James brachte den Tee zum Couchtisch und setzte sich auf einen der Sessel. Erin kam aus dem Badezimmer, verharrte jedoch in der Mitte der Wohnung. Sie hatte ihre Mütze abgezogen, und das kurze Haar stand an ihrem Hinterkopf ab. Ihr Blick huschte von der Couchecke zur Haustür und wieder zurück.
James nickte zu dem Telefon, das auf dem Sideboard neben dem Fernseher stand. »Falls du jemand anrufen willst?«
Erin schien darüber nachzudenken, schüttelte dann jedoch den Kopf. Sie straffte die Schultern und setzte sich James gegenüber auf die Couch. »Ich will Antworten. Und zwar jetzt.«
James nickte und schob eine der Teetassen in ihre Richtung. Sie hob lediglich eine Braue, während Sami auf dem letzten freien Sessel Platz nahm. Wortlos legte er eine Packung Schokoladenkekse mit Salzkaramellfüllung auf den Tisch.
Als Erin die Kekse skeptisch beäugte, zuckte Sami mit den Schultern.
»Schokolade hilft bei Schock«, sagte er. »Und du siehst ziemlich geschockt aus.«
»Untertreibung des Jahrhunderts«, murmelte Erin. Sie griff nach ihrer Tasse, entspannte sich jedoch keinen Fingerbreit. Ihr Blick bohrte sich in James wie eine Nadel.
»Ich bin mir nicht sicher, wo ich anfangen soll«, gestand er. Zivilisten sanft die Scheuklappen von den Augen zu ziehen, zählte nicht zu seinen Stärken. Was Sami bestätigen konnte.
Als ob er James’ Gedanken aufgeschnappt hätte, verzog Sami den Mund zu einem schrägen Lächeln. »Soll ich das Wichtigste zusammenfassen?«, fragte er.
James schnaubte und griff nach seiner Tasse. »Warum nicht?«
»Okay«, sagte Sami. »Du kennst bestimmt Bücher oder Filme, in denen magische Wesen heimlich unter uns leben. Du weißt schon, Zauberer, die für Scotland Yard arbeiten. Vampire, die Highschool-Kids in Kalifornien jagen?«
Erin sagte nichts, aber ihr Stirnrunzeln sprach Bände.
»Die gute Nachricht ist, es gibt keine Vampire. Stattdessen gibt es Menschen wie James, die kosmische Urkräfte anzapfen und dadurch paranormale Fähigkeiten entwickeln.«
Sie hielt ihre Tasse mit beiden Händen und starrte Sami und James wortlos an.
»Hab ich auch so ausgesehen, als du mich eingeweiht hast?«, wollte Sami wissen.
»Keine Ahnung«, antwortete James. »Du bist zu schnell ins Bad gerannt, um dir die Seele aus dem Leib zu reiern. Da blieb keine Zeit, um deinen Gesichtsausdruck auszuwerten.«
Sami lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Tee. »Legitime Reaktion«, sagte er. »Unter den Umständen.«
Erins Augen wurden schmal. »Versucht ihr hier Witze zu reißen?«
James zuckte mit den Schultern. »Das entspannt die Situation.«
»Tut es nicht.« Erin stellte den Tee auf dem Tisch ab. »Ich glaube einfach nicht, was gerade passiert ist. Bei mir war alles in Ordnung. Ich hatte einen ganz normalen Tag, und dann komme ich zu diesem Platz, und plötzlich …« Sie brach ab und schauderte.
James beugte sich zu ihr. »Woran erinnerst du dich? Wie hat es sich angefühlt, als es passiert ist?«
»Es …«, begann Erin und schloss die Augen. »Alles war plötzlich so still. Als ob meine Ohren und mein Kopf mit Watte verstopft wären. Dann habe ich etwas gespürt, wie … wie einen Pulsschlag. Nur dass das nicht mein Puls war. Ich habe mich ganz leicht gefühlt, irgendwie losgelöst. Es hat mir Angst gemacht, aber es war auch, ich weiß nicht. Ich habe mich fast erleichtert gefühlt.«
Es ist so wunderschön, flüsterte eine Jungenstimme in James’ Kopf. Er ballte die Fäuste auf seinen Oberschenkeln und zwang sich, seine Aufmerksamkeit weiter auf Erin zu richten.
Atmen, sagte er sich. Bleib ganz ruhig.
