Nach dem Frühstück saß James in Samis Schlafzimmer, in einem Sessel mit Blick über die Dächer der Nachbarhäuser. Kühle, feuchte Luft wehte durch das offene Fenster, und graue Wolken kündigten Regen an.
James gab dem Fenster einen Schubs, um es weiter zu öffnen, und hielt sich dabei das neue Handy ans Ohr.
»Immerhin wissen wir jetzt, dass das Sonnensiegel Chaoskraft aus normalen Menschen herausziehen kann«, sagte Diane.
Wir wissen auch, dass das Siegel Nachtboten schwächt, dachte James. Darauf herumzureiten, würde jedoch nichts bringen. Wenn Diane einmal ein Ziel vor Augen hatte, ließ sie sich nicht durch Nebensächlichkeiten ablenken. James war am Leben, alles andere war verkraftbar.
»Das stimmt«, sagte er. »Nur gibt es keine Garantie, dass das Siegel dieselbe Wirkung auf den Chaosträger haben wird.«
»Da hast du leider recht«, bestätigte Diane. »Und wir müssen ohnehin mehr erreichen, als die Chaosenergie aus ihm herauszufiltern. Wir brauchen etwas, das den Träger deaktiviert. Dass ihn von der Quelle des Chaos abschneidet oder zumindest die Schleuse schließt, die sich in ihm geöffnet hat.«
»Ich weiß«, sagte James. »Aber das Siegel war das Einzige, was ich finden konnte.«
»Wenn wir nur mehr Zeit hätten«, klagte Diane. »Die Spur, die du in der Türkei gefunden hast, klingt vielversprechend. Vielleicht ist das Sonnensiegel nicht das einzige Artefakt, das in der Gegend versteckt wurde. Bist du sicher, dass dir deine Kontaktleute alles erzählt haben, was sie über Chaosträger und mögliche Nacht- und Tagmythen wissen?«
»Garantiert nicht«, sagte James. Er war jedoch überzeugt, dass Remzi und Ipek ihm nicht mehr anvertrauen würden. Zumindest nicht, bevor er ihnen bewiesen hatte, dass er das Sonnensiegel wirklich dazu benutzen wollte, eine Chaosflut abzuwenden.
»Wenn du noch ein paar Wochen geblieben wärst …«
»Wir brauchen das Siegel in London«, unterbrach James. »Vielleicht ist es nicht die Lösung all unserer Probleme, aber es ist das Beste, was wir jetzt haben. Und wie du selbst gesagt hast, uns läuft die Zeit davon. Wahrscheinlich gibt es jetzt schon weitere Opfer der ersten Phase.«
Darum war er überhaupt zurückgekehrt: Die Chaosflut schien Fahrt aufzunehmen. Nachdem zwischen dem ersten Opfer des Chaoszerfalls und dem zweiten mehrere Monate gelegen hatten, hatte Diane nun innerhalb von zwei Wochen von drei weiteren Fällen erfahren. Und das waren nur die Toten, die im Netzwerk von Dianes Kontaktleuten registriert worden waren. Die Dunkelziffer konnte viel höher sein.
Mehr noch: Die kurzen Intervalle zwischen den Todesfällen deuteten darauf hin, dass die ersten Wellen der Flut schneller und weiter um sich griffen. Mit jedem Tag, der verstrich, würde London zu einem gefährlicheren Ort werden.
Weshalb James schon längst die Menschen hätte warnen müssen, die ihm vertrauten. Er hätte Sami gegenüber offen sein müssen. Schon bevor er abgehauen war, aber definitiv, nachdem Diane ihm das Foto des ersten Opfers gezeigt hatte. Die Vorstellung, wie Sami oder einer seiner anderen Freunde starr in der Luft hing und vergeblich auf Hilfe wartete, hockte James seit letzter Nacht im Nacken.
Und dann war da noch Nyx, die noch nichts von der Bedrohung wusste.
Er würde sie anrufen. Er musste sie anrufen.
