Am späten Morgen kehrte James mit einem neuen Handy und einer Einkaufstüte voller Bagel, Paprikas, grünen Chilischoten, Petersilie und Tomaten in Samis Wohnung zurück. Die Schlafzimmertüren waren beide geschlossen, doch das Rauschen aus dem Bad verriet ihm, dass dort jemand unter der Dusche stand.
James packte das Handy aus, setzte die Prepaidkarte ein und lud seine Daten aus der Cloud herunter. Er könnte Dianes Nummer wählen, schob den Anruf jedoch vor sich her. Wenn Dianes Pläne sich nicht geändert hatten, war sie heute Morgen auf der Rückfahrt von St. Andrews, wo sie einen Blick in ein Manuskript aus dem sechzehnten Jahrhundert eines privaten Sammlers werfen durfte. Anscheinend wurde darin das Erwachen und jähe Ende eines Chaosträgers beschrieben. James hatte noch nicht erfahren, ob das Manuskript die versprochenen Informationen tatsächlich enthielt.
Als das Handy fertig aufgeladen war, hatte er genau eine Nachricht von Diane. Ruf mich an, ich bin erreichbar. Gesendet um 21:44, vermutlich nur wenige Minuten nachdem James letzte Nacht seine E-Mail abgesetzt hatte.
Mit einem Seufzen legte er das Handy beiseite. Ewig konnte er sie nicht hinhalten. Aber bevor er Bericht erstattete, wollte er zumindest ein paar seiner wirren Gedanken sortieren. Und wenn es eins gab, dass ihm dabei half, klar zu denken, dann war es ein gutes Frühstück.
Also legte er sich ein Schneidebrett zurecht und wusch das Gemüse unter dem Wasserhahn. Er war dabei, die Paprika in mundgerechte Stücke zu schneiden, als Erin aus dem Bad kam. Ihre kurzen Haare waren feucht und lagen ihr wirr um den Kopf. Ihre Miene wirkte immer noch angespannt, aber ihre Wangen waren rosiger als gestern.
»Morgen«, grüßte James, als sie in die Küche trat.
»Morgen«, gab sie zurück. »Was wird das?«
»Katerfrühstück.« James schob die Paprikastücke in eine Schale und machte sich daran, die Petersilie zu hacken. »Was Frisches, ein paar Eier zum Sattwerden und ein ordentlicher Schub Chili.«
Erin schnaubte und lehnte sich an die Küchenzeile. »Du und der Gärtner, ihr habt’s mit Comfort Food, oder?«
James zuckte mit den Schultern. Sie hatte recht. Sami teilte James’ Liebe zu gutem Essen. Dass James gerade ein Rezept kochte, das Samis Mutter ihm beigebracht hatte, behielt er für sich. Er wusste vielleicht nicht, wie er sich bei Sami für all den Mist entschuldigen sollte, aber eine ordentliche Portion Qalayet Bandora würde hoffentlich die Wogen glätten.
Was Mrs. Hamid zu seinem Verhalten gegenüber ihrem Sohn sagen würde, wollte James sich lieber nicht zu genau vorstellen.
»Kochen beruhigt mich«, sagte James.
Darauf erwiderte Erin nichts. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, schien für den Moment jedoch weder fliehen noch streiten zu wollen.
»Wie geht’s dir?«, fragte er. »Konntest du schlafen?«
Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Wie ein Stein«, murmelte sie. »Ich habe schon lange nicht mehr so tief geschlafen. Ich habe nicht mal geträumt. Damit hatte ich nicht gerechnet.«
»Das ist gut.« James nahm sich eine der Zwiebeln, die in einem Korb neben dem Toaster lagen.
Erin strich unruhig über die Kante der Arbeitsfläche. »In dem ganzen Chaos –« Sie stockte, schüttelte den Kopf über ihre Wortwahl und fuhr fort: »Gestern ging alles so drunter und drüber, dass ich mich nicht mal bedankt habe. Ich schätze, wenn du nicht aufgetaucht wärst, wäre ich jetzt nicht mehr hier. Also, danke.«
»Mach dir keinen Kopf«, sagte James. »Wäre ich an deiner Stelle gewesen, wäre ich völlig ausgeflippt. Wenn du mich fragst, steckst du das Ganze ziemlich gut weg.«
Er öffnete einen der Hängeschränke und lächelte, als er die Gewürze noch immer an der gleichen Stelle vorfand. Sami und Mirabells WG war nicht sein Zuhause, aber sie fühlte sich vertraut an. Das erdete ihn genauso wie das Hacken von Kräutern oder der Geruch der frisch geschnittenen Paprika.
