Nyx

Nyx hatte den Buchladen kaum betreten, da bemerkte Freya, dass etwas nicht stimmte.

»Nyx, alles in Ordnung, Schätzchen?« Besorgt kam sie hinter der Kasse hervor. »Du siehst aus wie der Tod auf Latschen.«

Nyx stieß die Luft aus, und Birdie gab ein raues Lachen von sich.

»Unglückliche Wortwahl«, sagte sie und erklärte rasch, was passiert war. Beziehungsweise erzählte sie Freya, dass Nyx eine Leiche im Park gefunden hatte. Die silbernen Adern erwähnte sie nicht.

Freyas Sorgenfalte vertiefte sich. »Nyx?«

»Es geht schon«, besänftigte Nyx. »Ich brauche nur einen Moment.«

Freya kniff die Lippen zusammen, aber sie nickte. »Komm erst mal wieder richtig zu dir.« Sie sah sich um, angelte eine Wasserflasche hinter der Theke hervor und hielt sie Nyx entgegen. »Hier.«

Spannend, dachte sie. In Krisenmomenten Wasser zu verteilen, schien eine beliebte Reaktion zu sein.

Als Nyx sich nicht rührte, nahm Birdie die Flasche entgegen. Zum ersten Mal fiel Nyx auf, dass sich zwei Kundinnen im Laden befanden, die nun auch neugierig in ihre Richtung schauten.

Automatisch spannten sich ihre Schultern an. »Freya, wär’s okay, wenn ich-«

Nyx setzte schon an, um den Kopf zu schütteln, da schaltete sich Birdie ein.

»Ich gehe mit«, sagte sie und wandte sich an Nyx. »Wenn das für dich okay ist?«

»Nyx?«, fragte Freya.

Wieder sah Birdie Nyx direkt an. Nyx bekam den Eindruck, als ob sie darauf wartete, ihr etwas im Vertrauen zu erzählen. Die Frage war: Wollte sie wissen, was Birdie ihr verraten wollte?

»Ja.« Sie versuchte, Freya beruhigend zuzulächeln. »Das ist okay. Mach dir keine Sorgen. Ich bin bald wieder auf der Höhe, das war nur der Schock.«

»Okay, aber falls du Hilfe brauchst …«

Nyx’ Lächeln wurde weicher. »Danke.«

Erst auf der Treppe fiel ihr auf, dass sie immer noch die Bäckertüten mit sich herumschleppte.

Oben auf der Dachterrasse setzte sich Nyx an den Picknicktisch und stützte ihre Stirn in ihre Hände.

»Shit«, murmelte sie. Die Muskeln in ihrem Rücken, Armen und Beinen schmerzten wie nach einem zu heftigen Workout.

»Yep«, bestätigte Birdie. Sie schnappte sich zwei der sauberen Tassen, die in einer Kiste neben dem Tisch standen, und schenkte ihnen Wasser ein.

»Hier.« Sie schob Nyx eine der Tassen hin und beäugte hoffnungsvoll die zerknautschten Bäckertüten. »Ist da was Leckeres drin? Ein bisschen Zucker täte uns beiden gut, glaube ich.«

Nyx gab ein zustimmendes »Hm« von sich und öffnete eine der Tüten. Die Plunderteilchen waren zerquetscht, aber essbar. Nach kurzer Überlegung riss Nyx die Tüte längs auf und schob sie in die Mitte des Tisches. Ein heißhungriges Leuchten trat in

Während sie hineinbiss, betrachtete Nyx die Fremde vor ihr. Birdie hatte ihre langen Haare hinter ihr linkes Ohr geklemmt. Ein winziger Ring steckte an der Seite ihrer Nase. Sie trug einen potthässlichen, übergroßen Pullover mit dunkelroten, blauen und grünen Streifen. Tätowierte Kräuter und merkwürdige Symbole schmückten die Rückseiten ihrer Finger.

Wer war diese Person? Der Schock über die Leiche im Park hatte Nyx derart aus der Bahn geworfen, dass sie Birdie, ohne zu zögern, mit hierhergenommen hatte. Dabei hätte sie zuerst ein paar wichtige Fragen stellen müssen. Zum Beispiel: Konnte sie Birdie überhaupt vertrauen? Für eine Person, die über eine Leiche gestolpert war, wirkte sie verdächtig gelassen. Außerdem hatte sie Nyx auf eine Art angesehen, als verstünde sie ganz genau, warum die silbernen Adern – Bruchlinien, wisperte eine Stimme in Nyx’ Kopf – warum die Adern Nyx in Panik versetzt hatten. Aber wenn das stimmte, woher wusste Birdie, was die Spuren auf dem Gesicht des Toten bedeuteten?

