Nyx

Um zehn Uhr morgens stolperte Nyx hinunter in den Buchladen. Vier Stunden unruhiger Schlaf rieben ihr die Erschöpfung wie Sandpapier über die Knochen.

An ihren Händen klebten weiße Farbtupfer. Sie hatte das Traumgemälde von letzter Nacht noch vor Sonnenaufgang übermalt. Sie wollte die Figur mit der Sternensilhouette aus ihrem Gedächtnis tilgen, aber als das erste, rosige Licht auf die getünchte Wand fiel, schien die Gestalt wie ein Nachbild durch die weiße Farbe zu schimmern.

Nyx konnte sich nicht erklären, warum sie jener Umriss so beunruhigte. Wahrscheinlich hatte der Nachhall des fremden Albtraums ihre Wahrnehmung einfach länger durcheinandergebracht, als sie erwartet hatte. Das war die einfachste Erklärung.

Dennoch, in all ihren Traumgemälden hatte Nyx nie zuvor eine erkennbare menschliche Gestalt gemalt. Ganz zu schweigen davon, dass sich ihre Bilder normalerweise nicht bewegten. Sie schauderte, als sie daran dachte, wie das Sternwesen seine Hand nach ihr ausstreckte.

Nyx hielt vor der Tür zum Buchladen an und presste sich beide Hände vors Gesicht. Wenn sie die Nacht in ihrem Wandschrank besuchte, würde vielleicht alles klarer werden, vielleicht …

Nein. Wenn sie jetzt anfing, ihrer Sehnsucht nach der Nacht nachzugeben, würden sich nur mehr Träume um sie herum manifestieren.

Der Anblick der geschwungenen Regalreihen und des schräg einfallenden Sonnenlichts holte sie in den Moment zurück wie ein sanfter Kuss auf die Wange. Dann sah sie die Kataloge, die sich neben der Kasse stapelten, und Freyas Gewittermiene.

Nyx ging zu ihrer Chefin und nickte zu den Katalogen. »Frühjahrsnovis?«

Freya betrachtete die Stapel, als wären sie ein feindliches Bataillon. »Yep. Ich habe River schon angerufen. Heute brauchen wir alle Frauen und Non-Binary People an Bord.«

Nyx liebte die Arbeit im Buchladen, aber die Durchsicht der Verlagsvorschauen und die Entscheidung, welche Bücher sie für die eigene Auslage vorbestellen wollten, bereiteten Freya und dem Rest ihres Teams regelmäßig Kopfschmerzen.

»Wir brauchen Kuchen, oder?«, fragte Nyx.

Sofort erhellte sich Freyas Miene. »Eine Menge davon!«

Nyx lächelte. »Ich kümmere mich drum.«

Beladen mit zwei Tüten aus ihrer Lieblingsbäckerei machte sich Nyx auf den Rückweg zum Buchladen. Sie hätte sich mit den Touristen an den Spitalfields-Markthallen vorbeizwängen können, bevorzugte jedoch Schleichwege. Kurz vor einer Reihe von Foodtrucks bog sie ab, folgte einem unscheinbaren Pfad zwischen einem Wohnhaus und einer Tiefgarageneinfahrt und machte schließlich eine weitere Biege in einen kleinen, abgeschirmten Park.

Zur Mittagszeit tummelten sich hier die Eingeweihten, um ihren Lunch zu genießen, aber Nyx war früh genug dran, dass ihr nur ein eiliger Spaziergänger mit einem aufgeregt bellenden Hund begegnete.

Sie wich ihm großzügig aus und scheuchte ein paar

Sie zögerte, dann trat sie näher auf den Mann zu. Wenn er schlief, wollte sie ihn nicht wecken. Falls er jedoch Hilfe brauchte, wollte sie nicht einfach vorbeigehen. Der Mann kam ihr sogar vage bekannt vor. Gut möglich, dass er hier in der Nähe wohnte und sie ihm schon einmal über den Weg gelaufen war.