»Du hast mir immer noch nicht erzählt, warum du mich gerettet hast«, sagte Erin.
Was sollte er dazu sagen? Nüchtern betrachtet war Erin ein Experiment. Als er mit dem Sonnensiegel zurück nach London geflogen war, hatte er damit gerechnet, dass er das Artefakt über kurz oder lang testen musste. Vielleicht sollte er sogar froh sein, dass es derart früh passiert war – und dass das Siegel tatsächlich hielt, was es versprach, nämlich rohe Chaoskraft aus Menschen herauszufiltern.
Aber nichts an dem, was gestern passiert war, machte ihn froh. Erins unsäglicher Kontakt mit dem Chaos bestätigte nicht nur seine schlimmsten Befürchtungen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er auf eine Herausforderung zuschlitterte, der er noch immer nicht gewachsen war.
James wünschte sich, er könnte diese Angst ebenfalls in eine Bleikiste sperren.
Erin räusperte sich.
James schob die gehackten Zwiebelstückchen an den Rand des Brettes. »Was war die Frage?«
»Warum hast du mich gerettet?«
Weil ich mich verantwortlich fühle. Weil ich nicht noch einmal dabei zusehen kann, wie jemand vom Chaos aufgelöst wird.
»Ich will nur helfen, das ist alles.«
Erin schwieg, dann sagte sie leise: »Niemand will einfach nur helfen.«
Überrascht sah er sie an, aber sie mied seinen Blick. Sie hatte wieder die Arme verschränkt. Eine Schutzreaktion, begriff er. Und zwar eine, die Erin nicht erst seit gestern anwandte, da ging er jede Wette ein. Irgendetwas oder irgendjemand hatte dafür gesorgt, dass sie mit angelegter Rüstung durch die Welt ging.
»Die meisten Menschen haben keine Ahnung, dass die Chaos-Urkraft existiert«, sagte er. »Sie wissen nicht, was passieren kann, wenn sie ausbricht. Ich schon. Ich kann nicht einfach nur zusehen, während die Gefahr immer größer wird.«
»Wovon reden wir denn?«, fragte Erin. »Konkret, meine ich. Wie viele Menschen kann ein Chaosträger mit … mit Chaos anstecken, oder was auch immer er tut?«
Am Ende?, dachte James. Jeden einzelnen Menschen auf dem verdammten Planeten.
»Am Anfang nicht sehr viele«, sagte er. »Nur diejenigen, die in seiner unmittelbaren Nähe sind, wenn er einen Puls aussendet. Später, wenn die Chaoskraft in ihm anschwillt, werden es mehr.«
Diejenigen, die sich mit der Chaos- und Ordungslehre beschäftigten, waren sich einig, dass der Träger die Macht des Chaos in drei Phasen aussandte. Das, was James Erin beschrieb, waren nur die verhältnismäßig schwachen Wellen der ersten Phase. Was danach kam …
»Moment«, sagte Erin und löste sich von der Küchenzeile. »›In der unmittelbaren Nähe‹? Heißt das, ich bin dem Chaosträger begegnet?«
James nickte. »Ja.«
»Wann?«, fragte sie entsetzt.
»Vermutlich gestern«, antwortete James. »Vielleicht einen Tag vorher. Schwer zu sagen, wie lange es dauert, bevor sich die Ablagerung von Chaos in Menschen wie dir bemerkbar macht.«
»Warum ich? Warum hat er mir das Chaos eingeimpft?«
»Zufall, schätze ich.« Und weil er es nicht darauf beruhen lassen konnte, fügte er hinzu: »Und wahrscheinlich war es nicht einmal Absicht. Chaosträger wissen nicht unbedingt, was sie sind. Oder was sie anrichten. Zumindest am Anfang nicht.«
»Weißt du, wer es ist?«, fragte Erin. »Kennst du den Träger?«
»Nein.«
»Aber er ist ein Nachtbote?«
James hob eine Braue, und Erin zuckte mit den Schultern.