Nyx lehnte sich ein Stück weg vom Tisch. Birdie schien es nicht zu bemerken. Sie schleckte sich Blätterteig vom Daumen und summte zufrieden vor sich hin.

Falls sie nur vorgab, harmlos zu sein, spielte sie ihre Rolle ziemlich gut. Nyx ermahnte sich, vorsichtig zu bleiben, aber gleichzeitig dachte sie daran, wie Birdie sie während ihrer Panikattacke geerdet hatte. Sie würde vorerst auf der Hut bleiben, aber eines konnte sie immerhin nachholen.

»Danke«, sagte sie.

»Kein Ding«, nuschelte Birdie und schluckte einen Mundvoll Plunder herunter. »Ich hoffe, es war okay, dass ich dich aus dem Park gelotst habe. Ich habe mir gedacht, du willst bestimmt nicht bleiben, bis die Sanis oder die Polizei auftauchen.«

Nyx ging sofort in Habachtstellung. »Was? Wieso?«

Birdie blieb entspannt. »Na ja«, sagte sie. »Fliegen Leute wie du nicht lieber unter dem Radar? Was bist du? Eine Tagbotin oder eine Nachtbotin?«

Fassungslos starrte Nyx Birdie an. »Was bist du?«, fragte sie zurück.

Birdie grinste. »Nichts Spannendes. Nur eine Seherin.«

»Eine was?«

Birdies Lächeln wurde breiter. »Eine Seherin«, wiederholte sie. »Du weißt schon, wir schlachten Schafe und lesen deren Eingeweide.« Auf Nyx’ entgeisterten Blick hin lachte sie. »Scherz. Hauptsächlich lesen wir Wolkenformationen und das Verhalten von Vogelschwärmen.« Sie schob die Tüte mit den süßen Stückchen in Nyx’ Richtung. »Jetzt bist du dran. Was steht auf deinem Etikett?«

Nyx nahm sich einen Zimtknoten. Eine Seherin. Okay, das erklärte … so gut wie gar nichts.

»Nachtbotin«, sagte sie. Das Wort laut auszusprechen verursachte ein seltsames Störgefühl, so als hätte sie ein Tabu gebrochen. Wenn sie darüber nachdachte: Hatte sie sich mit dieser Selbstbezeichnung überhaupt schon einmal geoutet? Außerhalb ihrer Ziehfamilie?

Nein, hatte sie nicht.

Nyx schob ihr Unbehagen beiseite und wandte sich wieder an Birdie. »Woher wusstest du …?«

Birdie faltete die Arme auf dem Tisch. »Die Luft um euch herum fühlt sich anders an. So, als würdest du an einem warmen Tag an einem kalten Gewässer vorbeikommen.«

»Wie in Geistergeschichten?«, fragte Nyx irritiert.

Birdie verzog das Gesicht. »Nicht wirklich. Es fühlt sich nicht unangenehm oder unheimlich an. Eher … thermisch unruhig. Ist schwer zu erklären. Soweit ich das verstehe, nehmen

Nyx fragte sich, ob Birdies Wahrnehmung so ähnlich funktionierte, wie James’ Gabe. Er konnte die Aura von Leuten spüren, durch die besonders viel Energie aus den äußeren Sphären floss.

James. Mit einem Mal war der Wunsch, ihn an ihrer Seite zu haben, so stark, dass ihr Herz stockte.

Wir schaffen das, hörte sie seine Stimme. Zusammen, okay? Das hatte er ihr im Zug von Surrey nach London gesagt. Als sie in ihr neues, ungewisses Leben aufbrachen. Zusammen. Vier Jahre später hatte er seinen Rucksack gepackt und England verlassen.

