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KAPITEL 12

»Ich war bereits einmal hier, Sir«, sagte Sergeant Phelps, als der Wagen vor dem imposanten Gebäude hielt, in dem die Bibliothek untergebracht war. »Das war damals, während der Whitechapel-Morde. Sie schickten mich her, um diesen stotternden Schriftsteller zu befragen, der sich mit Mr Wilde im East End herumgetrieben hatte.«

Swanson erinnerte sich.

Lewis Carroll, der sich damals noch Charles Lutwidge Dodgson genannt hatte, war mittlerweile ein berühmter Mann geworden. Und Wilde, den Swanson persönlich kannte und sehr schätzte, hatte in London den Marquess of Queensberry wegen Verleumdung verklagt. Das Verfahren gegen ihn sollte in zwei Tagen beginnen. Die Zeitungen waren voll davon. Swanson konnte nur hoffen, dass Wilde sich nicht letzten Endes doch mit dem Falschen angelegt hatte. Denn Lord Queensberry, das wusste Swanson aus Gesprächen mit Inspector Greet, war fest entschlossen, den ihm verhassten Dichter ein für alle Mal zu vernichten.

Constable Abbott, der sie in einem Einspänner der Polizei hergefahren hatte, erkundigte sich danach, ob er warten solle oder heim zu seiner Familie fahren könne.

»Fahren Sie nur, Constable«, sagte Swanson, der die Entbehrungen einer Polizistenfamilie aus eigener Erfahrung kannte. »Wir kommen zurecht.«

»Danke, Sir. Gott vergelt’s.« Er knallte mit der Peitsche und der Gaul setzte sich schwerfällig in Bewegung.

Sie durchschritten den steinernen Torbogen und überquerten den Hof. Der Eingang zur Bibliothek lag gleich geradeaus. Ein langer dunkler Gang führte sie zur Rezeption, wo sie auf den Archivar warteten, der nicht an seinem Platz war, um in den Saal geführt zu werden, in dem man die Leiche des Literaturprofessors gefunden hatte.

Donald Swanson betrachtete derweil die geräumige Vorhalle, in der sie sich befanden. Ein Raum, von dem zwei Türen abgingen, Jahrhunderte alt, der Boden makellos gefegt, kein Krümel Staub auf den uralten Steinen. Die hohen Sprossenfenster blickten auf den Innenhof hinaus, der allmählich schattiger und dunkler wurde.

Eine junge Frau mit roten Haaren kam aus der kleineren der beiden Türen. Sie trug ein Tablett, auf dem eine Teekanne und zwei Tassen standen, stellte das Tablett an einer freien Stelle auf dem Schreibtisch ab und knickste. »Einen guten Tag, Gentlemen«, sagte sie.

»Ah, Tee.« Sergeant Phelps frohlockte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Miss … äh …«

»Hill«, sagte sie und knickste erneut. »Miss Siobhán Hill.« Sie sprach den Vornamen wie Schiewon aus. »Es ist mir schrecklich unangenehm, aber der Tee war für Mr Wilkes gedacht. Wir servieren nämlich keinen Tee für Besucher.«

Während Phelps peinlich berührt errötete, sagte Swanson: »Das muss Ihnen nicht unangenehm sein, Miss. Mr Wilkes ist der Archivar, habe ich recht?«

Sie nickte.

»Ist er nicht hier?«

»Er wird sicher gleich wieder da sein«, sagte sie. »Womöglich ist er im Haus unterwegs.« Was vermutlich eine beschönigende Umschreibung dafür war, dass auch er einmal die Toilette hatte aufsuchen müssen.

»Verzeihen Sie unsere Unhöflichkeit, Miss Hill.« Er reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Donald Swanson. Und das ist mein Kollege Peter Phelps. Wir sind von der Polizei. Wir untersuchen den Tod von Professor Hargraves.«

»Oh, ach so«, sagte sie leise. »Was für eine schreckliche Sache.« Sie fasste sich an den Hals und senkte den Blick; ein Verhalten, das Swanson merkwürdig vorkam. Doch er sagte nichts. Als sie wieder aufschaute, meinte sie: »Wenn Sie sich einige Minuten gedulden, mache ich Ihnen gerne einen Tee.«

»Machen Sie sich wegen uns keine Umstände. Wir werden nicht lange hier sein. Wir schauen uns nur kurz im Lesesaal um. Aber haben Sie vielen Dank.«

»Wenn Sie doch noch einen Tee haben möchten, sagen Sie nur Bescheid. Ich bin dort hinten in der Küche.« Und sie deutete auf die offene Tür, durch die sie gekommen war. Sie blickte abermals zu Boden, ehe sie sich zum Gehen wandte.