»Mir war klar, dass ich in der Luft schwebte, aber ich konnte nichts tun. Der Pulsschlag kam immer wieder, wurde stärker, und, ich weiß nicht? Lauter? Schneller? Wie ein Summen, nur dass ich es nicht mit den Ohren, sondern mit … mit den Knochen gehört habe. So ein tiefer Ton, der durch den ganzen Körper vibriert. Wisst ihr, was ich meine?«
Sie gab ihnen keine Zeit zu antworten, sondern fuhr mit leiserer Stimme fort: »Es ging mir durch die Haut. Ich hab’s in meinen Armen und Beinen gespürt, auf meinen Handflächen, unter meinem Gesicht, es … Das hätte nicht passieren dürfen. Das ist alles unmöglich!«
»Doch«, widersprach James sanft. »Ich fürchte, das ist möglich.«
Erin schlug die Augen auf. »Was war das? Du hast etwas aus mir rausgeholt, oder? Ich habe es gespürt. Als du mich berührt hast, hat sich das Summen in meiner Kehle gesammelt, und dann ist dieses pulsierende Ding durch meine Brust nach außen …« Sie rieb über ihr Brustbein. »Was war das?«
Wortlos zog James das Glasröhrchen aus der Tasche und stellte es auf den Tisch. Seine Hände blieben ruhig, zum Glück.
Im Inneren des Glases flackerte der Nebel. An seinen Rändern waberte Dunkelheit, doch in seinem Kern kreisten winzige, glitzernde Partikel wie Sternenstaub. Der Nebel war wunderschön. Entsetzlich. Tödlich.
»Das«, sagte James, »ist Chaosdunst.«
Zwei Tatsachen bildeten die Grundlage von James’ Wissen über die Welt. Tatsache Nummer eins: Die Welt, wie wir sie kennen, wird von zwei Urkräften geformt und beeinflusst – Chaos und Ordnung. Sie bestimmen den Anfang, die Gegenwart, das Ende und den Neubeginn jeglicher Existenz. Ihr Wirken bleibt oft unsichtbar oder vielmehr unverständlich. Es sei denn, man hatte gelernt, die Funktionsweise dieser Kräfte, ihre Zyklen und Auswirkungen, zu erkennen und zu lesen.
Tatsache Nummer zwei lautete: Es gab Menschen, die einen besonderen Draht zu diesen Urkräften hatten. Während andere die Strömungen von Chaos und Ordnung nicht bemerkten, waren einige wenige mit so etwas wie einem genetischen Empfänger ausgestattet, der es ihnen nicht nur ermöglichte, die Energien der Urkräfte bewusst wahrzunehmen, sondern diese auch aktiv zu nutzen.
James war einer dieser Menschen. Er hatte bereits früh verstanden, dass ihn etwas von den meisten anderen Kindern unterschied. Als Sohn nigerianischer Akademikereltern war er im vorstädtischen Cambridge häufiger in Situationen geraten, in denen er sich in den weißen Gesichtern um ihn herum nicht widergespiegelt sah. Doch das war es nicht allein. Selbst zu Hause hatte er das Gefühl, sich selbst und die Welt um sich herum in einer ganz eigenen Frequenz wahrzunehmen.
Anders als seine Geschwister blieb er tagsüber träge und schläfrig. Seine Nächte verbrachte er jedoch hellwach und aufgekratzt. Er weinte nicht oder protestierte, wenn er ins Bett geschickt wurde. Aber nachts zu schlafen hatte sich immer falsch angefühlt. Sobald die Sonne unterging, überkam ihn eine unbändige Neugier. Er lag bei geöffneten Vorhängen im Bett, schlich sich ans Fenster und betrachtete staunend den Sternenhimmel. Er beobachtete die Nachbarskatze, die über eine Gartenmauer schlich, oder sah zu, wie Motten im Lichtkegel einer Straßenlaterne tanzten. Manchmal, wenn er es gar nicht aushielt, öffnete er das Fenster einen Spalt weit. Ganz leise, um seine Schwestern nicht zu wecken. Dann hörte er den Nachtwind in den Hecken rauschen und roch den erdigen Geruch des Rasens, auf den es tagsüber geregnet hatte. Alles in ihm drängte danach, nach draußen zu schlüpfen und auf Erkundungstour zu gehen.
Später erfuhr er, dass sich die Urkraft des Chaos insbesondere in der Nacht bemerkbar machte. Doch bis zu seinem sechsten Lebensjahr hatten weder er noch seine Eltern eine Erklärung dafür, weshalb James so nachtaktiv war. Dann geriet er mit seiner Familie in einen Autounfall, den er als Einziger überlebte.