Gott, es wurmte ihn, dass er Angst davor hatte, mit Nyx zu sprechen. Doch die Wahrheit war: Er schämte sich. Nyx und er hatten einander versprochen, nie wieder nach Dianes Pfeife zu tanzen. Wie würde Nyx reagieren, wenn er ihr von ihrer Allianz erzählte?
»Bisher habe ich nur von den drei Fällen gehört, die ich dir weitergeleitet habe«, sagte Diane. »Wobei, wenn wir das Mädchen von letzter Nacht dazurechnen, sind es vier. Trotzdem sollten wir noch ein wenig Spielraum haben, um den Träger zu finden und uns eine Strategie zu überlegen.«
»Was heißt ›ein wenig‹?«
Diane schnalzte mit der Zunge. »Wir sind einfach nicht gut genug vorbereitet«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, dass wir mittlerweile herausgefunden hätten, wie man die Chaosflut aufhalten kann. Aber jedes Mal, wenn wir einen Schnipsel an Information finden, stehen wir danach mit mehr Fragen da als vorher.«
Yep, da ließ sich nichts beschönigen. James lehnte den Kopf zurück und beschloss, dass er Diane genauso gut das letzte Päckchen aufschnüren konnte. »Erin besitzt eine merkwürdige Aura.«
Diane schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Definiere merkwürdig.«
Frustriert beugte James sich vor, stützte sich mit dem Unterarm auf seinen Knien ab. »Ich kann es nicht gut beschreiben, aber ihre Ausstrahlung fühlt sich anders an als alles, was ich kenne. Da ist ein Hauch von Nachtenergie, aber er mischt sich mit einem Gefühl, das ich sonst nur bei Tagboten bekomme.«
»Ist Erin eine Tagbotin?«
»Nein.« James schüttelte den Kopf, mehr für sich selbst als für Diane. »Nein, Tagboten fühlen sich an wie … wie Mittagswärme oder Sonnenbrand. Erin ist einfach nur verwirrend. Und sie fühlt sich jetzt schon anders an als letzte Nacht. Als ich sie zuerst bemerkt habe, habe ich nur Chaos an ihr gespürt. Heute Morgen hatte sie eine ganz sachte, aber unruhige, schwankende Ausstrahlung. So etwas ist mir noch nie untergekommen.«
Diane überlegte. »Vielleicht ist ihre neue Aura entstanden, weil sie sowohl von der Kraft des Chaos als auch der Kraft der Ordnung berührt wurde? Das Chaos des Trägers und die Tagenergie des Siegels könnten eine Resonanz in ihr hinterlassen haben.«
»Wird das wieder abklingen?«
»Ich weiß es nicht.« Wieder schwieg Diane, bevor sie hinzufügte: »Ich kenne keine anderen Fälle, in denen ein normaler Mensch von hochkonzentrierter Chaoskraft durchdrungen wurde und das überlebte. Wenn Josephine mich noch mal ins Archiv des Ordens lassen würde, könnte ich vielleicht mehr herausfinden. Aber momentan will ich dort nicht anklopfen. Wenn die Agenten des Ordens London durchkämmen, müssen wir davon ausgehen, dass sie über das Auftauchen des neuen Chaosträgers Bescheid wissen.«
James verzog den Mund. Josephine war ein Ordensmitglied und eine von Dianes heimlichen Verbündeten. Immer, wenn Diane ihre Verbindung zum Ersten Tag erwähnte, fühlte James sich, als würde er in eine saure Zitrone beißen. Diane war bereits vor Jahren aus dem Orden ausgetreten, kurz bevor sie James und die anderen adoptierte. Das hatte sie nie verheimlicht. Zudem ließ sie keinen Zweifel daran, dass sie den Orden für einen fanatischen Kult hielt, den sie ausbremsen wollte, wo immer es ihr möglich war. Dennoch, das Wissen, dass Diane früher an die Ideologie des Ordens glaubte, hatte eine Kerbe in James’ Achtung vor ihr geschlagen.
