image

KAPITEL 17

London,
4. April 1895

Für Oscar Wilde und seinen Anwalt Edward Clarke verlief der Prozess gegen Lord Queensberry in der Zwischenzeit alles andere als befriedigend.

Douglas hatte zu seiner Verteidigung einen alten Studienkameraden von Oscar engagiert: den bekennenden Wilde-Hasser Edward Carson, einen zugegebenermaßen brillanten Kopf. Und mit jeder Stunde, die Wilde vor Gericht verbrachte, musste er mit ansehen, wie Carson seine Verteidigung Queensberrys nach und nach in eine offene Anklage gegen Wilde selbst verwandelte.

Am Vormittag fragte er Wilde, der, die Empfehlung seines Anwalts, ihm das Reden zu überlassen, ignoriert hatte und selbst in den Zeugenstand getreten war, nach seiner Beziehung zu Bosie.

»Bitte beantworten Sie meine Frage wahrheitsgemäß, Mr Wilde«, sagte Carson. Und dann zitierte er einen Satz aus Dorian Gray, den Wilde vor Drucklegung des mittlerweile als skandalös geltenden Buches vorsichtshalber gestrichen hatte: »Haben Sie je einen Mann bis zum Wahnsinn verehrt?«

»Nein, nicht bis zum Wahnsinn«, entgegnete Wilde leichthin. »Verehrung habe ich nie jemandem außer mir selbst zukommen lassen.«

Das Gelächter, das daraufhin durch den Gerichtssaal brandete, brachte der ehrwürdige Richter Collins mit dem Klopfen seines Hammers und der Androhung, bei weiteren Lachern den Saal räumen zu lassen, zum Verstummen.

Doch Wilde war in seinem Element. Auf jede Frage Carsons schien er eine noch schlagfertigere Antwort parat zu haben. Auf seine Vorliebe für Champagner angesprochen, erwiderte er etwa: »Ja, eisgekühlter Champagner ist mein Lieblingsgetränk – ganz gegen die Anweisungen meines Arztes.«

Als Carson ihn daraufhin ermahnte, die Anweisungen seines Arztes aus dem Spiel zu lassen, antwortete Wilde lächelnd, das täte er grundsätzlich.

Zuletzt aber gab er eine schlagfertige Antwort zu viel.

Auf die Frage, ob er jemals Lord Alfred Douglas’ Diener geküsst habe, entgegnete er: »Meine Güte, nein! Er war ein besonders reizloser Junge. Es tat mir leid für ihn.«

Carson bemerkte in Richtung der Jury: »War das der Grund, warum Sie ihn nicht küssten?«

Ein Raunen ging durch den Saal. Und Wilde spürte zum ersten Mal so etwas wie Furcht in sich aufsteigen.

Als Chief Inspector Donald Swanson am Nachmittag in der Hauptstadt eintraf und sich mit einer Mietdroschke vom Bahnhof Paddington nach Whitehall fahren ließ, da hatte man Wilde bereits auf den schlechten Ausgang der Verhandlung und etwaige Konsequenzen hingewiesen. Und auch, wenn Bosie toben mochte, Wilde hatte beschlossen, die Klage gegen Queensberry am folgenden Morgen wieder zurückzuziehen.

Doch nützen würde es ihm nichts mehr.

New Scotland Yard, Whitehall

Es gibt ein schönes altes Spiel mit dem wunderbar passenden Titel Hätten Sie’s gewusst? Es enthält Fragen und Antworten zu den unmöglichsten Themenbereichen.

Gibt es mehr Rechts- als Linkshänder? Warum gibt es deutlich mehr Frauen als Männer auf der Welt? Und wer trug die erste Armbanduhr? Schlagen Sie es nach, wenn Sie wollen. Es war eine englische Dame von königlichem Geblüt, so viel sei verraten. Oder: Welchem Zweck diente wohl die winzige, handgefertigte Kanone, die Königin Elizabeth die Erste in dem Nachtschränkchen in ihrem Schlafgemach aufbewahrte? Sie schoss damit auf Flöhe.