»Bitte warten Sie«, sagte Swanson, der sich an die Liste mit Namen erinnerte, die Mortar ihnen gegeben hatte. Ihm war aufgefallen, dass der Name Hill nicht darin auftauchte. »Sie arbeiten hier?«

»Ja, ich …« Ein kleines Lächeln erhellte kurz ihr Gesicht, dann verglomm es wieder. »Ja, das tue ich. Ich helfe, wo ich kann. Meistens erledige ich Reinemachearbeiten in der Bibliothek. Oder helfe Mr Carstairs beim Sortieren der Bücher.«

»Mr Carstairs?« Auch dieser Name hatte nicht auf Police Inspector Mortars Liste gestanden. »Wer ist das?«

»Randolph Carstairs, einer der Studenten, die sich nebenher um die Bibliothek kümmern«, antwortete sie. Ihre Stimme war nur mehr ein leiser Windhauch, der in der Zugluft davonwehte.

»Wo finden wir ihn, wenn wir ihn sprechen möchten?«

»Das weiß ich nicht. Aber Mr Wilkes kann Ihnen sicher sagen, wo«, sagte sie. »Er ist fast jeden Tag hier. Weil es so viel zu tun gibt.«

»Danke, Miss Hill«, sagte Swanson. Er schenkte ihr ein Lächeln. »Und was den Tee angeht – wir kommen gerne ein andermal darauf zurück.«

Sie knickste wieder und huschte davon.

Sergeant Phelps blickte ihr wie hypnotisiert nach, als habe er eine Fata Morgana gesehen.

»Phelps?«

Keine Reaktion.

»Phelps!«

»Äh … ja, Sir?«

»Was ist mit Ihnen, Phelps?«

»Was soll mit mir sein, Sir?«

»Sie kommen mir ein bisschen angeschlagen vor.«

»Es ist nichts.«

Swanson allerdings war alt genug, um die Symptome zu erkennen. »Sie ist hübsch, nicht wahr?«

»Sir?«

»Miss Hill«, sagte Swanson. »Sie gefällt Ihnen.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Im selben Augenblick kam der Archivar den breiten Gang auf sie zu. Swanson stellte sie beide vor und erklärte Mr Wilkes den Grund ihres Besuchs.

»Viel ist nicht mehr zu sehen, fürchte ich.« Der Archivar rückte seine kleine Drahtbrille zurecht. »Aber ich kann Ihnen die Stelle zeigen, wo man ihn gefunden hat. Ich muss Sie allerdings bitten, sich zuvor in das Anwesenheitsbuch einzutragen.«

Sie taten es. Und nachdem das Buch wieder sicher in Mr Wilkes Schreibtisch verschlossen war, führte er sie in den Lesesaal.

In der Bibliothek, die sie um diese Zeit ganz für sich allein hatten, herrschte eine bedrückende Stille. Zumindest Donald Swanson empfand sie als bedrückend. Es war, als habe jemand einen riesigen Kolben genommen und die Luft (und damit auch all die Geräusche in ihr) einfach so stark komprimiert, dass nichts als Stille übrig geblieben war.

Mr Wilkes blieb im hinteren Bereich des Saals linker Hand in der Nähe zweier hüfthoher Tische aus dunklem Holz stehen. »Hier hat er gelegen«, sagte er und schauderte merklich.

Swanson nickte. Er zog die zusammengefaltete Tatortskizze aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Vielleicht können Sie uns eines erklären, Sir«, sagte er.

»Worum geht es?«

»Sehen Sie, Police Inspector Mortar, der den Fall untersucht, gab uns eine Liste mit den Namen der Personen, die sich am Nachmittag des Mordes in den Räumen der Bibliothek aufhielten. Sie ist mit der identisch, die Sie für ihn zusammenstellten. Als wir vorhin Miss Hill begegneten, fiel mir auf, dass sie nicht auf der Liste steht. Ebenso wenig wie ein Mann namens Carstairs, den sie erwähnte. Gibt es dafür einen besonderen Grund?«

»Das sind die Mitarbeiter«, entgegnete er überrascht. »Diejenigen, die ständig hier sind. Miss Hill, Mr Carstairs und ich selbst. Ich nahm an, das sei nicht von Bedeutung. Die Liste enthält nur die Namen der Besucher.«

