Neapel | Ein Jahr zuvor
Kurz nach neun Uhr morgens kehrte James zu der Wohnung des Pärchens zurück, auf dessen Couch er derzeit schlief. Über den Dächern der Altstadt kreisten Möwen, und die ersten Läden zogen die Gitter vor ihren Auslagen hoch.
Seit zwei Wochen befand er sich in Italien, arbeitete in der Küche eines Hotels und verbrachte die Nächte mit den anderen Aushilfen am Strand.
In einem Monat wollte er weiterziehen, eine Fähre nach Split besteigen und von dort aus weiter nach Griechenland reisen. Er hatte vor, Nyx’ Heimatinsel zu besuchen und ihr ein Päckchen mit getrockneten Ringelblumen zu schicken. Als er jedoch die Piazza in der Nähe seines Quartiers betrat, wusste er, dass er seine Pläne in den Wind schießen konnte.
Sie hätte eine Halluzination sein können. Als James sie an dem Cafétisch entdeckte – eine weiße Frau in einem weißen Anzug, mit übereinandergeschlagenen Beinen und einer großen Sonnenbrille vor den Augen –, wünschte er sich nichts sehnlicher als das.
Aber Diane war hier. Vier Jahre nachdem James den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Vier Jahre, in denen er sich ein Leben aufbaute, das sich nicht an ihre Pläne für ihn hielt. Er wollte seine Vergangenheit abschütteln. Wollte wissen, wer er war, wer er werden konnte. Ohne Dianes Anleitung. Ohne das Gewicht der schrecklichen Erinnerungen, das auf seine Schultern drückte, wann immer er in Dianes Gesicht schaute.
Er hatte geglaubt, er könnte sich neu erfinden. Er hätte es besser wissen müssen.
Diane saß auf der anderen Seite des Tisches und sah zu, wie James die Akte aufschlug, die sie ihm hingelegt hatte.
James blätterte durch den Inhalt. Es war ein Wunder, dass seine Finger nicht zitterten. Sein Blick flog über Zeitungs- und Arztberichte, blieb an einzelnen Wörtern wie »katatonisch«, »Nekrose« und »Hirntod« hängen. Ein Laborfoto rutschte zwischen den Kopien der Berichte heraus, und die Abbildung darauf traf James wie ein Schlag ins Genick. Das Foto zeigte das Gesicht einer Frau, einer Toten, um deren leere Augenhöhlen sich ein Netz aus schwach sichtbaren, hellen Adern abzeichnete.
James starrte auf das Obduktionsfoto. Er wollte den Blick abwenden, die Akte zuschlagen, konnte sich jedoch nicht bewegen.
»Wo?«, fragte er. »Wo sind diese Leute gestorben?«
»In London.«
Hitze breitete sich unter James’ Kragen aus, kroch seinen Nacken hinauf und drang in seine Wangen. Ein Chaosträger war in London erwacht. Sofort blätterte sein Gedächtnis durch die Bilder all der Freunde, die er in London zurückgelassen hatte.
»Ich weiß von zwei Fällen«, sagte Diane. »Zwei Menschen, die an einem Chaoszerfall gestorben sind. Sie«, sie tippte auf das Foto, »war die Erste.«
James’ Blick klebte an den silberhellen Adern auf den Wangen und der Stirn der toten Frau.
Schau weg. Schau weg, verdammt nochmal.
Endlich schaffte er es, den Kopf zu heben und die Akte zu schließen.
»Warum zeigst du mir das?«, fragte er Diane. Erstaunlich, wie ruhig seine Stimme noch klang. »Was erwartest du von mir?«
Diane hob eine perfekt gezupfte Braue. »Das weißt du«, sagte sie. »Ich will die Chaosflut aufhalten. Ich brauche deine Hilfe.«
James stieß die Akte von sich weg. Wenn er könnte, würde er sie in Flammen aufgehen lassen. »Und wie willst du das anstellen?«, fragte er. »Was hast du vor? Willst du den Chaosträger jagen? Ihn töten?«
Diane verzog das Gesicht. »Du weißt, dass ich die Methoden des Ordens ablehne«, sagte sie. »Und ich bin nicht darauf aus, irgendjemanden zu töten.« Sie schüttelte den Kopf, und ihr Ton wurde einen Hauch milder. »Jeder Nachtbote verdient eine Chance. Auch diejenigen, die zu Trägern werden. Wenn ich das nicht glauben würde, hätte ich weder dich noch Nyx oder Leon bei mir aufgenommen.«
James presste die Lippen aufeinander und ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken. Jeder Nachtbote verdient eine Chance. Er hätte Diane gerne gesagt, was er von diesem Satz hielt. Was er von dieser Einstellung hielt. Die »Chance« von der sie so großzügig sprach, brauchten Nachtboten nur, weil ihnen von Anfang an das Etikett »vorbelastet und gefährlich« angeheftet wurde. Was man getrost als Vorverurteilung einstufen konnte. Für diese Diskussion hatte James jedoch weder die Kraft noch die Nerven.