Eine weitere hoch interessante Frage, die im Hätten Sie’s gewusst? bedauerlicherweise keinerlei Beachtung findet, ist die nach dem ursprünglichen Zweck des turmbewehrten Backsteinbaus, in den in den 1890ern die Kriminalbeamten des Yard einzogen, nachdem das ursprüngliche Gebäude im Great Scotland Yard viel zu klein geworden war.

Hätten Sie’s gewusst?

Nach den Plänen des Architekten hätte es ein Opernhaus werden sollen.

Das Büro mit dem Stern an der Tür in eben jenem Gebäude gehörte Police Constable Stewart Evans. Er hätte die Antwort selbstverständlich gekannt, denn er war der Fachmann für Kriminalgeschichte und jedes noch so abwegige Thema, welches selbst fürs Hätten Sie’s gewusst? noch viel zu abwegig gewesen wäre.

Niemand im Yard konnte ihm in punkto Recherchen das Wasser reichen. Wenn Evans sich einmal in ein Thema verbissen hatte, war er, wie der sprichwörtliche Terrier, nicht mehr davon abzubringen. Der Chief Inspector suchte ihn immer dann auf, wenn es auf Spezialwissen ankam.

Swanson schloss die Tür hinter sich und trat hinein in den aufwirbelnden Staub der Geschichte, der hier in Police Constable Stewart Evans’ Reich alles bedeckte.

»Ah, Mr Swanson, Sir. Schön, Sie zu sehen.«

Eine alte Akte rutschte von Evans’ Schoß unter den Tisch, als Swanson sich setzte. Er hätte wetten können, sie habe mit dem Ripper-Fall zu tun, Evans Steckenpferd. Er hatte sich vorgenommen, den Fall zu lösen und wenn es bis zum Tag seiner Pensionierung dauerte. Eines Tages würde Donald Swanson ihm das Gedächtnisprotokoll eines Gespräches geben, dass er vor vielen Jahren in Whitechapel geführt hatte, und Evans würde die Wahrheit, wer Jack the Ripper tatsächlich gewesen war und aus welchem Grund er die Morde begangen hatte, erkennen. Und er würde verstehen, warum er, Donald Swanson, die Identität des Mörders all die langen Jahre für sich behalten hatte. Doch der Tag lag an diesem Nachmittag noch in weiter Ferne.

»Sie haben Neuigkeiten für mich, Evans?«

»Ja, Sir. In der Tat.« Evans, der an seinem Platz inmitten der Berge von Akten wie eine Spinne in ihrem Netz hockte, streckte den rechten Arm aus, griff in ein Regalfach neben sich und zog einen ramponierten Schuhkarton heraus, der vor lauter Papieren nur so überquoll, und stellte ihn auf den Tisch. Mit zwei Fingern ging er die losen Blätter durch, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Er zog zwei der Blätter hervor und hielt sie in das schwache Licht der kleinen Öllampe, die sein düsteres Reich in flackerndes gelbes Licht tauchte.

Swanson fragte sich oft, wie Evans wohl an seine Informationen kommen mochte. Kaum mal hatte er gesehen, dass der Constable sein Archiv verließ. Er schien in all den Jahren, die er nun schon diese Abteilung leitete, deren einziger Beamter er war, alles zusammengetragen zu haben, was zu wissen nötig war.

»Wir wissen jetzt, um welche Gottheit es sich bei diesem Elefantenmenschen handelt, mit dem Professor Hargraves erschlagen wurde.«

»Nur zu, Evans. Ich bin ganz Ohr.«

»Die Bronzefigurine stellt Ganesha dar«, erklärte Evans und räusperte sich feierlich. »Eine indische Gottheit, Sir, die im Hinduismus und im Buddhismus verehrt wird. Er ist der Sohn von Shiva und Parvati.«

»Vielleicht überspringen Sie den Teil mit den Eltern«, meinte Swanson, der an den familiären Verstrickungen nicht sonderlich interessiert war. »Ich muss wissen, ob die Tatwaffe absichtlich ausgewählt wurde, oder ob der Mörder sie einfach nur griff, weil sie ihm gerade zur Hand war.«