»Erscheint mir logisch«, erklärte sie. »Du hast gesagt, Nachtboten haben einen besonderen Draht zum Chaos.«
Sie sind die Kinder des Chaos, von Geburt gekennzeichnet als Herolde der Verdammnis. Das stand in einer weiteren von Dianes Quellen. »Stimmt«, gab er zu. »Und ja, die Träger, von denen wir wissen, waren alle Nachtboten.«
»Warum?«
»Warum was?«
Erin runzelte die Stirn. »Warum gibt es Chaosträger? Was wollen sie, was ist ihr Zweck?«
James unterdrückte ein Stöhnen. Erin legte den Finger zielgenau auf die Rätsel, an denen er knabberte, seit er alt genug war, seine eigene Existenz zu hinterfragen. Warum gibt es Nachtboten? Warum werden einige von ihnen zu wandelnden Brandherden der Zerstörung?
Er wünschte, er wüsste die Antworten. Er sollte sie kennen. Immerhin war das Chaos so alt wie das Universum – älter, wenn man es genau nahm. Da sollte es inzwischen einen Fundus an Forschung und Wissen geben, der die Urkräfte und ihre Boten erklärte. Aber so einfach war das nicht. Im Verlauf der Jahrhunderte hatten die unterschiedlichsten Menschen versucht, die sichtbare Welt und ihre unsichtbaren Einflüsse zu erklären. Mythologien, Religionen, wissenschaftliche Theorien: Jeder dieser Zweige strebte danach, eine Sprache zu finden, mit der die Menschen ihre Wirklichkeit in Worte fassen konnten. Doch jene Sprachen – ihre Begriffe, ihre Bilder – änderten sich ständig.
Man brauchte sich bloß anzuschauen, wie sich die Vorstellung von Chaos je nach Ort und Zeitalter verschob. In der Antike wurde es gerne als gähnender Abgrund unter oder über der Erde beschrieben. Als Gottheit mit dunklen Schwingen, die sich mit Eros paarte und die Vögel zur Welt brachte. Altägyptische Quellen verstanden Chaos als kosmisches Element, als Urwasser und Ort absoluter Finsternis. Bibel und Talmud beschrieben es als stürmisches Meer, das Seeschlangen und andere Monster hervorbrachte. Die Alchemie sah in ihm die rohe Materie, aus der alle anderen Elemente entstanden.
Der Wissensbaum verzweigte sich weiter und weiter, trieb Blüten in der Philosophie, Mathematik und Metaphysik. Nur eines blieb gleich: Menschen suchten unablässig nach dem Sinn des Lebens, dem Universum und des ganzen Rests.
Wenn man es so erzählte, klang es fast, als wäre diese Sinnsuche ein kreatives Unterfangen, das Menschen über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg vereinte. Dieses Idealbild löste sich jedoch in Luft auf, bedachte man all die Kriege, Gewalt und Unterdrückung, die immer dann losbrachen, wenn besonders überzeugte Gruppen die Vorherrschaft ihrer eigenen Wissens- oder Glaubensordnung zementieren wollten.
Was passierte also mit schöner Regelmäßigkeit? In ihrer Suche nach der »Wahrheit« verwarfen oder zerstörten Eiferer älteres Wissen, weil sie es für Aberglaube, Blasphemie oder gefährlichen Unsinn hielten. Archive, Bibliotheken, die Wissensbewahrerinnen und Bewahrer ganzer Kulturen wurden in Verruf gebracht, gefoltert, verbrannt, getötet oder in den Untergrund getrieben.
James vermutete, dass Unmengen an Wissen über Chaos und Ordnung, über Boten und Träger, über ihre Funktionsweise, ihren »Zweck«, verlorengegangen waren. Und genau deshalb fehlten ihm die wichtigsten Antworten. Er ging davon aus, dass die Quelle des Chaos in der Sphäre der Wahren Nacht lag – oder zumindest dicht an diese Sphäre grenzte. So hatte er es in Dianes Büchern gelesen, und es erschien ihm sinnvoll. Einige dieser Bücher behaupteten, dass Nachtboten Avatare waren. Fleischgewordene Erweiterungen der Wahren Nacht, die in der irdischen Sphäre der Menschen wandelten. Das Chaos durchdrang sie, genauso, wie es die Sphäre der Nacht durchdrang. Ging alles gut, verlieh die Chaoskraft Nachtboten besondere Talente, die sie kontrollieren konnten. Ging alles den Bach runter, dann überwältigte die Macht des Chaos einzelne Boten und strömte durch sie hindurch in die Städte, Straßen und Körper nichtsahnender Menschen.
