dabei beobachtet, wie dieser auf allen Vieren auf dem Fußboden einer Goldschmiedewerkstatt danach gesucht hatte.

Doch woran war eine solche Spur zu erkennen? Da war Frederick sich nicht sicher. Wenn der Täter geraucht hätte, während er die Tat verübte, fände sich bestimmt etwas Asche in der Nähe, mit etwas Glück vielleicht sogar ein Zigarren- oder Zigarettenstumpen. Doch hier roch es nicht nach Tabakqualm. Ganz abgesehen davon war das Rauchen in der Bibliothek sicherlich nicht gestattet.

Das Töten von Menschen allerdings auch nicht.

Von Badger war noch immer nichts zu sehen, geschweige denn von der Polizei.

Daher versuchte er es dennoch, ließ sich auf die Knie und Hände nieder und inspizierte den Boden bei der Leiche. Viel kam nicht dabei heraus. Nach kürzester Zeit kam Frederick sich lächerlich vor und stand wieder auf.

Zumindest eines schien ihm halbwegs sicher: Die Blutlache glänzte noch, also war sie frisch.

Wer immer diesen Mann erschlagen hatte, er konnte noch nicht allzu weit gekommen sein.

»Großer Gott, das ist Professor Hargraves! Was zur Hölle ist denn hier geschehen?« Es war der Archivar, in dessen Buch sie sich vorhin bei der Anmeldung eingetragen hatten. Der Mann war blass wie ein Geist. Er stand da und blickte händeringend auf den Toten hinab.

Frederick wusste, dass es galt, den Leichnam nicht zu berühren. Und als der Archivar sich nun hinunterbeugte und Anstalten machte, den Toten herumzudrehen, schritt er ein.

»Nehmen Sie die Hände von ihm«, sagte er etwas schärfer als beabsichtigt und packte den Mann an den Schultern. »Zurück mit Ihnen.«

»Was zum Teufel bilden Sie sich ein?« Der Archivar wandte sich zu Frederick um, stieß ihm die Hände vor die Brust und blickte ihn mit vor Entsetzen und Entrüstung funkelnden Augen an. »Wagen Sie es nicht noch einmal mich anzurühren!«

Frederick hob abwehrend beide Hände. »Sir, ich hatte nicht die Absicht, Ihnen zu nahe zu kommen. Aber Sie dürfen den Leichnam nicht anfassen. Unter keinen Umständen. Wir müssen warten, bis die Polizei hier ist, Mr …«

»Wilkes«, sagte er. »Was ich zu tun und zu lassen habe, werde ich mir von Ihnen nicht erzählen lassen, damit das klar ist.« Er funkelte Frederick böse an. »Ich habe hier die Verantwortung.« Und wieder ging er in die Hocke, vermutlich um sich erneut an dem Toten zu schaffen zu machen.

Frederick stemmte die Hände in die Hüften und sagte in scharfem Ton: »Dann handeln Sie auch entsprechend, Mr Wilkes.«

Seine Worte schienen Wirkung zu zeigen, denn der Archivar erhob sich wieder und sah Frederick nun etwas weniger selbstsicher an. »Wer sind Sie, dass Sie glauben, mir Befehle erteilen zu können?«

»Mein Name ist Greenland«, sagte Frederick. »Es ist nicht meine Absicht, Ihnen Befehle zu erteilen, aber dass es nicht hilfreich ist, die Leiche zu berühren, sagt einem der gesunde Menschenverstand, denke ich. Sie wissen, wer der Tote ist?«

»Oh, ja, ja, natürlich. Er ist einer der Professoren.« Dann schüttelte er den Kopf, so als könne er erst dadurch einen klaren Gedanken fassen. »Sind Sie von der Polizei?«

»Nein, Sir.« Für einen kurzen Moment war er versucht, dem Mann von all den Fällen zu erzählen, in denen er während der letzten paar Jahre im Auftrag Chief Inspector Swansons inoffiziell in Kriminalfällen ermittelt hatte, doch er hielt sich zurück. Das war ein Trumpf, den er immer noch ausspielen konnte, wenn es wirklich nötig war. Schließlich sagte er: »Nun, ich bin zwar nicht bei der Polizei, aber ich habe viel mit Scotland Yard zu tun.«

Das schien den Archivar zu beeindrucken. »Dann kennen Sie sich sicher mit so etwas aus.« Und er nickte in Richtung der Leiche. »Und?«

»Und?«

»Nun ja, denken Sie, er ist tot?«

»O ja, Mr Wilkes«, sagte Frederick. »Ganz offensichtlich ist er das.« Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Die Minuten vertickten. »Die Beamten sollten bald hier sein.«

»Die Beamten?«

»Die Polizei. Sie haben doch nach der Polizei geschickt, nicht wahr?« Frederick steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Einen Teufel habe ich getan. Ich wollte erst sichergehen, dass dieser schreckliche Junge, der mich hergeholt hat, keinen Unsinn erzählt.«

»Soll das heißen, die Polizei ist nicht unterwegs?« In Frederick stieg eine riesige Woge Wut auf. Zum einen, weil der Mann hier wichtige Zeit verschwendete und damit dem Mörder, der sich womöglich noch unweit der Bibliothek aufhielt, in die Hände spielte, ihm einen wichtigen Vorteil oder doch wenigstens einen Vorsprung verschaffte; und zum anderen, weil ihn dessen Bemerkung über Badger ärgerte. Am liebsten hätte er den Mann gepackt und in die Bücherregale geschleudert. Stattdessen tat Frederick etwas, von dem er später nicht einmal mehr wusste, wie er sich so sehr hatte vergessen können: Er holte aus und schlug ihm mit dem Handrücken kurz und kräftig ins Gesicht.

Erschrocken taumelte der Verwalter rückwärts, hielt sich mit der linken die schmerzende Wange und streckte die rechte Hand nach vorne aus, um sich vor weiteren Schlägen zu schützen. »Was … was fällt Ihnen ein?« Er keuchte.

»Noch ein Wort über meinen Jungen, Mr Wilkes, und ich vergesse mich«, sagte Frederick, der die Hand abermals erhoben hatte und sich zwang, in einigermaßen ruhigem Ton zu sprechen. »Und jetzt reißen Sie sich gefälligst zusammen. Sind Sie ein Mann oder eine Maus? Das hier ist ein verdammter Tatort. Sie holen jetzt endlich die verfluchte Polizei, haben Sie mich verstanden?«

Bernard Wilkes nickte schweigend, blieb aber stehen und starrte noch immer Frederick an.

»Worauf warten Sie noch? Gehen Sie, Mann!«

Und der Archivar stolperte mit Entsetzen im Blick davon.

Als Frederick sich umdrehte, um nach Louisa zu sehen, blickte er zu seiner Überraschung direkt in Badgers erstauntes Gesicht.

Der Junge schaute ihn einfach nur an; und zum ersten Mal, seit sie sich kannten, vermochte Frederick etwas in Badger zu sehen, das er noch nie zuvor gesehen hatte: das kleine, verletzliche Kind, das Billy Bob Badger im Grunde war.