»Ganz wie Sie wollen.« Evans räusperte sich abermals. Etwas pikiert, wie Swanson fand. »Ganesha ist im Grunde ein äußerst friedliebender Gott. Man verehrt ihn wegen seines Humors und seiner Verspieltheit. Er steht für Gnade. Klugheit und Güte. Ganz allgemein steht er auch für die Musik, Poesie, Schrift und Literatur. Außerdem gilt er als großer Liebhaber und Tänzer.« Obgleich sie unter sich waren, senkte Evans die Stimme, als er fortfuhr: »Er soll, nebenbei bemerkt, ziemlich beweglich sein und mehrere Frauen auf einmal beglücken können, wenn Sie verstehen, Sir.«

Swanson lächelte hinter seinem Schnurrbart. Er verstand sehr wohl. »Nichts, was uns in diesem Fall entscheidend weiterhilft, fürchte ich.«

»Allerdings hat er auch eine andere Seite«, sagte Evans. »Er ist derjenige, der Hindernisse schafft oder sie aus dem Weg räumt. Wenn es sein muss, auch mit Gewalt. Meinen Sie, das könnte etwas zu bedeuten haben, Sir?«

Swanson zog die Schultern hoch. Wenn er es doch bloß wüsste. War Hargraves ein Hindernis gewesen?, fragte Swanson sich. Und wenn ja, für wen und warum? Zumindest aus dem Weg geräumt hatte man ihn. Darüber bestand keinerlei Zweifel.

»Schon möglich Evans«, sagte er schließlich. »Weshalb wird er mit einem Elefantenkopf dargestellt?«

»Das ist interessant, Sir. Seine Mutter erschuf ihn in Abwesenheit seines Vaters. So ähnlich wie Maria in der Bibel mit dem Jesuskind.«

»So ähnlich«, sagte Swanson.

»Na, jedenfalls, als der von einer Reise zurückkehrte, schlug er seinem Sohn den Kopf ab, da er ihn für einen Eindringling hielt. Und als er seinen Fehler bemerkte, setzte er ihm den Kopf eines Elefanten auf und rettete ihm damit das Leben. Außerdem gibt es da eine neuartige Körperkultur, die vor wenigen Jahren aus Indien zu uns herüberkam. Sie nennt sich Yoga. Und dort wird Ganesha ebenfalls verehrt, Sir.«

»Yoga?« Davon hatte Swanson noch nie gehört. »Was ist das? Etwas Anstößiges?«

»Kaum, Sir. Es geht dabei um eine Art spiritueller Körperertüchtigung. Ich werd’s vielleicht mal ausprobieren.«

Swanson schwirrte allmählich der Kopf. Ob irgendetwas davon für seine Ermittlungen wichtig war? Er bezweifelte es. »Was können Sie mir noch über diese Statuette sagen, Evans?«

»Abgesehen von ihrer spirituellen Bedeutung? Nun ja, sie ist aus Bronze, Sir.« Evans zuckte die Achseln. »Der Abguss eines Abgusses einer von dem italienischen Gold- und Silberschmied Mario Sato angefertigten Skulptur. Sie ist hübsch anzusehen, hat, soweit ich das sagen kann, aber keinerlei künstlerischen Wert an sich, da es sich nicht um das Original handelt.«

»Was ist mit dem Materialwert?«

»Verhältnismäßig wenig, Sir. Eingeschmolzen dürfte das Metall drei oder vier Pennies bringen.«

Das war kaum die Summe Geldes, für die man einen Mord beging, dachte Swanson. Doch auf Dr. Travallion hatte die Bronzestatuette immerhin einen solch immensen Zauber ausgeübt, dass er versucht hatte, sie an der Asservatenkammer vorbei in seinen Besitz zu bringen.

»Irgendetwas muss an diesem kleinen Elefantengott wichtig sein«, sagte Swanson. »Haben Sie mal nachgesehen, ob etwas in seinem Innern versteckt sein könnte?«

»In seinem Innern?« Police Constable Stewart Evans rieb sich nachdenklich das Kinn. »Nein, ehrlich gesagt. Der Gedanke war mir bislang nicht gekommen. Aber jetzt, da Sie es sagen … Ich werde Charly Stedman darum bitten. Er hat sicher irgendwelche Werkzeuge, mit denen man sie öffnen kann, ohne gleich alles zu zerstören.«

»So wie ich ihn kenne, wird er einfach Säure drüber schütten«, sagte Swanson. Doch insgeheim stimmte er Evans zu. Wenn es jemanden gab, der dieser Statuette all ihre Geheimnisse entlocken konnte, so war es vermutlich Charly Stedman. »Sobald er etwas weiß, möchte ich seinen Bericht haben.«

»Natürlich, Sir.«

Swanson erhob sich. »Ich fahre erst morgen Nachmittag nach Oxford zurück. Wenn Sie Resultate haben, telegrafieren Sie trotzdem an mein Hotel dort.« Dann war der Chief Inspector gegangen.