Sie kam noch einen Schritt näher und versuchte, sein Gesicht unter den blonden Haarfransen zu erkennen, die ihm in die Stirn hingen. Ein Schauder rieselte ihren Rücken hinunter. Aus der Entfernung hatte es wie ein Trick des Lichts ausgesehen, aber nun musste Nyx feststellen, dass die Haut des Mannes nicht nur fahl wirkte, sie war nahezu grau.

Ein weiteres Frösteln rann über Nyx’ Haut, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Ihr Mitleid wandelte sich zu einer düsteren Vorahnung. Plötzlich war ihr egal, ob sie den Mann erschreckte.

»Sir?«, fragte sie. »Sir, ist alles in Ordnung?«

Der Mann regte sich nicht.

Lauf weg, warnte eine innere Stimme. Sieh nicht hin.

Nyx schluckte und ging vor der Bank in die Hocke. Die Bäckertüten hielt sie wie einen Schild an ihre Brust gepresst.

»Wach auf«, murmelte sie. »Komm schon.«

Mittlerweile vibrierte ihr Pulsschlag förmlich, und ihr brach der kalte Schweiß aus. Die Erinnerung an eine schlaffe, bleiche Hand drängte sich in ihren Kopf. Nyx hielt die Luft an. Sie stieß die Erinnerung weg, sah jedoch im selben Moment, dass

Nyx streckte eine Hand aus, da fiel ein Sonnenstrahl quer über das ausdruckslose Gesicht und ließ ein filigranes Gewirr aus silberhellen Adern schimmern, die sich rund um die Augen des Mannes ausbreiteten.

»Shit«, zischte Nyx und stürzte vor Schreck rücklings zu Boden. »Shit

Eisige Panik peitschte in Wellen durch ihren Körper. Die geisterhafte Hautfärbung, die Silberadern, all das war genauso wie bei … aber das war unmöglich. Das konnte nicht sein!

Wie gelähmt starrte sie den Mann an, bis der Kies auf dem Weg neben ihr knirschte. Ein Paar ausgetretene Sneaker tauchten am Rand von Nyx’ Sichtfeld auf, dann sagte eine Stimme: »Oh Mann. Der ist tot, oder?«

Nyx blinzelte und versuchte, die Person neben ihr anzusehen, doch ihr Blick rutschte zurück zu dem Mann auf der Bank. Zu den Handflächen, die in einer Geste der absoluten Hilflosigkeit nach oben zeigten.

Steh auf. Sie konnte sich nicht aufraffen. Ihr Körper versteinerte, ihr Herz hämmerte dumpf in ihrer Brust, und ein Weißes Rauschen füllte ihre Ohren.

Steh auf.

Ein Schatten fiel über Nyx, dann ging die Person in den abgewetzten Schuhen neben ihr in die Hocke.

»Alles okay bei dir?«

Die Stimme klang gedämpft, als ob die Person durch eine Glasscheibe sprechen würde. Nyx wollte antworten, brachte die Lippen jedoch nicht auseinander. Sie musste hier weg, sie musste hier weg, sie musste …

»Kannst du mich hören?« Die Stimme klang nun deutlicher. Sie war warm, ruhig, ein Ankerpunkt. Nyx klammerte sich daran.

Nyx schloss die Augen. Ein Hitzeschub ließ ihr Herz stolpern, und ihre Brust wurde so eng, dass es schmerzte. Dennoch zwang sie sich, tief Luft zu holen. Der Atem zwängte sich durch ihre enge Kehle, hinunter in ihre Brust.

»Drei«, sagte die Person neben ihr. »Vier. Halten.«

Nyx hielt ihren Atem an. Eins, zwei, drei.

»Vier, fünf, sechs. Ausatmen. Sehr gut.«

Nyx konzentrierte sich auf die Stimme und den Rhythmus, den sie vorgab. Nach und nach rückten das Zählen und Atmen in den Vordergrund ihres Bewusstseins. Ihr Körper entkrampfte sich, ihr Herzschlag beruhigte sich. Als sie die Augen öffnete, konnte sie wieder deutlich sehen und einigermaßen klar denken.

Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen, dann wandte sie den Blick zur Seite.

Eine junge Frau mit heller Haut und langen, braunen Haaren kauerte neben ihr.

»Panikattacke?«, fragte sie.