Manchmal träumte er von jener Nacht. Er saß auf dem Rücksitz zwischen seinen Schwestern. Regen trommelte auf das Autodach und strömte an den Fensterscheiben hinunter. Die Scheibenwischer schoben die Flut nur dürftig zur Seite. James sah, wie seine Mutter nach dem Radio griff, dann klappte die Zeit wie ein einstürzendes Kartenhaus zusammen, und er lag auf der Seite, eingequetscht zwischen seinem Sicherheitsgurt und dem verbeulten Kindersitz seiner kleinen Schwester. Regen rauschte auf das Wrack, jemand stöhnte, die Zeit kollabierte wieder. Dann kam die Dunkelheit zu James.
Zum ersten Mal stieg sie in ihm auf und drang aus seiner Brust ins Freie. Sie hüllte ihn ein, weich wie eine Decke, sanft wie die Umarmung seiner Mutter.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er im Schutz seiner eigenen Nacht ausgeharrt hatte. Doch irgendwann musste sich die Dunkelheit gelichtet haben. James erinnerte sich nicht an den Rettungswagen oder die Sanitäter. Manchmal flackerten vage Bilder von beigefarbigen Krankenhauswänden, das Rascheln von Arztkitteln oder gedämpfte Stimmen durch sein Gedächtnis. Mehr war jedoch nicht hängengeblieben, und dafür war er fast dankbar.
Seine Familie hatte er nie wieder gesehen. Er war auch nicht zu ihrer Beerdigung gegangen. Diane hatte ihn bereits davor aus dem Krankenhaus geschmuggelt.
Viel später fand er heraus, dass der Orden des Ersten Tages Krankenhäuser überwachen ließ, für den Fall, dass Menschen mit besonderen Fähigkeiten dort auftauchten. Diane hatte ihn weggebracht, bevor der Orden von seiner Existenz erfuhr. Sie hatte ihn bei sich aufgenommen, ihm eine neue Identität gegeben und ihm erklärt, was sich in ihm verbarg.
James wusste, dass er anders war. Doch erst Diane Harling hatte ihm die Worte gegeben, um sich selbst zu beschreiben.
Du bist nachtgeboren, sagte sie. Und die Nacht ist die Schwelle zum Chaos.
Eins der Bücher, das sie James und den anderen im Heimunterricht vorlegte, erklärte den Zusammenhang zwischen den Urkräften und den Menschen, die sie spüren konnten, wie folgt:
Die deutlichste Resonanz der Urkräfte erfahren affine Menschen jeweils während des Tages oder der Nacht. Was wir in unserer irdischen Sphäre als Tag oder Nacht wahrnehmen, ist freilich nur ein Widerhall, eine flüchtige Nachahmung des Wahren Tages und der Wahren Nacht, die als dauerhafte Regionen aus Licht und Dunkelheit jenseits unserer Reichweite und Wahrnehmung existieren. Bereits Pythagoras ging davon aus, dass die Quelle der Urkräfte in jenen überirdischen Sphären verortet sei.
James hatte diese Passage so häufig gelesen, dass er sie im Schlaf aufsagen konnte. An dieser Stelle erklärte eine Fußnote hilfreich:
Dies lässt sich freilich nicht empirisch beweisen, doch die pythagoreische These – wenn auch nur fragmentarisch überliefert – erscheint logisch, auch im Kontext neuerer Erkenntnisse aus der Kosmologie. Siehe hierzu …
Im Anschluss war eine Reihe an Koryphäen aufgelistet, deren Namen James sich nicht gemerkt hatte, dann wandte sich der Text wieder dem Wesentlichen zu.
Aus Gründen, die wir derzeit nicht identifizieren können, werden zuweilen Menschen geboren, die eine besondere Affinität zu Tag oder Nacht und den ihnen anverwandten Urkräften haben. Diese Affinität, diese Neigung, drückt sich in paranormalen Talenten aus, die mit Tag- oder Nachtaspekten korrespondieren (vgl. Kapitel Bekannte Formen paranormaler Fähigkeiten in Diurnales und Nocturnales). Werden diese Talente gefördert, können sie sich zu einer magisch anmutenden Befähigung entwickeln.
Diese Menschen erhielten je nach Kulturkreis und historischen Entwicklungen unterschiedliche Namen. Für diese Studie wollen wir die in unserer Forschungsgesellschaft gängigen Begriffe verwenden, i.e. Diurnales/Nocturnales (im Volksmund auch Tagboten und Nachtboten genannt).