Am Vormittag des folgenden Tages erschien Sergeant Penwood in Donald Swansons Büro und erklärte aufgeregt, er wisse nun, was mit den Sandwiches geschah, die seit Wochen ständig aus der Teeküche verschwanden.

»Es sind die Katzen, Sir.« Penwood nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem Zipfel seines Jacketts.

Swanson blickte auf. »Die Katzen? Welche Katzen?« Er fragte sich, ob das irgendetwas mit dem Fall in Oxford zu tun hatte. Eine seltsame Metapher möglicherweise.

Der Sergeant trat zögerlich an den Schreibtisch, wie jemand, der ein unaussprechliches Geheimnis zu verkünden hatte, warf einen Blick über die Schulter zurück zur Tür und sagte dann mit gesenkter Stimme: »Sir.« Er räusperte sich. »Sir, wir haben Katzen im Haus. Wilde, freilaufende Katzen. Sie fressen unsere Sandwiches.«

»Ich …« Swanson legte den Bleistift hin. Er lächelte. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«

»Aber, Sir.« Penwood schüttelte den Kopf und kratzte sich an der Schläfe. »Was ist daran so schwer zu verstehen? Hier treiben geheime Mächte ihr Unwesen. Mächte, die niemand beachtet.« Er ließ die Arme hängen.

»Mächte, Clarence?« Swanson fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Großer Gott, wir sind hier im Yard. Was für Mächte sollten hier ihr Unwesen treiben?«

»Wie schon gesagt: Katzen, Sir.« Er sah Swanson hilflos an. »Katzen. Sie wissen schon.«

»Also schön, Clarence.« Swanson atmete einmal tief ein und aus. Dann sah er ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirne an. »Sie wollen mir erzählen, wir hätten ein Problem mit Katzen?«

Der Forensischen Abteilung, tief im Bauch des Gebäudes, machten die Ratten zu schaffen, die in der Feuchtigkeit von Detective Inspector Charly Stedmans Reich durch die Gänge huschten. Flussratten, manche so groß wie Katzen, die über die Abwasseranlage von der Themse in den Yard kamen. Aber Katzen? Das war gelinde gesagt absurd. Katzen mochten draußen im Hof herumstreunen, aber sie schlichen sich nicht ins Gebäude, um Penwoods Sandwiches zu stibitzen.

»Ein Problem, Sir?« Penwood nahm seine dicke Brille ab und setzte sie gleich wieder auf. »Sagen Sie nicht, Sie hätten es noch nicht bemerkt.«

Swanson, der rein gar nichts bemerkt hatte, sagte: »Erzählen Sie mir davon, Clarence. Erzählen Sie mir, was es mit den Katzen auf sich hat. Jetzt haben Sie mich tatsächlich neugierig gemacht. Versuchen wir, dieses merkwürdige Problem mit den verschwundenen Sandwiches gemeinsam zu lösen.« Er sah Sergeant Clarence Penwood an und fragte sich, ob dieser integre Beamte womöglich den Zenit überschritten hatte? Jenen Punkt, an dem der gesunde Menschenverstand zerbricht und durch etwas anderes, unsagbar einfaches ersetzt wird.

Swanson kannte Beamte, die eben dieses Schicksal in den Jahren nach ihrem Ruhestand ereilt hatte. Bei Chief Inspector John Littlechild sogar weit früher. Erst letztes Jahr hatte er Swanson erklärt, er habe einen Dieb und Einbrecher, der in Cornwall ein Vermögen aus einem Schloss gestohlen hatte, nur deshalb nicht festnehmen können, weil es sich nachweislich um einen Geist gehandelt habe. In Gedanken sah er Horden von Katzen durch sämtliche Eingänge des Yard hereinströmen und sich über die Lebensmittel der Beamten und die Vorräte in der Teeküche hermachen.