Ja, diese Beschreibungen ergaben Sinn. Aber sie erklärten nicht das »Warum«.
»Ich weiß nicht, warum es Chaosträger gibt«, sagte James. »Ich weiß nur, dass sie eine Art Kanal oder Öffnung sind, durch die die Urkraft des Chaos in unsere Sphäre eindringen kann.«
»Um Menschen zu töten«, sagte Erin.
»Um das, was geordnet ist, aufzulösen«, sagte James. »So funktioniert Chaoskraft.«
»Um Menschen zu töten«, wiederholte Erin.
James seufzte. »Um alles auseinanderzunehmen«, gestand er. »Wenn das Chaos mit voller Wucht und ungebremst aus dem Träger strömt.«
Nun war Erin doch wieder grün um die Nase geworden. »Kann er, ich weiß nicht, kann er aufgehalten werden?«
James’ Rücken spannte sich an, und er spürte förmlich, wie seine Miene versteinerte. »Was meinst du damit?«
Erin biss sich auf die Lippe, vermutlich weil ihr ein »Kann man ihn töten« doch nicht so leicht aus dem Mund kommen wollte. »Wie schlimm wird es?«, fragte sie stattdessen. »Wenn er weitermacht?«
James legte das Messer beiseite. »Wenn das Chaoslevel in ihm weiter ansteigt, bekommen die Wellen, die er aussendet, mehr Reichweite. Irgendwann müssen diejenigen, die er beeinflusst, nicht mehr in seiner Nähe sein.«
»Und dann was? Dann erwischt er jeden x-beliebigen Menschen auf der Straße?«, fragte Erin. »Oder in ganz London?«
Als James nicht antwortete, weiteten sich ihre Augen. »Über London hinaus.«
James nickte.
»Wie weit darüber hinaus?«
James wandte sich wieder seinem Schneidebrett zu. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Erin setzte zum Protest an, aber er kam ihr zuvor. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich kenne nur Theorien und Berichte aus zweiter Hand. Die letzte bekannte Chaosträgerin wurde in den Neunzehnvierzigern in Nagasaki aktiviert.«
»Was ist mit ihr passiert?«
»Sie wurde ›aufgehalten‹«, sagte James mit einem bitteren Geschmack im Mund. »Und bevor du fragst, nein, ich weiß nicht, wie. Es gab nicht viele Berichte aus der Zeit, und von den Leuten, die vor Ort waren, hat niemand überlebt. Aus mehreren Gründen.«
Er nahm sich ein kleineres Messer und schnitt den Strunk aus der ersten Tomate. Natürlich wunderte es ihn nicht, dass Erins Gedanken sofort in Richtung »Tötet den Chaosträger« schossen. Nüchtern betrachtet war das eine nachvollziehbare Reaktion. Trotzdem ärgerte James ihr automatisches Todesurteil.
Ein paar Augenblicke lang sah Erin zu, wie er die Tomaten vorbereitete. »Woher weißt du das überhaupt alles?«, fragte sie schließlich. »Gibt es eine Schule für Nachtboten, oder was?«
»Nein«, sagte er knapp, atmete dann jedoch tief durch und bemühte sich, seinen Ärger zu dämpfen. Erin hatte eben erst erfahren, dass die Welt seltsamer und gefährlicher war, als sie geahnt hatte. Sie fürchtete sich. Und wie die meisten Menschen sah sie in dem, was ihr Angst machte, ein Monster.
»Was ich über Boten und Urkräfte weiß, habe ich zu Hause gelernt«, antwortete er.