Versteht, was ihr seid, bläute Diane ihren Adoptivkindern ein. Und denkt immer daran, dass ihr Verantwortung tragt. Wenn ihr euch anstrengt, wenn ihr die Kontrolle behaltet, könnt ihr den Weg für ein besseres Zusammenleben zwischen Nachtboten und normalen Menschen ebnen. Aber ihr dürft nicht überheblich werden, egal, welche Fähigkeiten ihr entwickelt.
Wir sind Superhelden, behauptete Leon später und grinste dabei so breit, dass seine Zahnlücke sichtbar wurde. Wie die X-Men.
Nachtgeborene.
Urkräfte.
Sphären.
James hatte wirklich keine Ahnung, wie er all das in eine handliche Erläuterung für Erin packen sollte, also beschränkte er sich auf das Wesentliche.
»Du bist was?«, fragte sie, nachdem er ihr die Kurzusammenfassung präsentiert hatte.
»Ein Nocturnalis«, wiederholte er.
»Ein Nachtbote.« Erin wandte sich zu Sami. »Und was bist du?«
»Ein Gärtner«, antwortete Sami. »Sorry. Ich bin nur ein Zivilist, wie du.«
Erin schwieg, vermutlich um die Masse an absurden Informationen sacken zu lassen. James trank seinen Tee und wartete ab, bis sie schließlich wieder seinen Blick suchte.
»Die Dunkelheit, die uns auf dem Platz eingeschlossen hat«, sagte sie, »du hast sie erzeugt? Das ist dein Talent?«
James nickte.
»Okay, aber das erklärt immer noch nicht, warum du mich verfolgt hast. Rennst du durch die Nacht wie Batman, auf der Suche nach Menschen in Not?«
James lachte müde. »Nicht wirklich. Ich bin dir gefolgt, weil ich das Chaos in dir gespürt habe. Das ist meine andere Fähigkeit.«
»Und was heißt das? Du bist eine wandelnde Wünschelrute?«
»So in etwa.«
Erins Blick fiel auf das Glasröhrchen mit dem Chaosdunst. »Das hast du gespürt. Als es in mir war.«
James nahm einen letzten Schluck Tee. »Ich habe eine Spur von unkontrolliertem Chaos wahrgenommen, ja.«
»Wie ist das …« Erin schluckte, als wollte sie einen unangenehmen Geschmack aus dem Mund spülen. »Wieso war das in mir?«
James seufzte. So viel zu »nur das Wesentliche«. »Du bist in den Radius eines Chaosträgers geraten.«
»Bitte was?«
»Ich fürchte, jetzt wird es wieder kompliziert«, entschuldigte sich James. »Okay. Chaos ist von Natur aus schwer zu bändigen. Normalerweise wirkt es als Urkraft im Gleichgewicht mit der Ordnung, aber manchmal drängt die Chaoskraft zu stark nach Ausbruch und Auflösung. Dann kann es passieren, dass das Chaos sozusagen überschwappt.«
Aus dem Augenwinkel bekam James mit, wie Sami sich zu ihm umdrehte. Dank James wusste er bereits eine Menge über Nacht- und Tagboten. Wahrscheinlich mehr, als der hätte preisgeben dürfen. Aber die Gefahr, die James jetzt beschrieb, hatte er Sami bisher verschwiegen. Naiv, wahrscheinlich, aber er hatte gehofft, dass es nie einen Grund geben würde, warum Sami diese Informationen brauchen würde.
»Wenn das passiert«, fuhr James fort, »dann wird ein sogenannter Chaosträger aktiviert. Wobei er oder sie eher ein Überträger ist. Diese Person wird zu einer Art Strahlenquelle, durch die Energiewellen aus rohem Chaos in unsere Welt dringen. Und ab einem gewissen Punkt dringt die Strahlung des Trägers in den Körper eines anderen Menschen.«
Wenn er es so beschrieb, klang der Prozess beinahe klinisch. Doch wenn er Erin und Sami die Alptraumbilder ersparen konnte, mit denen er aufgewachsen war, würde er es tun. Er selbst erinnerte sich nur zu gut an das erste Bild eines Trägers, das Diane ihm vorgelegt hatte. Es handelte sich um den Abdruck eines französischen Holzschnitts aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Er zeigte eine unnatürlich dürre Gestalt, die über den Häusern einer Stadt schwebte wie ein unheilvoller, dunkler Mond. James hatte die Figur angestarrt, und alles in ihm schrie »falsch, falsch, falsch«.