»Sir? Sir, stimmt etwas nicht?« Das war Clarence Penwoods Stimme.

Swanson erschrak. Der Sergeant stand direkt vor ihm, auf der Nase seine dicke Brille, einen Becher Tee in der einen Hand und mit der anderen vor Swansons Augen auf und abwedelnd. »Was tun Sie denn da, Clarence?«

Penwood machte rasch einen Schritt rückwärts. »Bitte entschuldigen Sie, Sir. Aber Sie sagten ganz plötzlich nichts mehr und starrten nur noch geradeaus. Ich bekam es richtig mit der Angst. Ich nahm schon an, Sie hätten …« Er verstummte.

»Hätte was?« Swanson lächelte nachsichtig. »Den Verstand verloren? Ja, Clarence. Ich glaube, das ist ein Leiden, das geht zurzeit im Yard um. Wir sollten alle ein wenig Obacht geben.« Er nahm den Tee von Penwood entgegen und meinte: »Sie wollten mir mehr von den verschwundenen Sandwiches erzählen.«

»Ja, Sir. Und von den Katzen. Das ist eine richtige Plage. Sie müssen hier irgendwo im Gebäude sein. Niemand außer Wilson hat sie je gesehen, aber sie sind da.«

»Wilson will sie gesehen haben? Was ist mit Ihnen, Penwood? Haben Sie die Katzen je gesehen?« Swanson war nun ehrlich gespannt. Denn seltsamerweise war Clarence Penwood der Einzige im Yard, dessen Sandwiches verschwanden; zumindest hatte Swanson noch aus keiner der anderen Abteilungen Beschwerden gehört. Allerdings kannte er die spielerische Feindschaft zwischen den Sergeants Penwood und Wilson. Und er vermutete, dass die Sandwiches aus demselben Grund verschwanden wie so häufig auch Penwoods Brille. Einfach bloß, um ihn zu ärgern. Doch das konnte er dem Sergeant nicht sagen.

»Nein, Sir. Außer Wilson hat niemand die Katzen bis jetzt gesehen. Allerdings habe ich Haare entdeckt.«

»Katzenhaare?«

»Ich nehme es an. Schwarze und rote, Sir, wenn Sie es genau wissen wollen. Es müssen demnach wenigstens zwei Tiere sein.«

»Wenn Sie Sergeant Wilson über den Weg laufen, schicken Sie ihn her zu mir«, sagte Swanson. Er konnte es nicht riskieren, dass persönliche Querelen die Arbeit der Kriminalabteilung unterliefen. Wenn Sergeant Wilson bei den verschwundenen Sandwiches seine Finger im Spiel hatte, würde er, Donald Swanson, dem Ganzen so schnell wie möglich ein Ende bereiten. »Ich möchte wissen, was er darüber weiß.«

»Gestern sah er eine dicke rote Katze auf dem Korridor bei der Teeküche, das hat er mir erzählt«, sagte Penwood. »Er jagte sie fort und sie sprang aus dem Fenster in der Toilette.«

»Schicken Sie Wilson her und ich werde mich persönlich darum kümmern, ehe ich nach Oxford zurückfahre, Clarence«, meinte Swanson dann. »Schreiben Sie mir bitte auf, wo, wann und unter welchen Umständen die Sandwiches verschwanden und bringen Sie mir den Bericht her, sobald ich aus Oxford zurück bin.«

»Danke, Sir.« Penwoods Brillengläser beschlugen, wie immer, wenn er verlegen war. »Ich fürchtete schon, Sie würden mich auch nicht ernst nehmen. Die ganze Abteilung lacht bereits hinter meinem Rücken über mich, wissen Sie? Das ist auf die Dauer unerträglich.«

»Das kann ich gut nachvollziehen.« Swanson lächelte sein verbindlichstes Lächeln, das er sich meist für die Vernehmung von Tatverdächtigen aufhob. »Und jetzt vergessen Sie die Angelegenheit für den Moment und besorgen Sie mir bitte den Obduktionsbericht von Dr. Abrahamsen. Ich habe noch ein paar Stunden Zeit und möchte noch einmal einen Blick darauf werfen, ehe ich fahre.«

Penwood blickte ihn irritiert an. »Dr. Abrahamsen ist tot, Sir. Er schreibt keine Obduktionsberichte mehr.«

»Ich spreche von der Obduktion, die der Polizeiarzt an ihm vorgenommen hat, Clarence«, sagte Swanson.