»Und die Leute, die du kennst?«, hakte Erin nach. »Die mit den Antworten? Ist das so eine Art Netzwerk, ein Orden für Nachtboten?«
»Kein Netzwerk«, verneinte er. Netzwerke waren gefährlich. Zum einen bestand immer das Risiko, dass ein Mitglied geschnappt wurde und auspackte oder dass jemand entschied, die Namen der anderen freiwillig zu verraten. Außerdem brauchte es eine Menge an Ressourcen, um Netzwerke aufrecht zu erhalten. Ressourcen, die über die Jahrhunderte verfolgte Nachtboten nicht hatten. Zumindest, soweit James wusste. »Der Orden ist eine Ausnahme.«
Eine Ausnahme, und eine Plage. Gegründet im neunzehnten Jahrhundert, machte der Orden des Ersten Tages Nachtboten seitdem das Leben zur Hölle. Von Beginn an versammelte diese Vereinigung Menschen um sich, die den Tag und die Urkraft der Ordnung verehrten. Ihre Gründungsmitglieder – allesamt gewöhnliche, viktorianische Gentlemen, keine Boten – wählten den Sonnengott Helios als Symbol. Sie predigten eine Ideologie der Gegensätze, in der die Ordnung das Gute repräsentierte und das Chaos die Wurzel allen Übels. Die Nacht, die sie als Schwelle zum Chaos verstanden, war in ihren Augen der älteste und eindringlichste Schrecken, dem sich die Menschheit aussetzen musste. Finsternis und Dunkelheit stifteten nichts als Verwirrung, Verunsicherung und Versuchung. Sie ermöglichten und verbargen sündiges Treiben, suchten Menschen mit Albträumen und Ängsten heim und so weiter und so fort.
Die Einstellung des Ordens gegenüber Nachtboten war entsprechend … ablehnend, um es milde auszudrücken.
Im Laufe der Zeit verlegten die Mitglieder ihren Schwerpunkt vom Predigen aufs Handeln: Sie forschten nach Möglichkeiten, um die Kraft des Chaos unschädlich zu machen, und riefen gleichzeitig zur Jagd nach Nachtboten auf. Frei nach der Logik: Wenn sich das Chaos in nachtgeborenen Menschen Bahn bricht, dann sorgen wir dafür, dass es solche Menschen nicht mehr gibt.
An Geld und Ressourcen mangelte es dem Orden dank zahlungsstarker Mitglieder aus der englischen Oberschicht nie. Skrupel wiederum schienen in den Ordensregalien nicht vorzukommen.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts holte der Orden Tagboten mit ins Boot. Erwachsene Boten, die ihre Ideologie teilten. Kinder, die sie nach ihren Vorstellungen formen konnten.
James war sich der Parallele zwischen dem, was der Orden praktizierte und was seine eigene Adoptivmutter getan hatte, nur allzu bewusst. Auch Diane war keine Botin, hatte jedoch nachtgeborene Kinder bei sich aufgenommen, um ihnen beizubringen, ihre Talente zu beherrschen. Anders als dem Orden lag ihr allerdings auch daran, ihre Kinder zu beschützen. Und sie adoptierte nur Waisen. Der Orden hatte in seinen Hochphasen sowohl nacht- als auch taggeborene Kinder entführt. Die einen, um sie als Versuchsobjekte zu missbrauchen. Die anderen, um sie zu indoktrinieren.
Tagboten innerhalb des Ordens arbeiteten als Jäger. Als Kämpfer, die ihre Talente gegen Nachtboten einsetzten. Ob ihre Gegner wirklich eine Gefahr darstellten oder nicht, war oft Nebensache.
Neben allem anderen wärmte der Orden damit eine Rivalität zwischen den Boten auf, die zuvor nahezu in Vergessenheit geraten war. Natürlich waren sich Tag- und Nachtboten schon früher an die Gurgel gegangen. Wie viele Menschen tendierten sie zu einem Denken in »wir« und »die anderen«. Doch der letzte belegte Konflikt zwischen Tag- und Nachtboten fand im Spanien des dreizehnten Jahrhunderts statt. Dann kam die Inquisition und jagte wahllos Boten beider Ausrichtung. Da hatte der Wunsch, sich gegenseitig umzubringen, schnell keine Priorität mehr.
Vielleicht kamen die Boten damals auf den Trichter, dass sie mehr einte, als sie trennte. James wollte das gerne glauben. Zumindest wusste er, dass es über die Jahrhunderte hinweg mehrere friedliche Koexistenzen gegeben hatte. Mitunter schlossen Tag- und Nachtboten Freundschaften, verliebten sich, gingen andere Formen der Partnerschaft ein.
Soweit James wusste, hatte dieser Frieden auch im guten alten England erstaunlich lange angehalten. Bis der Orden sich einmischte und Boten gegeneinander aufwiegelte.
Eine Plage, wie schon gesagt.
