Der Drache

Erst als der Blutegel verschwunden ist, fange ich an zu zittern. Ich zittere, aber ich bin auch mächtig stolz, dass ich den Kampf gegen den Widerling gewonnen habe. Ich atme tief durch und sehe Til auf mich zukommen. Er hat wohl gar nicht gleich gemerkt, dass er mir davongeschwommen ist. Seine kugelrunden Augen sehen noch größer aus als sonst, als er mich anstarrt, als wäre ich eine Art Weltwunder.

»Wahnsinn, Mensch, dem hast du’s gegeben!«, sagt er.

»Danke!«, sage ich und spüre, wie ich dabei mindestens einen Kopf größer werde.

Das nächste Stück Weg gehe ich wieder, aber die Steine auf dem Teichgrund sind jetzt glatt und flach, was meinen wunden Füßen guttut. Wir kommen noch einmal in einen großen Raum, und ich weiß nicht, warum, aber mir scheint, dass das Labyrinth bald zu Ende ist.

Kurz darauf sehe ich zwei dicke Pfeiler und dazwischen eine große Flügeltür. Vielleicht ist das der Ausgang – nur schwebt davor leider ein Drache, der mich aufmerksam beobachtet. Oder nein, das ist kein Drache. Das ist ein Teichmolch. Wie ein Drache kommt er mir nur vor, weil ich so klein bin. Er hat eine warzige Haut, einen feuergelben Bauch und auf dem Rücken einen langen Kamm. Er bewegt sich kaum und sieht mich immer noch ganz ruhig an. Ich bleibe vor ihm stehen und passe auf, dass ich mich gerade halte.

»Du hast dich wacker geschlagen«, sagt der Teichmolch mit tiefer Stimme. »Du musst nur noch durch die Tür, dann wirst du wieder groß, und die Zauber des Wasserlabyrinths können dir nichts mehr anhaben. Allerdings öffnet sich die Tür nur, wenn du die Losung weißt.«

»Die Losung?«, frage ich.

Der Teichmolch nickt bedächtig mit dem Kopf.

»Aber die weiß ich nicht!«, sage ich verzweifelt.

»Dann musst du für immer im Labyrinth bleiben«, sagt der Teichmolch. Und all meine Freude und mein ganzer Stolz sind mit einem Schlag wie weggeblasen. Ich spüre nur noch Hoffnungslosigkeit.

»Nein«, sage ich leise und mehr zu mir selbst als zu irgendjemandem sonst.

Alle Rätsel des fiesen Käfers, der schlängelnden Pflanzen und der gefräßigen Spinne habe ich gelöst und alle Abenteuer glücklich überstanden. Den bissigen Asseln bin ich entkommen und den hinterlistigen Milben, der gefährlichen Springbrunnenpumpe und den säuselnden Schnecken. Nicht mal der widerliche Egel hat mich erwischt, und jetzt war doch alles umsonst. Ich werde nie mehr aus dem Labyrinth herauskommen. So denke ich, als ich merke, wie Til mir mit dem Zappelschwanz sanft über den Arm streicht.

»Du kommst noch drauf, bestimmt«, sagt er. Es ist lieb gemeint, klingt aber trotzdem traurig.

»Ich weiß die Losung ehrlich nicht«, sage ich und schüttle den Kopf.

»Wenn du dich nicht daran erinnerst, bleibt die Tür geschlossen«, sagt der Teichmolch.

»Nicht erinnerst?«, motze ich ihn an. »Wie soll ich mich an die dämliche Losung erinnern, wenn ich sie noch nie gehört habe?«

Der Teichmolch schwebt im Wasser und sagt keinen Ton.

»Könnte die Losung vielleicht Bitte! heißen?«, fragt Til vorsichtig. »Man sagt ja, es ist ein Zauberwort.«

Der Molch schüttelt bedächtig den Kopf.

»Bitte, bitte!«, bettelt Til. »Bitte, bitte, bitte!«

Ich überlege und überlege. Und dann versuche ich mich zu erinnern. Habe ich die Losung vielleicht irgendwo gehört? Oder gesehen?

Moment mal! – Ich habe was gesehen. Ganz am Anfang!

»Ich weiß die Losung«, sage ich.

Der Teichmolch und Til sehen mich beide mit großen Augen an, aber ich bin mir meiner Sache sicher. Da stand was ganz am Anfang des Labyrinths an der Mauer, und ich weiß noch, dass es mir irgendwie falsch vorkam. Dabei war es genau richtig.

»Der Weg«, sage ich. »Die Losung lautet Der Weg

Der Teichmolch lächelt leise, dann schwimmt er davon. Die Flügel der großen Tür öffnen sich.

Ich bin frei.