»Was bedeutet das?« Erin verschränkte die Hände so fest umeinander, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Was passiert mit Menschen, die mit Chaos verstrahlt werden?«
James schwieg. Der Chaosträger auf dem Holzschnitt war nicht allein gewesen. Aus den Gassen der Stadt schwebten Menschen zu ihm empor, angezogen wie hilflose Motten. Funken stiegen von dem Träger auf, schwärmten aus seinem Mund wie Insekten und regneten auf seine Opfer herab. Diejenigen, die knapp über den Dächern hingen, beugten ihre Oberkörper so weit nach hinten, dass es aussah, als würden sie jeden Moment auseinanderbrechen. Und diejenigen, die dem Träger am nächsten waren? Deren Körper hatten nichts Menschliches mehr an sich. Ihre Glieder waren grotesk verrenkt, und ihre Gesichter und Brustkörbe platzten auf wie überreife Feigen.
»James?«, hakte Sami nach.
»Das Chaos löst sie auf«, sagte James. »Erst innerlich, aber wenn der befallene Mensch zu lange durchhält, zersetzt es den ganzen Körper.«
»Oh fuck.« Erin ließ sich auf die Couch zurückfallen und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
»Ich auch«, murmelte Sami.
»Für dich ist es gut ausgegangen«, sagte James zu Erin. »Das Chaos, das du abbekommen hast, steckt jetzt in dem Behälter hier.«
Erin senkte ihre Hände. »Und was bedeutet das? Ist jetzt alles wieder normal? Alles wie vorher?«
James öffnete den Mund, zögerte, und entschied sich für die Wahrheit. »Ich weiß es nicht. Du bist der erste Mensch, aus dem ich Chaosdunst herausziehen konnte.«
»Was hat das mit mir gemacht?«, fragte Erin. »Werde ich Nachwirkungen haben? Verdammt, werde ich morgen wieder in der Luft hängen, oder –«
»Hey«, unterbrach Sami. »Gib ihm Zeit zum Antworten, okay?«
James war dankbar für sein Eingreifen. Die Fragen, die Erin stellte, überschlugen sich ohnehin schon in seinem Kopf. Wieder sehnte er sich nach einem Moment der Ruhe, aber er wusste, dass er Erin weder wörtlich noch sprichwörtlich in der Luft hängen lassen konnte.
Er seufzte. »Ich kann dir nicht sagen, was mit dir passieren könnte«, sagte er. »Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich kenne ein paar Leute, die vielleicht Antworten haben. Und wenn du willst …« James stellte seine Tasse ab und widerstand dem Drang, seine pochenden Schläfen zu reiben. »Wenn du willst, kann ich versuchen, deine Aura zu lesen.«
»Was würde das bringen?«
»Unter normalen Umständen könnte ich spüren, ob du noch Spuren von Chaos an dir hast.«
»Unter normalen Umständen?«
»Ich bin von vorhin noch ziemlich ausgebrannt«, sagte er und spürte, wie sich Sami anspannte. »Wahrscheinlich sind meine Antennen morgen wieder feiner, aber wie gesagt, ich kann es versuchen. Wenn du willst?«
Erin rang sichtlich mit ihrer Entscheidung, dann richtete sie sich auf und rutschte an den vorderen Rand der Couch. »Okay.«
»James«, unterbrach Sami nervös.
»Alles gut«, sagte James. »Ich bin vorsichtig.«
Er hielt Erin die Hand hin.
»Wozu das?«, fragte sie sofort. »Bisher musstest du mich doch auch nicht anfassen, um meine … meine Aura zu lesen, oder?«
»Stimmt«, bestätigte James. »Normalerweise brauche ich keinen körperlichen Kontakt, aber momentan zickt mein Spidey-Sense.«
Sami gab ein überraschtes Prusten von sich. Erins Miene verfinsterte sich.
Keine Witze, ermahnte sich James. Geht klar. Er zuckte mit den Schultern. »Ein Händedruck könnte helfen.«
Erin ballte ihre Finger zur Faust, bevor sie sie mit offensichtlicher Überwindung wieder öffnete. Er hielt still, während sie ihre Hand auf seine legte. Ihre war kleiner als seine, ihre Handfläche kühl und ein wenig feucht.