Eins musste er Diane jedoch lassen: Ihr Insiderwissen über den Orden hatte ihnen schon mehrere Male den Hintern gerettet.
»Der Agent, der uns angriff, war jedenfalls nicht überrascht, dass Erin mit Chaoskraft geflutet worden war«, sagte er. »Und garantiert hat er uns nicht zufällig im richtigen Moment gefunden. Kann es sein, dass er mich bereits verfolgte, bevor ich Erin bemerkt habe?«
»Beschreib ihn mir«, forderte Diane ihn auf.
»Dunkles Haar, hellbraune Haut, Narbe an der linken Augenbraue. Trägt sein Sakko Miami-Vice-Style.«
»Und er kann Sonnenfackeln heraufbeschwören und Elektrogeräte überhitzen«, ergänzte Diane mit gepresster Stimme. »Das klingt nach Rohan Bhaskar. Er ist einer der erfolgreichsten Auftragsjäger des Ältestenrats.«
»Natürlich ist er das«, brummte James. »Meinst du, der Orden weiß, woran wir arbeiten?«
»Ich hoffe nicht, aber ab jetzt müssen wir wohl noch vorsichtiger sein. Ich werde mich umhören und herausfinden, ob der Orden tatsächlich Jagd auf dich macht.«
Wundervoll. James richtete sich auf und rieb sich über seine Handfläche, die sich nach der Handyexplosion immer noch gereizt anfühlte.
»Hast du bereits darüber nachgedacht, ob der Orden es auf das Mädchen abgesehen haben könnte?«, fragte Diane.
Ja, die Befürchtung nagte an James. Doch die Möglichkeit, dass dieser Bashkar James jagte und Erin sozusagen ins Kreuzfeuer gestolpert war, wäre eigentlich logischer. »Warum?«, fragte er. »Was könnten sie von ihr wollen?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Diane. »Vielleicht ist der Orden auf der Suche nach Opfern des Chaosverfalls. Josephine hat mal durchklingen lassen, dass ihre Forschungsabteilung eine Methode entwickeln wollte, durch die sie Menschen mit einem hohen Level an Chaoskraft über weite Entfernungen orten können. Das wäre hilfreich.«
James schauderte. »Wenn wir das könnten, ja. Aber wenn der Orden diese Fähigkeit bekommt?« Er ließ die Frage offen. Die Vorstellung, dass der Orden ein Langstreckenradar für die Jagd von Nachtboten entwickelte, wanderte ohne Umwege in sein Arsenal an Albträumen. Doch noch während er sich dieses Horrorszenario durch den Kopf gehen ließ, kam ihm eine Idee.
»Hm, ja, ich verstehe, was du meinst«, gab Diane zu. »Das wäre in jedem Fall ungünstig. Momentan haben wir allerdings das konkrete Problem, dass der Orden den Träger auf keinen Fall vor uns finden darf. Sie würden ihn, ohne zu zögern, hinrichten.«
Das wusste James nur zu gut. Tatsächlich hätte er zumindest eine Frage von Erin mit einem klaren Ja beantworten können: Man konnte Chaosträger töten. Der Orden hatte das in der Vergangenheit mehrmals bewerkstelligt, genauso wie einige andere Fanatiker oder verzweifelte Menschen im Sog einer Chaosflut, die sonst keinen Ausweg sahen. Das war mit ein Grund, warum James mit Diane zusammenarbeitete. Sie war darauf aus, eine Alternative zu finden. Einen Weg, die Flut zu stoppen, ohne den Menschen, der sie unfreiwillig aussandte, umzubringen.
Das Problem war nur: Diane suchte seit über zwanzig Jahren nach ihrer Alternative, und obwohl sie mehrere Theorien hatte, war noch keine davon erprobt. Jetzt war ein Träger erwacht, dessen Identität sie nicht kannten, und ihnen lief die Zeit davon.
»Ich hätte vielleicht eine Idee, die uns weiterhelfen könnte«, sagte James.
»Oh?«
James zögerte.