Erin verzog das Gesicht. »Super. Also ist eine Geheimgesellschaft hinter mir her. Ich glaube, ich hätte gestern doch die blaue Pille schlucken sollen.«
James lachte, er konnte nicht anders. »Das wird schon«, sagte er. »Du kannst immer noch ein normales Leben führen, auch wenn du über die Matrix Bescheid weißt. Sami schafft das auch.«
Wieder nagte Erin an ihrer Unterlippe. »Bin ich das denn noch? Normal?«
Wer entscheidet denn bitte, was »normal« ist?, hörte James Leons Stimme in seinem Kopf. Warum sind die anderen »normal« und nicht wir?
»Wie fühlst du dich denn?«, fragte James. »Spürst du irgendwas Ungewöhnliches, wenn du in dich hineinhörst?«
Erin schnaubte. »Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung. Momentan fühle ich mich so nervös wie eine Nacktschnecke in einem Ameisenhaufen.«
James schmunzelte. Dafür, dass Erin nichts von Witzen hielt, hatte sie einen ziemlich guten Galgenhumor. »Soll ich noch mal versuchen, deine Aura zu lesen?«
Ihr Blick war beinahe hoffnungsvoll. »Kannst du das wieder?«
James rieb sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab. »Finden wir es raus.«
Dieses Mal zögerte sie nicht. Sie schob ihm die Hand über die Arbeitsfläche hinweg hin. Er hob seine Hand über ihre, berührte sie jedoch nicht. Wenn seine Batterien sich über Nacht aufgeladen hatten, sollte es so funktionieren.
Falls nicht, dann steckte er in echten Schwierigkeiten.
Er hielt seine Hand gerade so dicht über Erins Handrücken, dass er die Wärme ihrer Haut spüren konnte. Zuerst geschah rein gar nichts. Kein warnendes Prickeln, keine Gänsehaut. Entweder Erin war clean, oder James’ Sinne waren immer noch beeinträchtigt, oder …
Er spürte etwas. James runzelte die Stirn, starrte ins Leere. Ein Gefühl strich über seine Handfläche, sanft, zitternd, wie die Flügel eines Falters. Die Berührung verschwand, kehrte zurück, kribbelte warm wie die Spitze einer Brennnessel an der Innenseite seines Handgelenks und verklang wieder.
»Hm«, machte James und zog seine Hand zurück.
»Hm?«, wiederholte Erin. »Was heißt ›hm‹?« Ihr Gesicht wurde blass. »Hast du Chaos gespürt?«
»Nein«, sagte er. »Nein, das nicht. Aber deine Aura ist merkwürdig.«
Sofort wich sie einen Schritt zurück.
»Es kein Chaos«, beharrte er schnell. »Das hätte ich erkannt, versprochen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob das, was ich aufgeschnappt habe, ein richtiger Teil von dir ist. Vielleicht ist es nur etwas, dass der Chaosdunst beim Austritt hinterlassen hat. Ich weiß auch nicht, so was wie Blütenstaub, der auf einem Auto landet? Kann gut sein, dass das bald verfliegt.«
»Aber sicher bist du nicht.«
»Nein«, gab er zu. »Tut mir leid.«
Erin stieß einen Fluch aus und ließ sich zurück an die Küchenzeile sacken.
»Gib mir noch ein bisschen Zeit, dann fange ich an zu telefonieren«, sagte James. »Dann können wir zumindest sicherstellen, dass der Orden dich nicht aufspürt.«
»Klasse«, erwiderte sie geknickt. »Dann muss ich mir nur noch wegen meiner ›merkwürdigen‹ Aura Gedanken machen.«
»Und wegen der Apokalypse«, rutschte es ihm heraus.
Der Blick, den er dafür abbekam, war nichts weniger als episch. Dann jedoch schüttelte Erin den Kopf und löste ihre Arme. »Du hast echt ein Rad ab, oder?«
»Geht nicht anders«, sagte er. »Man muss ein bisschen durchgeknallt sein, um mit diesem ganzen Mist klarzukommen.«
Sie schnaubte. »Ja, den Eindruck bekomme ich auch so langsam.« Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Arbeitsfläche. »Also, was machen wir jetzt?«
»Frühstück«, antwortete James prompt. »Danach rufe ich die Person an, die uns mit dem Orden weiterhelfen kann.«
»Könnte die auch was über meine Aura wissen?«
James nahm eine Pfanne vom Haken über der Arbeitsfläche. »Kann sein«, sagte er. »Aber kannst du mir erst einen Gefallen tun?«
Sie nickte, und er lächelte.
»Hol mir bitte fünf Eier aus dem Kühlschrank, ja?«