»Du kannst jederzeit loslassen«, versicherte James, dann schloss er die Augen. Es war Jahre her, dass er sich derart konzentrieren musste, um mit seinen Sinnen auszugreifen. Er dachte an die frühen Lektionen, die ihm dabei geholfen hatten, seine Talente gezielt einzusetzen. Zuerst verlangsamte er seinen Atem zu einem meditativen Rhythmus. Danach blendete er alle Geräusche um sich herum aus, bis er nur noch das Pochen seines eigenen Herzens spürte. Schließlich griff er hinaus und versuchte, Erins Aura zu fühlen.
Mit einem Schlag wurde im so schwindelig, dass er vornüberkippte. Hastig suchte er nach Halt und stieß dabei die Tasse um. Wahrscheinlich wäre er mit der Stirn auf den Couchtisch geknallt, hätte Sami ihn nicht aufgefangen.
»Was ist los?«, rief Erin. »Was hast du gespürt?«
James stützte sich auf Sami und blinzelte, bis die Welt sich nicht mehr wie ein Karussell drehte.
»›Vorsichtig‹, hm?«, brummte Sami.
James wollte sich aufrichten, aber Sami hielt ihn weiter am Arm fest. »Ist schon gut«, murmelte er, dann setzte er sich mühsam auf. »Tut mir leid. Ich bin wirklich ausgebrannt.«
Erin presste eine Faust gegen ihre Brust, genau an die Stelle, an der James das Siegel platziert hatte. Sie sah aus, als wäre sie kurz davor aufzuspringen und davonzulaufen. »Ich bin am Arsch, oder?«, murmelte sie.
»Bist du nicht«, widersprach James. »Wir können noch etwas anderes versuchen. Sag mir, wie du dich fühlst.«
»Dein Ernst?«
»Spürst du immer noch dieses Pochen«, beharrte James, »diesen fremden Puls, den du vorhin beschrieben hast?«
Kurz saß Erin nur flach atmend auf der Couch, dann schloss sie die Augen. Sie biss sich auf die Unterlippe, runzelte die Stirn vor Konzentration.
»Nein«, sagte sie schließlich.
»Du spürst nur deinen eigenen Atem, oder?«, fragte James. »Oben, in deiner Lunge? Unten im Bauch, wenn du tiefer einatmest?«
Erin nickte, und James konnte sehen, wie sie tiefer Luft holte, wie ihr Atem sich beruhigte.
»Dein Körper arbeitet genauso, wie er soll«, sagte James. »Das fühlt sich beruhigend an. Sicher.«
»Ja«, murmelte Erin. »Ja, ich schätze schon.«
James wartete, bis sie die Augen wieder aufschlug, dann nickte er ihr zu. »Ich kann es dir nicht versprechen, aber es scheint so, als wäre bei dir alles zum Normalzustand zurückgekehrt.«
»Zumindest für den Augenblick«, erwiderte sie mit bitterem Unterton. Wenigstens ließ sie ihre Hand von ihrer Brust sinken. Sie stieß einen weiteren Atemzug aus, dann griff sie nach ihrer Tasse und trank einen Schluck. »Okay«, sagte sie schließlich. »Und was ist mit dem ›Bleib-wo-du-bist‹-Typen?«
»Was für einem Typen?«, fragte Sami irritiert.
»Er ist aufgetaucht, nachdem James mich aus der Luft gepflückt hat«, erklärte Erin. »Ich war noch ziemlich benebelt, aber es sah aus, als hätte er weiße Flammen an den Händen. Ich dachte, ich drehe durch, aber das war wohl echt?«
»Sehr echt«, bestätigte James. »Leider.«
»Wer war er?«, wollte Erin wissen. »Einer von euch? Ein Nachtbote, der das Chaos an mir bemerkt hat?«
»Kann gut sein, dass er etwas gespürt hat«, sagte James. Oder er hat mich verfolgt, fügte er in Gedanken hinzu. »Er war allerdings ein Tagbote.«
»Oh, wunderbar«, stöhnte Sami.
Erin zuckte zusammen. »Was?«
»Tagboten sind Arschlöcher.«
»Sami«, mahnte James.
Sami hob eine Braue. »Hast du mir nicht erzählt, dass Tagboten für den Orden des Ersten Tages arbeiten? Dass sie Nachtboten töten, sobald sie irgendwie querschießen?«
»Nicht alle Tagboten haben es auf uns abgesehen«, sagte James. »Die meisten wollen einfach nur ihre Ruhe haben, genau wie wir.«
»Der Typ mit den Feuerbändiger-Händen wirkte nicht so, als wollte er ›seine Ruhe‹ haben«, bemerkte Erin.