»Oh … verstehe … Mein Fehler, Sir. Ich kümmere mich gleich darum.« Er salutierte wieder und wandte sich zum Gehen.

»Sergeant?«

»Ja, Sir?«

»Worin bewahren Sie Ihre Sandwiches auf, ehe Sie sie essen?«

»In Papier, Sir, in meiner Tasche. Victoria packt sie mir ein.«

»Verstehe. Aber sie verschwinden erst, wenn Sie sie auf den Teller legen?«

»Da haben Sie recht.«

Swanson nickte. »Bis die Angelegenheit aufgeklärt ist, möchte ich Sie bitten, Ihre Sandwiches nicht eher aus Ihrer Tasche zu nehmen, als Sie sie essen wollen. Lassen Sie sie keinesfalls unbeaufsichtigt liegen.«

»Ich werde es beherzigen, Sir«, sagte Penwood und salutierte ein drittes Mal. »Ich sehe schon, Sie haben eine Theorie.«

Bodleian Library, Oxford

Sergeant Peter Phelps gab es vor sich selbst nicht gerne zu, aber Miss Hill hatte es ihm regelrecht angetan.

»Sie sind sich sicher, dass Sie um diese Zeit noch einen Tee trinken möchten?«, fragte sie. »Manch einem ist es zu spät, wissen Sie? Obwohl, ich kann danach schlafen wie ein Stein.«

Phelps nickte und lächelte. Ihm war es ganz gleich, ob er nach dem Genuss des Tees schlafen oder für immer wachliegen würde. »Ich war mir nie sicherer, Miss Hill, glauben Sie mir.«

Während sie zu später Stunde zusammen in der Küche der Bibliothek standen und er ihr dabei zusah, wie sie den Tee zubereitete, hin und wieder ihr rotes Haar hinter die Ohren strich und dabei über ihre Arbeit plauderte, kam es ihm vor, als würden sie sich bereits seit Ewigkeiten kennen.

Nebenher räumte sie Teller, Tassen und diverse Schüsseln in die entsprechenden Regale und Wandborde. Jeder ihrer Handgriffe schien wie einstudiert zu sitzen.

Sie hantierte in der Küche mit einer Geschwindigkeit, die Phelps mehr als beeindruckte. Er hätte noch Stunden mit ihr verbringen können. Ihr einfach nur zusehen und sich an der katzenhaften Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen erfreuen können.

Niemand außer ihnen beiden hielt sich mehr im Gebäude auf. Um sich wenigstens den Anschein von Professionalität zu geben, hatte Phelps seinen aufgeschlagenen Notizblock auf den Tisch gelegt und machte sich hin und wieder Notizen. Bislang hatte er es immer vor sich her geschoben, sie nach dem Streit zu fragen, den Randolph Carstairs am Mordabend gehört haben wollte. Phelps fragte sich sorgenvoll, ob sie womöglich jene Frau gewesen und in das Verbrechen verwickelt sein konnte. Allein der Gedanke, diese wunderschöne junge Frau vor Gericht gestellt oder sie gar die Stufen des Galgens erklimmen zu sehen, war ihm unerträglich. Doch er hatte Pflichten. Und so schwer es ihm fiel, er würde ihnen nachkommen.

»An jenem Tag«, sagte er nun und schaute ihr dabei zu, wie sie das Metallsieb in die Kanne hängte, den kochenden Wasserkessel vom Kohleherd nahm und den Tee aufbrühte. »An jenem Tag gingen Sie ebenfalls hier Ihrer Arbeit nach?«

»Ich bin die meiste Zeit über in der Küche«, entgegnete sie, schaute kurz von ihrer Arbeit auf, nur um gleich wieder den Blick zu senken.

Bildete er sich das ein oder errötete sie immer dann, wenn sie ihn ansah? Er selbst versuchte, sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Was hatte sein Chief Inspector Swanson gesagt, als sie Miss Hill zum ersten Mal begegnet waren?