»Vor neun Jahren hattest du keine Ahnung, wie man einen Chaosträger rettet«, sagte er. »Was hat sich geändert?«
Dianes Mund zuckte zwar, aber so leicht ließ sie sich nicht aus der Bahn werfen. »Ich hatte bei meinen Nachforschungen einen Durchbruch«, sagte sie. »Letztes Jahr. Wenn die Informationen, die ich gesammelt habe, stimmen, dann gibt es eine Möglichkeit, um Chaosträger vom Abgrund zurückzuholen.«
Ein Abgrund zwischen den Sternen, schwärzer als eine lichtlose Nacht … ein Funkeln wie von Irrlichtern in Leons Augen …
James’ Mund war mit einem Mal staubtrocken.
Diane redete weiter, ohne zu bemerken, was ihre Wortwahl bei ihm ausgelöst hatte. »Wir wissen, dass der Chaosträger wie eine Schleuse zwischen der Quelle der Chaoskraft und unserer Welt funktioniert. Scheinbar lässt sich diese Schleuse schließen, und man kann sogar die überschüssige Chaoskraft, die sich im Körper des Trägers aufgestaut hat, ableiten.«
»Wie soll das gehen?«
Frustriert lehnte sich Diane gegen ihre Stuhllehne. »Ich weiß es noch nicht. Ich habe mehrere Anhaltspunkte zusammengetragen, die auf spezielle Artefakte hindeuten –«
»Artefakte«, unterbrach James mit einem spröden Lachen. »Was, wie der Heilige Gral oder die Sankara-Steine?«
Diane runzelte die Stirn. »Die Witze kannst du dir sparen. Es gibt einige Fragmente und Berichte, in denen antike Gegenstände erwähnt werden, die Nacht- und Tagenergie nutzen oder manipulieren können. Das ist nichts Neues für dich.«
James knirschte mit den Zähnen, erwiderte jedoch nichts. Diane fuhr fort: »Im letzten Jahr habe ich über Umwege einen Kontakt mit einer Archäologin hergestellt, die sich auf Sonnenkulte in bronzezeitlichen Kulturen spezialisiert hat.«
Sie blätterte durch die Akte und zeigte ihm ein Foto von antiken Münzen, die mit einem Blumenmotiv geprägt worden waren.
»Sie ist keine Botin, aber sie weiß über euch und eure Geschichte Bescheid. Sie hat mir glaubhaft versichert, dass sie von einem Gegenstand weiß, der bei der Entschärfung eines Chaosträgers im zwanzigsten Jahrhundert vor Christus zum Einsatz kam. Ich hatte vor, sie selbst aufzusuchen und die Spur des Gegenstands weiterzuverfolgen. Aber jetzt sieht es danach aus, als ob ein Chaosträger in London aktiviert wurde, und mir läuft die Zeit davon.«
»In welchem Stadium ist der Träger?«, fragte James. »Braucht er noch körperliche Nähe, um Chaoskraft zu übertragen, oder ist sein Radius schon größer?«
»Ich vermute, wir stehen am Anfang der Flut«, antwortete Diane. »Bisher scheint es nur zwei Todesfälle zu geben. Vielleicht dauert es noch Jahre, bevor die Chaoskraft genug im Träger ansteigt, um umfassendere Wellen auszuschicken.«
James schauderte. »Oder es passiert innerhalb der nächsten Wochen.«
Drei Phasen, erinnerte er sich. Die erste Phase kündigte sich durch Wetteranomalien an, die der Großteil der Bevölkerung ignorierte oder allenfalls als seltsam empfand. In diesem Stadium beeinflusste der Chaosträger zunächst vereinzelte Menschen und überschwemmte schließlich ganze Massen mit Chaoskraft, die sie von innen heraus auflöste.
In der zweiten Phase sorgte die freigesetzte Kraft für unberechenbare Temperaturschwankungen, Wetterverschlechterung und Witterungsextreme bis hin zu katastrophalem Unwetter. Tiere reagierten besonders stark auf diese Phase. Ein Zeugenbericht aus dem achtzehnten Jahrhundert sprach von einem Massensterben der Bienen, aggressiven Hunden und Tausenden toter Fische, die an den Strand gespült wurden. Die Zahl der Menschen, die durch einen Chaoszerfall starben, stieg in dieser Phase ins Unermessliche.