Nyx zupfte ein Stück des Zimtknotens ab und schob es sich in den Mund. »Ich wusste nicht, dass es tatsächlich Seherinnen gibt.«

»Was denn, hast du geglaubt, ihr Boten seid die Einzigen, die einen Schuss paranormales Talent abbekommen haben?« Birdie trank einen Schluck Wasser. »Shakespeare-Zitate sind ein ziemliches Klischee, aber hey, mit einer Sache hatte er recht: Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.«

Nyx nickte. Tatsächlich hatten James, Leon und sie ab und zu darüber gerätselt, ob es neben Nocturnales und Diurnales noch andere speziell begabte oder übernatürliche Wesen geben könnte. Leon hatte sich Werwölfe gewünscht.

Beim Gedanken an Leon verwandelte sich das Stück Zimtknoten auf Nyx’ Zunge in einen Klumpen kalter Asche.

»Der Typ vorhin im Park …« Birdie sah besorgt aus. »Der hatte keinen Herzinfarkt, oder?«

Nyx würgte den Bissen Gebäck hinunter. »Ich glaube nicht.«

Birdie nickte. »Habe ich mir gedacht. Ich wollte eigentlich

Nyx runzelte verwirrt die Stirn bei der Erwähnung der Spatzen, blieb dann jedoch an etwas anderem hängen.

»Was meinst du damit, ›etwas liegt im Argen‹?«

»Aus dem Grund bin ich in London. Seit ein paar Tagen mehren sich die Omen, dass etwas Unschönes im Anmarsch ist.« Birdie hob den Blick und sah Nyx in die Augen, vielleicht, um ihre Reaktion zu beobachten. »Ich befürchte fast, dass ein Chaosträger aktiviert wurde.«

Nyx hatte keine Ahnung, was Birdie in ihrem Gesicht las. In ihr wurde jedenfalls alles tödlich still.

Chaosträger waren die Spukgestalten ihrer Kindheit. Andere fürchteten sich vor Monstern im Schrank, aber für Nyx war der Chaosträger weitaus schlimmer. Nicht nur, weil Diane ihn wie einen Reiter der Apokalypse darstellte, eine in überirdischen Flammen lodernde Gestalt, die alles vernichtete, was ihr zu nahe kam. Nyx’ Furcht knüpfte sich an die Drohung, dass dieses Monster in jedem beliebigen Nachtboten heranwachsen konnte.

Wenn andere davon sprachen, dass Träger »aktiviert« wurden, verschleierten sie die Wahrheit. Es gab keinen Schalter, den irgendjemand umlegte. Kein Elixier, das einen Nachtboten von Dr. Jekyll in Mr. Hyde verwandelte. Die Aktivierung war ein schleichender Prozess. Chaos floss unsichtbar in den Körper eines oft ahnungslosen Boten, breitete sich in ihm aus, durchdrang seinen Geist, übernahm seinen Verstand, seine Arme, Hände, Beine, bis nur noch eine Marionette übrig blieb.

Als Jugendliche hatte Nyx die Tagebucheinträge einer Chaosträgerin gelesen, und der hilflose Schrecken, den sie beschrieb,

Als die ersten Menschen in ihrer Nähe starben, als sie begriff, was passierte, war es bereits zu spät. Die letzten Tagebucheinträge, kaum mehr als Fragmente, hatten sich in Nyx’ Gedächtnis gebrannt.

Er schwebt über mir, schrieb die Trägerin, deren Name nirgends genannt wurde. Wir schliefen Seite an Seite. Jetzt schwebt er über mir. Ich sehe sein Gesicht, obwohl es nicht mehr da ist. Es ist nicht mehr da, nur Rauch, nur Sterne – wir haben Sterne gezählt, draußen, auf dem Deich, er hat mir erzählt, dass er sich früher ein Teleskop gewünscht hat.

Ich habe ihn berührt. Gott, habe ich ihn berührt? Habe ich ihn …

Wörter, so kräftig durchgestrichen, dass nur dunkelblaue Rillen zurückblieben. Dann: Er schwebt über mir.

Nyx wurde übel, wenn sie an diese Zeilen dachte. Wie mochte es sein, neben einem geliebten Menschen einzuschlafen und ihm, ohne es zu bemerken, den Tod in den Körper zu pflanzen? Denn das war passiert. Chaos war aus dem Körper der schlafenden Nachtbotin entwichen und hatte ihren Liebhaber aufgelöst. Hatte ihn in die Luft erhoben, wie es allen passierte, die dem Chaosverfall anheimfielen.