Miss Hill – sie gefällt Ihnen.

Und ja, verflucht noch mal. Er hatte recht gehabt.

Die Küche war klein und beengt. Selbst auf die Entfernung vermochte er den Duft ihres Haars zu riechen.

»Kannten Sie Professor Hargraves persönlich?«

»Nein«, entgegnete sie eine Spur zu schnell, wie er fand. »Nein, überhaupt nicht. Er war beinahe jeden Tag im Lesesaal. Er war fast ein Teil der Einrichtung. Ich beachtete ihn gar nicht.« Ein hastiges, gespieltes Lächeln, das trotz ihrer Schönheit zur Grimasse verkam. »Nur Mr Wilkes regte sich gelegentlich über ihn auf.«

»Weshalb?«

»Weil der Professor überall etwas herumliegen ließ. Papiere, Lebensmittel. Das war ständig so. Man konnte es ihm so oft sagen, wie man wollte. Es interessierte ihn nicht. Er tat es immer wieder. Er war ein ausgesprochen egoistischer Mann.«

»Würden Sie sagen, er machte das absichtlich?«

»Dass er seine Sachen herumliegen ließ, wo er ging und stand?« Sie zuckte gleichgültig mit der Schulter, nahm einen grauen Lappen aus dem Spülbecken und wischte damit den Tisch sauber, wobei sie Phelps Notizblock anhob, darunter her wischte und es wieder auf den Tisch zurück legte, als sei es Teil des Kücheninventars. »Ich denke, es war ihm schlicht egal. Es interessierte ihn ganz einfach nicht. Wie gesagt, er war ein Egomane.«

»Hatten Sie selbst jemals Streit mit ihm, Miss Hill?«, fragte Phelps.

Sie lachte kurz auf, und diesmal war das Lachen echt. »Ich? Über was hätte der Professor mit mir streiten sollen?« Sie wrang den Lappen aus und drapierte ihn sorgfältig über eine leere Emailleschüssel neben der Spüle. »Es wäre dasselbe, als würde ich mit dieser Schüssel hier streiten, Sergeant.«

»Da bin ich froh, Miss Hill. Mr Carstairs sagte mir gegenüber nämlich aus, er habe am Tag von Professor Hargraves Tod einen Streit gehört.«

»Wo? Im Lesesaal?«

»Das sagte er so, ja.«

»Wann soll das gewesen sein?«

Phelps blätterte in seinem Block, bis er die entsprechende Seite mit Carstairs Aussage fand, und klappte ihn mit einem Knall wieder zu. »Gegen Viertel vor vier etwa, sagt Mr Carstairs. Er hörte nicht den genauen Wortlaut, bloß dass jemand stritt. Wo waren Sie gegen Viertel vor vier, können Sie das noch sagen?«

Sie sah ihn mit gerunzelter Stirne an. »Ich befand mich um die Zeit hier in der Küche – glaube ich wenigstens. Was hörte Mr Carstairs denn genau?«

»Einen Mann und vermutlich – aber das ist nicht sicher – eine Frau, die ihre Stimmen erhoben. Sie haben nichts davon mitbekommen?«

»Nein.« Ihre roten Locken flogen ihr um die Wangen und Schultern, als sie den Kopf schüttelte. »Nicht das Geringste.« Sie nahm das Sieb aus der Kanne, und nachdem sie es in die Spüle gelegt und den Deckel aufgesetzt hatte, schenkte sie ihnen beiden ein.

»Danke, Miss Hill.«

Sie blies den Dampf von ihrem Tee, blickte ihm tief in die Augen. »Bitte nennen Sie mich doch Siobhán«, sagte sie leise.

Phelps schluckte. Sein Herz begann mit einem Mal, ihm bis zum Hals zu schlagen. »Meinen Sie wirklich, das sollte ich tun, Miss?« Sicher war er sich nicht.

»Nun, Sergeant, es würde mich zumindest sehr freuen.« Sie lächelte schüchtern und schlug wieder verschämt die Augen nieder.

»Dann nennen Sie mich Peter, bitte«, sagte er und senkte merklich die Stimme.

Sie hob ruckartig den Kopf: »Heißen Sie denn auch wirklich so?«

Und gleichzeitig begannen sie beide herzlich zu lachen.