Städte, die in die Strömung der zweiten Phase gerieten, verschwanden für immer von der Bildfläche. Wenn sich im Nachhinein noch jemand an sie erinnerte, wurde ihre Zerstörung Vulkanausbrüchen, Sturmfluten, Erdbeben oder anderen, menschengemachten Katastrophen zugesprochen. Orobiai, Helike, Phalasarna, Meroë, Kumbi Saleh, Roanoke: alles Orte, die Gerüchten zufolge von einer Chaosflut in die Knie gezwungen oder ganz ausgelöscht worden waren. Was genau zum Ende der zweiten Phase geschah, wie sich jene Städte leerten, wie sie zerfielen, darüber stritten sich die Geister.
Augenzeugenberichte aus dieser Phase einer Chaosflut gab es kaum, entweder, weil auch sie vernichtet wurden, oder weil schlicht niemand mehr übrig blieb, um Berichte zu schreiben. Die wenigen Quellen, die Diane hatte auftreiben können, beäugte sie skeptisch. Einige waren höchstwahrscheinlich Fälschungen. Phantasievolle Beschreibungen von jemandem, der sich nie auch nur in der Nähe einer Chaosflut aufgehalten hatte. Andere Texte waren komplett unverständlich, durchsetzt mit Worten, die in keiner Sprache existierten, mit Sätzen, die sich wie eine Ouroboros-Schlange umeinanderdrehten, und Bildbeschreibungen, die zwar verstörend, aber völlig sinnfrei daherkamen. Ein überlieferter – und womöglich irgendwann falsch übersetzter – Satz lautete zum Beispiel: Ich habe das Chaos unerkannt. Es atmet. Was auch immer das bedeuten sollte.
Das endgültige Schreckgespenst war jedoch Phase drei. Chaoswellen, die in diesem Stadium ausströmten, lösten nicht nur Menschen und Gebäude auf, sondern jegliche Materie. Jene Wellen machten an keiner Stadtgrenze oder Gebirgskette halt. Sie breiteten sich über den gesamten Erdball aus und zersetzten ihn Millimeter für Millimeter, ribbelten ihn auf wie einen alten Pullover und verwandelten seine Fasern in staubfeine Partikel.
Die dritte Welle war ein Ende. Eine Singularität. Das Gegenteil des Urknalls.
Aber das ist nie passiert, hatte James in der Unterrichtsstunde gesagt, in der Diane ihm und den anderen die Phasen der Chaosflut erklärt hatte. Die Welt ist noch nicht untergegangen.
Soweit wir wissen, hatte Diane geantwortet. Gut möglich, dass das Chaos unsere Welt schon ein paarmal aufgelöst und die Ordnung sie neu zusammengesetzt hat. Aber natürlich hat in dem Fall niemand überlebt, um Erfahrungen aus der Apokalypse weiterzugeben.
Nach diesem Austausch war James mehrere Tage lang umhergegangen und hatte Treppengeländer, Tische, Nyx, Leon und ihre Nanny berührt, nur um sicherzugehen, dass sie sich nicht plötzlich unter seinen Fingerspitzen auflösten. Damals war er zwölf gewesen.
»Deshalb bin ich hier«, sagte Diane und riss ihn aus seinen Gedanken.
James’ Blick fiel auf die braune Akte. »Du willst, dass ich dir helfe«, sagte er. »Du willst, dass ich dir dieses Artefakt besorge. Das Ding, das Chaosträger aufhält, ohne sie zu töten?«
»Ja«, bestätigte Diane ohne Umschweife. »Von jetzt an muss ich die Lage in London überwachen. Ich habe bereits angefangen, nach dem Chaosträger zu suchen. Aber ihn zu finden, wird uns nichts bringen, wenn wir ihn nicht entschärfen können.« Sie zog eine zweite Aktenmappe aus ihrer Tasche und schob sie über den Tisch. »Hier drin sind Informationen zu einer Ausgrabung in Tel Aviv und die Kontaktdaten der Archäologin.«
Sie nickte in Richtung der Akte, doch James zog die Hände vom Tisch. Diane stieß die Luft durch die Nase aus, dann seufzte sie. »Hör zu. Ich weiß, dass du und Nyx wütend auf mich seid. Wahrscheinlich ist das sogar fair, aber Fairness spielt in dieser Situation keine Rolle.«
Sie tippte mit den Fingerspitzen auf den Tisch, eine ungeduldige Geste, die sie sich angewöhnt hatte, nachdem sie mit dem Rauchen aufgehört hatte. »Ich habe versucht, euch euren Freiraum zu lassen«, sagte sie. »Aber du weißt, dass es früher oder später auf das hier hinauslaufen musste. Du und Nyx, ihr habt eine Aufgabe. Ob ihr es wollt oder nicht: Ihr habt besondere Fähigkeiten in die Wiege gelegt bekommen. Es liegt in eurer Verantwortung, denen zu helfen, die diese Fähigkeiten nicht haben. Die sich nicht wehren können, wenn die Katastrophe über sie hereinbricht.«
Unter der Tischplatte, wo Diane es nicht sehen konnte, ballte James seine Hände zu Fäusten. Jedes ihrer Worte knüpfte eine Schlinge, die sie ihm um den Hals legte.