Die Vorstellung war grausam genug. Aber das Wissen, dass die Trägerin nicht wusste, was sie tat, quälte Nyx. Hätte sie etwas tun können, wenn ihr früher klargeworden wäre, was mit ihr vorging? Alle Quellen, die Nyx kannte, gaben dieselbe Antwort: Nein. Hatte sich das Chaos einmal einen Träger ausgesucht, gab es kein Zurück. Es blieb nur Verlust. Verlust von

Es ist ein feines Geräusch in mir und eine Bewegung wie von kommender Flut, hatte die Trägerin geschrieben. Ein Rilke-Zitat, wie Nyx später herausfand.

Nyx las das Tagebuch, wieder und wieder. Sie dachte an die Drohung, die in Dutzenden Werken in ihrer Bibliothek stand. Jeder Nachtbote kann ein Träger des Chaos werden.

Eines Tages könnte es mich treffen, hatte die vierzehnjährige Nyx gedacht. Oder James oder Leon. Die Gefahr hing über ihnen wie ein Damoklesschwert, verschärft durch Dianes Warnungen.

Jeder Nachtbote kann ein Träger werden, mahnte sie. Aber diejenigen, die ihre Fähigkeiten missbrauchen, die leichtsinnig werden und ihre Talente zu oft anwenden, laden das Chaos ein, sie zu verzehren.

»Du weißt, was ein Chaosträger ist, oder?«, fragte Birdie. Nyx bekam zunehmend das Gefühl, dass Birdie absolut gar nichts entging.

»Ja.« Nyx schob den restlichen Zimtknoten von sich weg und zwang sich, einen Schluck Wasser zu trinken.

Birdie wartete ab. Als Nyx nichts weiter erklärte, hakte sie nach. »Der Tote«, sagte sie. »Die silbernen Linien um seine Augen. Du weißt, was sie bedeuten, nicht wahr?«

»Du nicht?«, fragte Nyx zurück.

»Mir ist nur klar, das war kein Make-up.«

Nyx zögerte und wog ab, was sie Birdie erzählen konnte. Wie viel sie ihr verraten durfte. Es gab gute Gründe, warum Nacht- und Tagboten ihre Fähigkeiten geheim hielten. Wenn es einen roten Faden gab, der sich durch die Geschichte der Menschheit zog, dann war es die systematische Ausgrenzung und Vernichtung von Gruppen und Einzelpersonen, die als »anders« abgestempelt wurden. Der Teil mit der Vernichtung

Heutzutage lebten die Boten im Verborgenen, und die Welt hatte größtenteils vergessen, dass es sie gab. Nyx wusste nicht, wie viele von ihnen noch existierten. Wenn sie Dianes Informationen vertraute, schwanden ihre Zahlen seit dem letzten Jahrhundert enorm. Entweder das, oder der Großteil hatte einen Weg gefunden, sich als normale Menschen zu tarnen und den Suchscheinwerfern von Fanatikern wie den Agenten des Ersten Tages auszuweichen. Diane hatte Nyx eingebläut, dass sie ihre Fähigkeiten geheim halten musste, um sich selbst und ihre Ziehbrüder zu schützen. Aber Birdie hatte sie bereits enttarnt. Und wenn sie tatsächlich eine Seherin war, wollte sie die Aufmerksamkeit der falschen Leute bestimmt genauso wenig auf sich ziehen wie Nyx. Historisch gesehen waren Frauen mit dem zweiten Gesicht mindestens genauso bedroht wie Nocturnales und Diurnales.

Nyx beschloss, ein paar Karten auf den Tisch zu legen. Vielleicht konnte sie ihrerseits einige Schlüsse aus Birdies Reaktionen ziehen. »Die Adern könnten ein Symptom des Chaoszerfalls sein.«

Birdie sog zischend die Luft zwischen die Zähne. »Oh fuck. Das würde bedeuten, dass der Träger bereits genug Chaos in sich hat, um es auszustrahlen. Verdammt.«

Allerdings, dachte Nyx. Ihr Blick fiel auf den halb zerpflückten Zimtknoten, und ihr drehte sich der Magen um vor Übelkeit.

»Ich kann mich irren«, sagte sie. Erstaunlich, wie fest ihre Stimme noch klang. »Der Mann im Park könnte auch ein Nachtbote gewesen sein, der mit zu viel roher Chaoskraft in Berührung gekommen ist.«

»Wie geht denn so was?«, wollte Birdie wissen.