»Nein, eher nicht«, gestand James.
»Er hat mir gedroht«, sagte sie. »Hat gesagt, ich soll mich nicht von der Stelle rühren. Warum?«
»Ich weiß es n-«
»Rate«, unterbrach ihn Erin.
»Hast du seinen Ring gesehen?«, fragte James. »Den tragen die Mitglieder des Ersten Tages. Das ist eine Geheimgesellschaft, die verhindern will, dass das Chaos in der Welt die Oberhand gewinnt. Deshalb machen sie Jagd auf Nachtboten. Besonders auf solche, die ihre Talente nicht unter Kontrolle haben oder ihre Fähigkeiten nutzen, um anderen zu schaden.«
»Davon trifft nichts auf Erin zu«, sagte Sami. »Oder?«
Erin sah ihn nur konsterniert an. Immerhin war James nicht mehr der Einzige, den sie mit ihren Blicken erdolchen wollte.
James hob die Schultern. »Ich denke, der Agent hat mitbekommen, wie ich das Chaos aus Erin entfernt habe, und will herausfinden, was der Vorgang mit ihr angestellt hat.«
Wieder fragte er sich, ob der Agent das Sonnensiegel gesehen hatte. Vermutlich nicht, sonst hätte er es sofort haben wollen, oder? James warf einen raschen Blick zu seiner Jacke, die über einem der Barhocker vor der Küchentheke hing. Das Siegel filterte Chaoskraft nicht nur aus dem menschlichen Organismus heraus, es wandelte sie in einen stofflichen Dunst um, den man in einem geschlossenen Gefäß verwahren konnte. Der Orden würde sich alle zehn Finger nach so einem Hilfsmittel lecken.
»Sagst du mir gerade, dass er mich auf einen Labortisch packen will?«, fragte Erin.
Sinnlos, es zu beschönigen. »Möglicherweise, ja.«
Sie stöhnte, lehnte sich nach vorn und stützte die Stirn auf ihre Hände.
James und Sami tauschten einen Blick. »Was. Zur. Hölle«, formte Sami stumm mit den Lippen. James konnte nur erneut mit den Schultern zucken.
»Was jetzt?«, fragte Erin.
James sah immer noch zu Sami. Der seufzte, dann nickte er.
»Heute Nacht sind wir hier sicher«, sagte James. »Morgen kann ich noch mal versuchen, deine Aura zu lesen, und ich kann mit den Leuten telefonieren, die hoffentlich mehr Infos für uns haben.«
James wartete ab. Wie würde Erin auf dieses »uns« reagieren?
»Das ist ein Albtraum.« Erin schüttelte den Kopf, krümmte sich vornüber und setzte sich dann auf. »Ein verdammter Albtraum.«
Sami griff die Packung Kekse und streckte sie Erin über den Tisch hin. Sie öffnete den Mund, als ob sie ihn anblaffen wollte, doch stattdessen platzte ein brüchiges Lachen aus ihr heraus.
»Okay«, sagte sie. »Was soll’s.« Sie nahm sich einen Keks und ließ sich gegen die Lehne der Couch fallen.
»Es tut mir leid, dass dich das alles so überrollt«, sagte James. »Ich werde dir helfen, so gut ich kann, versprochen.«
»Wenn du das alles erst mal sacken lassen willst«, ergänzte Sami, »meine Mitbewohnerin ist diese Woche bei ihrer Familie. Ihr Schlafzimmer ist dort.« Er zeigte auf eine Tür neben der Küche. »Du kannst gern ihr Bett haben.« Er zog sein Handy aus der Hosentasche. »Falls du jemand anrufen willst?«
»Auf mich wartet niemand.« Erin brach ihren Keks in zwei Teile, führte einen davon zum Mund und ließ ihre Hand wieder sinken, ohne abzubeißen. »Shit. Okay. Ich glaube, ich brauche erst mal einen Moment alleine.«
»Klar«, sagte James. »Nimm dir so viel Zeit, wie du willst.«
Erin nickte und stand auf. Sie zögerte, nahm dann ihre Teetasse und zog sich ohne ein weiteres Wort zurück. James wartete, bis sich die Tür des Schlafzimmers hinter ihr schloss. Dann sank er selbst gegen die Lehne seines Sessels und legte den Kopf in den Nacken.