Besondere Fähigkeiten. Ja, die wurden ihnen in die Wiege gelegt. Aber es waren keine Fähigkeiten, die sie automatisch für einen Kampf rüsteten. Seine Dunkelheit war ein Schutzmantel. Nyx glättete Träume. Leon ließ Sterne tanzen. Nichts davon machte sie zu Kriegern. Soldaten, wie Sami es ausdrückte.
Nein, es war Dianes Ehrgeiz, ihre Überzeugung, dass sie Nachtboten dazu ausbilden konnte, sich gegen das Chaos zu wehren, die sie auf einen Weg der Konfrontation schickte. Und sie hatten bereits einmal verloren.
Mit einem Ruck stand er auf und trat vom Tisch zurück, bevor Diane ihn aufhalten konnte.
»Ich brauche einen Moment für mich.«
Im Toilettenraum des Cafés spritzte James sich kaltes Wasser ins Gesicht. Danach drehte er den Wasserhahn ab und stützte sich mit gesenktem Kopf auf den Waschbeckenrand.
Er könnte abhauen. Sich durch die Küche des Cafés nach draußen schleichen, seine Sachen einsammeln und die Stadt verlassen. Er könnte Diane zurücklassen und so lange vor ihr fliehen, bis sie aufgab.
Er hob den Kopf und begegnete seinem eigenen Blick im Spiegel. Es war seine Entscheidung, trotz allem. Für ein paar Sekunden war der Wunsch zu verschwinden so stark, dass er bereits den Rucksack auf seinen Schultern spüren konnte. In Gedanken stieg er in einen Zug und wartete darauf, dass die Landschaft vor dem Fenster vorbeizog.
James starrte in seine eigenen Augen, dann zog er seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche und holte das Foto heraus, das darin steckte. Auf dem Bild waren er und Leon fünfzehn, Nyx vierzehn. Nyx stand ganz links, mit eingezogenem Kopf aber breitem Lächeln. Leon zeigte der Kamera lachend zwei Finger. James stand in der Mitte und hatte seine Arme um die beiden gelegt.
Mit einem Kloß im Hals drehte er das Foto um. Auf der Rückseite stand in verblassender Tinte und Leons Handschrift: Puppy, Eulchen und Jay Bird.
James presste die Lippen aufeinander, senkte den Kopf und schloss die Augen. Tränen brannten hinter seinen Lidern.
Es liegt in deiner Verantwortung. Diane hatte recht, aber nicht so, wie sie dachte.
Er erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, Leon und Nyx im Arm zu halten. Er hatte den Klang von Leons Lachen im Ohr. Spürte, wie Nyx’ Haar an seinem Hals kitzelte. Der Sommer hatte sich lang vor ihnen ausgestreckt, endlose Tage, an denen sie die Beine in den Pool steckten, Kartons mit Eis aus Pablos Gefriertruhe stahlen oder bei Vollmond durch die Tür gingen, die Nyx für sie verzaubert hatte. Sie hatten keine Sekunde lang gezweifelt, dass Sommer auf Sommer auf Sommer folgen würde, hatten sich ihre Zukunft wie eine aufregende Reise voller Möglichkeiten vorgestellt.
Es tut mir leid, Leon, dachte James. Es tut mir so verdammt leid. Und obwohl er die Erinnerung ruhen lassen wollte, hörte er seine eigene, jüngere Stimme, die verzweifelt schluchzte: Komm zurück. Komm zurück. Komm zurück.
Was passiert war, konnte er nicht wiedergutmachen. Aber er konnte sich auch nicht abwenden, während sich die Vergangenheit wiederholte.