Verschwindend gering. Das hätte Nyx gerne geglaubt. Aber das mulmige Gefühl in ihrem Magen ließ nicht zu, dass sie sich selbst belog. In Wahrheit war sie nicht einmal überrascht. Ein Teil von ihr hatte wohl die ganze Zeit über vermutet, dass ihre Vergangenheit sie irgendwann einholen würde.

Alles kehrt wieder. Plötzlich dachte Nyx an ihr Gemälde von letzter Nacht. Die weiß getünchte Wand befand sich hinter ihr, aber auch ohne hinzusehen, spürte sie ein Prickeln im Nacken. Sie erinnerte sich an die Warnung, die durch ihren Kopf gegeistert war.

Etwas kommt.

Hatte Birdie vorhin nicht etwas Ähnliches gesagt?

»Weißt du’s nicht, oder willst du nicht antworten?«, fragte Birdie.

Überrascht hob Nyx den Blick. Birdie hatte immer noch diesen gelassen-freundlichen Ausdruck auf dem Gesicht, aber jetzt schwang ein Funken Frustration in ihrer Stimme mit. Nyx beschloss, Birdie mit ihren eigenen Worten zu antworten.

»Ist schwer zu erklären.«

Da stieß Birdie ein Lachen aus. »Touché.« Sie lehnte sich zurück und musterte Nyx nachdenklich. »Bevor ich in den Park abgebogen bin, war ich auf dem Weg zu einem Orakel. Ich hatte gehofft, dass er mir mehr über die Bedeutung der Omen verraten kann. Ich sollte los, er wartet schon auf mich.« Sie machte eine Pause und schien dann eine Entscheidung zu treffen. »Willst du mit?«

»Warum bist du hier?«, fragte sie Birdie. Die Frage klang wie eine Konfrontation, aber das konnte Nyx nicht ändern, nicht jetzt. »Wenn es einen aktiven Träger in London gibt, solltest du so weit wie möglich von hier fliehen. Warum bleibst du? Warum mischst du dich ein?«

Birdie seufzte. »Die kurze Antwort? Dazu wurde ich ausgebildet. Das Auftauchen eines Trägers ist ein Zeichen dafür, dass die Urkräfte aus dem Gleichgewicht geraten sind. Ich kann dabei helfen, sie wieder auszubalancieren. Oder zumindest sollte ich es können.«

»Was soll das heißen?«

Birdie nahm noch einen Schluck Wasser. »Nimm’s mir nicht übel, aber so einsilbig, wie du bisher warst, würde ich ungern alle meine Geheimnisse vor dir ausbreiten.«

Touché, dachte Nyx und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie wusste immer noch nicht, ob sie Birdie trauen sollte. Aber welche anderen Optionen hatte sie?

Ihre Hand bewegte sich zum Handy in ihrer Tasche, bevor sie noch richtig darüber nachdachte. Sie brauchte bloß die Kurzwahltaste zu drücken. Dann würde sie mit James reden können und … und was? Was würde sie ihm sagen?

Es fängt wieder an. Bitte komm nach Hause.

Nein. Nein, sie würde dieses Paket nicht auf seiner Schwelle ablegen, nicht, solange es nicht absolut notwendig war. Doch wenn sie James nicht um Rat fragen konnte, wer blieb dann übrig?

»Verdammt«, seufzte sie.

Birdie beugte sich vor, und für einen absurden Moment dachte Nyx, sie würde nach ihrer Hand greifen. Automatisch verkrampfte sie die Finger zur Faust, doch Birdie stützte sich nur mit den Ellbogen auf dem Tisch ab.

»Okay, hör mal«, sagte sie. »Ich weiß, du kennst mich nicht. Ich dich auch nicht. Aber ganz ehrlich? Mir wäre um einiges wohler zumute, wenn ich eine Nachtbotin an der Seite hätte. Ich habe das Gefühl, ich tappe ziemlich im Dunkeln.« Nyx schnaubte, aber Birdie zuckte nur mit den Schultern. »Wenn wir unser Wissen zusammenwerfen, finden wir vielleicht heraus, wie groß die Gefahr tatsächlich ist.«

Nyx musterte sie skeptisch. »Und dann?«

Birdie lächelte. »Dann retten wir die Welt, schätze ich.«