Swanson fand, dass das etwas naiv klang. Aber gut, der Mann war kein Kriminalbeamter. »Wir müssen natürlich jeden überprüfen, Mr Wilkes. Selbst die Mitarbeiter kommen für uns als potenzielle Täter in Frage.«

»Dann muss ich mich entschuldigen. Das hatte ich nicht bedacht.«

»Nichts für ungut«, sagte Swanson. »Sind Sie drei die einzigen Mitarbeiter hier?«

»Die einzigen festen, ja.«

»Dann füge ich die fehlenden Namen einfach hinzu«, meinte Swanson und lächelte. »Wir werden in den kommenden Tagen mit allen Personen sprechen müssen, die sich zur möglichen Tatzeit in der Bibliothek aufgehalten haben. Wissen Sie, wo wir Mr Carstairs finden können, wenn wir ihn suchen?«

»Er kommt so gut wie jeden Nachmittag nach den Vorlesungen her und bleibt meist bis spät in den Abend hinein hier«, erklärte Mr Wilkes. »Studiert Jura, soweit ich weiß. Sein Vater ist ein bekannter Strafverteidiger, genau wie sein Großvater es war. Liegt wohl in der Familie. Denken Sie denn wirklich, es war Mord?«

Jetzt war Swanson an der Reihe, überrascht zu sein. »Tja, ich wünschte, es wäre anders, doch alles spricht dafür. Was dachten Sie, was mit Professor Hargraves geschehen ist?«

»Ich kenne mich mit solcherlei Dingen nicht aus. Es ist nur so, Dekan Thompson äußerte, es könne auch ein Unfall gewesen sein. Und da dachte ich …« Was er dachte, blieb im Dunkeln.

»Dekan Thompson?«, meldete sich Phelps zu Wort und zückte seinen Notizblock. »Sollte er ebenfalls auf der Liste stehen?«

»Nein, Sir.« Wilkes schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein – er war nicht hier an jenem Tag.«

Swanson sah ihn an. »Wer ist Dekan Thompson?«

»Der Leiter der Fakultät für alte englische Literatur. Er steht der Bibliothek aus persönlichen Gründen sehr nahe. Und er hat sozusagen die Schirmherrschaft über die Bodleian inne.«

»Und er denkt, Professor Hargraves sei durch einen Unfall gestorben. Das ist mal interessant.« Swanson fragte sich, wie er darauf kam? Reines Wunschdenken vermutlich. »Und Sie selbst, Mr Wilkes? Sie haben die Leiche des Professors doch auch gesehen. Was denken Sie? Kann es sich um einen Unfall gehandelt haben?«

»Was weiß denn ich schon davon? Ich bin kein Fachmann. Ich bin bloß der Verwalter dieser Bibliothek.«

»Kommen Sie. Sie werden sich durchaus eine Meinung gebildet haben, Mr Wilkes«, sagte Swanson. »Vergessen Sie mal für den Moment, dass Dekan Thompson in der Hierarchie der Universität ein, zwei Stufen über Ihnen steht. Am Ende sind wir doch alle gleich. Kann es ein Unfall gewesen sein? Was sagt Ihnen Ihr Bauchgefühl?«

»Mein Bauchgefühl?« In einer unbewussten Geste legte Wilkes beide Hände auf seinen Bauch. Er sah nachdenklich aus. Und, wie Swanson fand, auf eine seltsam anrührende Weise unsicher, beinahe wie ein zu groß geratenes Kind. »Für mich sah es aus, als sei der Professor totgeschlagen worden«, sagte er. »Überall war Blut. Überall. Auf mich wirkte es, als sei jemand fest entschlossen gewesen, Hargraves den Garaus zu machen.«

»Sehen Sie? Sie können es also doch beurteilen«, sagte Swanson. »Und genau so wird es gewesen sein. Ganz gleich, was ihr Dekan Thompson darüber denkt.«

»Meinen Sie wirklich, Mr Swanson?«

»Ich bin davon überzeugt. Denn Sie waren vor Ort und er nicht.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, lasse ich Sie jetzt allein«, sagte Mr Wilkes. Er blies die Wangen auf und rieb sich die Stirn. »Die Arbeit, wie Sie sich vorstellen können.«

Swanson spürte, wie unwohl der Archivar sich fühlte. Die Erinnerung an den Fund der Leiche schien dunkel und schwer in ihm aufzusteigen.

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Für den Moment kommen wir zurecht, glaube ich. Gehen Sie nur, Mr Wilkes. Wenn wir weitere Fragen haben, melden wir uns.«

»Danke.« Und er schlurfte mit hängenden Schultern davon.