»Ein verdammter Albtraum«, murmelte er. »Das trifft es.«
»Heilige Scheiße, James«, sagte Sami. »Was zur Hölle geht hier ab? Seit wann exorzierst du Chaosenergie? Und was bedeutet das, von wegen Chaosträger und Strahlenquellen? Davon hast du mir nie erzählt!«
James rieb sich über die Stirn. Seine Kopfschmerzen breiteten sich aus, genauso, wie er erwartet hatte.
»Erinnerst du dich an unser Gespräch im letzten April?«, fragte er.
Sami blieb so lange still, dass James schließlich die Augen öffnete und ihn ansah.
»Du hast gesagt, es wäre besser, wenn wir auf Abstand gehen«, sagte Sami in kühlem Tonfall. »Besser für mich.«
James nickte, sagte aber nichts weiter. Samis Miene war mittlerweile so starr, dass James überhaupt nichts an ihr ablesen konnte.
»In was hast du dich verwickeln lassen?«, fragte Sami.
Die Wortwahl überraschte James, denn ja, genau das war passiert. »Das willst du n-«
»Nicht wissen?«, schnitt Sami ihm das Wort ab. Wut blitzte über sein Gesicht, verschwand aber sofort wieder. Er wandte sich ab. »Für jemanden, der immer aufpasst, was er sagt, redest du manchmal gewaltigen Bullshit.«
James hatte keine Ahnung, was er darauf erwidern sollte. Sami stand auf, wandte sich zum Gehen und hielt inne.
»Wenn du sagst, du kennst Leute, die dir helfen können«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Wen meinst du damit?«
James hätte weiter schweigen können, aber das brachte er nicht fertig. »Diane«, antwortete er.
Samis Rücken verspannte sich. Er nickte, als hätte er das erwartet. »Seit wann hast du wieder Kontakt zu ihr? Warte, lass mich raten: Seit April, letztes Jahr?«
James’ Finger gruben sich in die Lehne des Sessels. Sami wusste über die schwierige Beziehung zu seiner Adoptivmutter Bescheid. Ihr wart Kinder, hatte er einmal gewettert. Keine Soldaten in einem Bootcamp, verdammt nochmal.
In der Vergangenheit war es Samis Entrüstung gewesen, die James den Rücken stärkte. Sie bestätigte ihn in seiner Entscheidung, den Kontakt mit Diane abzubrechen. Er fühlte sich … nicht frei, aber gelöst. Ungebunden genug, um seinen Rucksack zu packen und dem Drang zu folgen, mehr zu sehen. Mehr als das abgelegene Herrenhaus, in dem er aufgewachsen war. Mehr als London, mehr als England.
Elf Monate lang bereiste er allein die Küsten rund ums Mittelmeer. Dann sah er Diane, die auf einem kleinen Marktplatz in Neapel auf ihn wartete. Sie saß vor einem Café mit einem Espresso und einem Aktenordner auf dem Tisch. Bereit, ihn wieder zu rekrutieren.
Doch nur ein Soldat, dachte James nun niedergeschlagen.
Und Sami? Von ihm hatte er sich getrennt, anstatt ihm von seiner Übereinkunft mit Diane zu erzählen.
Es gab genug Erklärungen für sein Verhalten. Ich wollte dich beschützen. Ich wollte dich nicht in meine abgefuckte Mission hineinziehen. Aber stimmte das wirklich? Oder hatte er gekniffen und Sami nur deshalb nichts von Chaosträgern erzählt, weil er die Erinnerung an Leon nicht nach oben zerren wollte? Weil Sami der erste, wichtige Mensch in seinem Leben gewesen war, der nichts von dem schrecklichsten Moment aus seiner Vergangenheit wusste?
Egal, welche Gründe James für sein Schweigen gehabt hatte, jetzt erschienen sie ihm als genau das, was Sami ihm vorgeworfen hatte. Bullshit.
»Wenn du willst, erkläre ich es dir«, bot er an und hoffte plötzlich, dass Sami sich wieder neben ihn setzen würde.
»Mir reicht’s für einen Abend«, sagte Sami. »Ich gehe schlafen. Du kannst die Couch haben.«
James hatte kein Recht, enttäuscht zu sein, aber Samis Antwort verpasste ihm dennoch einen Stich. Dabei war es nur fair. Nein, in Wahrheit war ein Platz auf Samis Couch mehr, als er verdiente.
Sami war bereits auf halbem Weg zu seinem Schlafzimmer, als James sich nach ihm umdrehte.
»Sami. Danke.«
Er blieb kurz stehen, nickte wieder und verschwand in seinem Zimmer.