»Ich kenne eine Person, die uns womöglich mit dem Orten des Trägers helfen kann.«
»Und wer ist diese ›Person‹?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Also ein Nachtbote«, mutmaßte Diane. »Einer der Freunde, deren Identität du mir nicht verraten willst.«
Darauf erwiderte James nichts. Er vertraute Diane, aber die Geheimnisse anderer Leute würde er nicht mit ihr teilen. Und die Identität von im Verborgenen lebenden Nachtboten gehörte definitiv in diese Kategorie.
»Und warum hast du diese mysteriöse Person nicht schon längst kontaktiert?«, fragte Diane, nur um sich sofort selbst zu antworten. »Oh, ich verstehe. Weil du jetzt etwas hast, was dir vorher gefehlt hat. Ein Mädchen mit einer von Chaos berührten Aura. Dein Freund oder deine Freundin kann Spuren von Botenenergie zu ihrer Quelle zurückverfolgen, oder?«
Wieder schwieg James, aber Dianes messerscharfe Kombinationsgabe entlockte ihm ein widerwilliges Lächeln.
»Kennt der Orden deine Kontaktperson?«, fragte Diane.
»Nein«, antwortete James. »Oder zumindest sollten sie nichts von … dieser Person wissen.«
»In Ordnung«, sagte Diane. »Finde heraus, ob du mit deiner Idee weiterkommst. Aber pass auf, dass du und das Mädchen unter dem Radar fliegen.«
»Natürlich.« Er zögerte, dann sagte er: »Sie wird Hilfe brauchen. Falls der Orden tatsächlich hinter ihr her ist.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach Diane.
James hörte das Klicken eines Sicherheitsgurts, dann wurde eine Autotür geöffnet und geschlossen. Er rechnete damit, dass Diane den Anruf beenden würde, doch stattdessen fragte sie: »Dir geht es gut, oder? Das Siegel hat dir keinen ernsthaften Schaden zugefügt?«
James hob überrascht die Brauen. »Ja, ich bin okay«, antwortete er und war überrumpelt davon, wie belegt seine Stimme klang. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sich gewünscht, Diane würde ihn in den Arm nehmen, ihn trösten oder festhalten. Er hatte gedacht, er hätte dieses Bedürfnis längst abgelegt. Doch sein Herz schien hartnäckiger zu sein als sein Kopf.
Als Diane erneut das Wort ergriff, war ihr Tonfall wieder komplett sachlich. »Gut. Ich muss auflegen. Ruf mich an, sobald du deine Theorie getestet hast. Und lass das Mädchen nicht aus den Augen.«
Mit diesen Worten legte sie auf. Mit einem müden Stöhnen sank James in den Sessel. Für ein paar Sekunden starrte er einfach nur aus dem Fenster. Am Horizont, irgendwo nahe der Themse, zogen dunkle Wolken Regenschleier über die Stadt.
James rieb sich über die Augen, dann hob er sein Handy, um Nyx anzurufen. Er hatte den Bildschirm kaum entsperrt, als das Telefon losbrummte. Zuerst dachte er, es wäre Diane, die noch weitere Anweisungen hatte. Doch stattdessen zeigte das Display die Info »Unbekannte Nummer«. James zögerte, dann nahm er den Anruf an. Mit dem Handy am Ohr wartete er darauf, dass die andere Person sich zuerst meldete. Stattdessen drang jedoch ein Weißes Rauschen aus dem Lautsprecher. James runzelte die Stirn. Das Geräusch war leise, aber wenn er genau hinhörte, klang es beinahe wie Wind. Oder Wellen, die über einen Kiesstrand glitten. Atmete da jemand? Ein vages Gefühl der Beunruhigung kroch wie kalte Hände unter den Saum von James’ Henley. Er öffnete den Mund, um den Namen des Anrufers zu verlangen, da verklang das Rauschen, und eine Stimme sagte:
»Hey, Jay Bird.«
James’ Hand erschlaffte, und das Handy fiel klappernd zu Boden.