Sergeant Phelps stand mit den Händen in den Hosentaschen da. »Ein unschönes Ende, finden Sie nicht auch, Sir? So zwischen all den Regalen.« Er besah sich nachdenklich die ordentlich sortierten Regalreihen mit den ledernen, braunen Buchrücken und der goldgeprägten Schrift. Dann schüttelte er kaum merklich den Kopf und sah wieder Swanson an. »Warum, um Himmels willen, tut jemand so etwas?«

Der Chief Inspector war sich nicht sicher, ob Phelps den Tatort meinte, oder ob er von dem Mord an sich sprach. Anstatt auf Phelps Frage einzugehen, faltete er die Tatortskizze auseinander und legte sie wieder auf den Tisch.

Die Leiche hatte zwischen den beiden Tischen gelegen. Der dunkle Holzfußboden war an jener Stelle noch dunkler. Selbst die versierteste Reinemachefrau würde die Spuren des vergossenen Blutes nicht gänzlich entfernen können.

»Ich weiß nicht, Sir, aber mich nimmt das immer noch mit.«

Swanson sah ihn an. Wie lange, fragte er sich, war Phelps jetzt dabei? Sieben Jahre? Und nach wie vor hatte er das Verlangen, zu verstehen, was einen Menschen dazu brachte, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Auch wenn sie am Ende stets schlauer waren und sogar das Motiv für die Tat kannten – es ließ sie jedes Mal ein wenig ratlos zurück. Denn immer stellte sich heraus, dass es rein egoistische Beweggründe waren, aus denen der Täter gehandelt hatte.

Phelps war auf einem guten Weg; analytisch und noch nicht abgestumpft genug, auch den Menschen hinter der vermeintlichen Fratze des Bösen zu sehen.

»Ich kann Sie gut verstehen, Phelps. Ich war selbst so in Ihrem Alter.« In Wahrheit war er es noch immer, dachte er bei sich. »Es ist gut, nicht zu sehr abzustumpfen. Allerdings darf Ihr Mitgefühl Ihren Verstand nicht einnebeln. Das wäre fatal.«

»Nein, Sir, das tut es nicht.«

»Gut.« Er bückte sich, um eine kleine, aber recht tiefe Kerbe zu betrachten, die er unweit der vom Blut dunkel gefärbten Stelle entdeckt hatte. »Kommen Sie her, und sehen Sie sich das an, Phelps. Was denken Sie, was das ist?«

»Eine Kerbe im Holz, Sir«, sagte Phelps, der neben Swanson in die Hocke gegangen war. »Ich sehe nichts Besonderes daran. Denken Sie, die könnte von Bedeutung sein?«

»Wir können es nicht ausschließen. Geben Sie mir doch bitte noch einmal die Tatortskizze.«

Der Sergeant reichte sie ihm. »Hier, Sir.«

Swanson faltete sie auseinander und legte sie auf den Boden. Nachdem er sie eine ganze Weile studiert hatte, sagte er: »Das dürfte die Stelle sein, an der die Tatwaffe gefunden wurde.«

»Ah ja, damit erklärt es sich«, meinte Phelps. »Der Mörder wird sie nach der Tat einfach fallen gelassen haben.«

Swanson bezweifelte das. Er hatte zwar nur ein Foto der Bronzestatuette gesehen und sie nicht in der Hand gehalten, doch sie kam ihm, selbst wenn sie massiv war, nicht sonderlich schwer vor. Schweigend und nachdenklich rieb er mit dem kleinen Finger über die Kerbe im Holz.

»Und? Was denken Sie, Sir?«

»Ich denke, dass unser Mann die Bronzestatuette nach dem Mord nicht einfach fallen ließ. Das hätte sicherlich eine Delle oder einen Kratzer im Boden hinterlassen, doch nicht diese tiefe Kerbe geschlagen.«

»Was hat sie dann verursacht?«

»Oh, es war die Statuette, gar kein Zweifel. Nur fiel sie nicht einfach nur hin. Wir könnten es natürlich mit einem Experiment überprüfen, doch ich fürchte, wir würden den Archivar gegen uns aufbringen, wenn wir noch eine Kerbe in seinen heiligen Fußboden hackten. Diese Bronzefigur, Phelps, wurde mit großer Wucht auf den Boden geworfen.«

»Und was verrät uns das, Sir?«

»Eine ganze Menge, will ich meinen«, sagte Swanson. »Es verrät uns, dass der Täter ein extrem wütender Mann gewesen sein muss, Phelps.«