Nyx nickte.

Die andere Frau öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, als ein junger Typ mit lila gefärbten Haaren über den Pfad auf sie zukam.

»Hallo«, rief er, »alles in Ordnung bei … heilige Scheiße!«

Seine Augen weiteten sich, als er den Toten entdeckte. Nyx zwang sich, nicht dorthin zu sehen. Die Fremde mit der ruhigen Stimme hielt ihr die Hand hin. Nyx ergriff sie und ließ sich von ihr auf die Füße helfen. Im letzten Moment griff sie noch die Bäckertüten, die bei ihrem Sturz zu Boden gefallen waren.

Der lila Haarschopf ging ohne Hemmungen zu dem Mann auf der Bank. Nyx sah immer noch nicht hin, aber scheinbar schien sich der junge Typ davon zu vergewissern, dass der Mann tatsächlich nicht aufwachen würde.

»Was ist hier los?«, fragte sie.

»Ich glaube, der Typ hier ist tot«, sagte der lila Haarschopf. »Oh Mann.«

Die Frau, die Nyx auf Mitte bis Ende fünfzig schätzte, schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh Gott«, stieß sie hervor. »Herzinfarkt?«

Nyx’ Hände krallten sich in die Bäckertüten. War das möglich? Hatte sie sich die Adern nur eingebildet? War der Mann eines natürlichen Todes gestorben?

»Darf ich mal?«, fragte die junge Frau, die Nyx geholfen hatte. Sie ging zur Bank, und Nyx zwang sich, hinzusehen. Der lila Haarschopf trat beiseite, und die junge Frau nahm neben dem Toten Platz. Behutsam fühlte sie an seiner Halsschlagader nach einem Puls.

»Und?«, fragte die ältere Frau mit wackliger Stimme.

Nyx’ Helferin schüttelte den Kopf.

»Ich rufe einen Krankenwagen«, beschloss die ältere Frau und zog ihr Handy aus der Tasche.

Indessen schob Nyx’ Helferin dem Toten die Haare aus der Stirn. Die silbernen Adern leuchteten im Sonnenlicht und ein bitter-saurer Geschmack stieg Nyx’ Kehle hinauf. Nein. Das war kein Herzinfarkt gewesen.

»Alter«, krächzte der lila Haarschopf. »Was hat er im Gesicht? Ist das Make-up?«

Nyx sagte nichts, aber ihre Helferin hob den Blick und sah sie direkt an. So, als wüsste sie, dass Nyx die Antwort auf die Frage des Jungen kannte. Ertappt wich Nyx zurück. Die junge Frau hob eine Braue, dann glättete sich ihre Miene.

»Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Aber ich fürchte, für diesen Herrn kommt der Krankenwagen zu spät.« Sie zog ein

Die Mittfünfzigerin, die während des Telefonats nervös von ihnen weggewandert war, kehrte zurück.

»Sie sind in zehn Minuten da«, sagte sie. »Oh Gott. Oh Gott, wie furchtbar.«

Nyx’ Helferin stand auf und wandte sich an die Frau. »Können Sie hierbleiben, bis die Sanitäter kommen?«, fragte sie. »Meiner Freundin geht’s nicht gut, ich würde sie gerne nach Hause bringen.«

Nyx zuckte überrascht zusammen, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte.

»Was?«, fragte die Frau verwirrt, dann nickte sie hastig. »Ja, ja, natürlich. Oh.«

Der lila Haarschopf schaute ratlos zwischen allen hin und her, dann zog er eine Wasserflasche aus seiner Tasche und hielt sie der älteren Frau hin. »Wollen Sie?«

Sie blinzelte und nickte dankbar.

»Gehen wir?«, raunte die junge Frau, die plötzlich wieder neben Nyx stand. Nyx hatte keine Ahnung, was hier gerade passierte, aber bei einer Sache war sie sich sicher: Sie wollte weg von hier.

»Ja.«

Die junge Frau hob den Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln und deutete mit einem Nicken nach links. Sie gingen los, den Parkweg entlang, und als sie außer Hörweite waren, sagte Nyx’ Helferin: »Ich heiße Birdie.«