Nyx

Das Rätsel des Potpourrigeruchs löste sich, als Ingleby seine Trance vorbereitete. Während Nyx die Jalousien vor den Fenstern herunterließ, stellte Ingleby eine Keramikschale mit Myrtenkranzmuster auf den Tisch und füllte sie mit einem Stück Kohle und einer Handvoll harzähnlicher Klümpchen. Er hatte die Klümpchen kaum ausgepackt, und schon wurde der muffige Pflanzengeruch im Raum stärker.

Nyx setzte sich auf den freien Stuhl schräg gegenüber von Ingleby. Das ganze Set-up erinnerte sie an eine altmodische Séance, wie sie in Filmen wie The Others gezeigt wurden. Kein beruhigender Gedanke.

Ingleby nahm ein Stabfeuerzeug und hielt die offene Flamme so lange in die Schale, bis die Kohle anfing zu glühen und ein dünner Rauchfaden von den hellgelben Harzklumpen aufstieg. Jetzt konnte Nyx den Geruch zuordnen – es war Weihrauch.

Ingleby legte das Feuerzeug beiseite. »Sie haben mir einen Opferkuchen mitgebracht?«, fragte er Birdie.

Birdie zog eine Papiertüte aus ihrem Lederrucksack und legte einen kleinen Kuchen auf den Tisch. Es war ein pastel de nata, was man in London in so ziemlich jedem Kettencafé bekam.

Ingleby schmunzelte amüsiert. Er legte das Törtchen auf den schmauchenden Weihrauch und bedeckte es mit dem Strauß aus getrockneten Kräutern, den er aus seinem Schreibtisch gefischt hatte. Das Räucherwerk in der Schale knisterte, und ein

Ingleby wedelte sacht mit der Hand über der rauchenden Schale. »Stellen Sie Ihre Frage.«

Birdie verschränkte ihre Hände so fest auf dem Tisch, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Wer ist der Chaosträger?«

Ingleby wedelte weiter rhythmisch mit der Hand, bis die Rauchwolken weißer und dicker aus der Schale emporquollen. Seine Lider senkten sich herab, während er erklärte: »Wir werden unseren Geist gemeinsam im Zustand der Trance verbinden. Wenn alles funktioniert, können wir unsere Energien vereinen und sehen jeweils eine eigene Vision.«

Der Rauch breitete sich aus und ließ die Luft dick wie Sirup werden. Ingleby hielt Nyx seine Hand hin, und nach kurzem Zögern griff sie danach.

»Kleine Vorwarnung«, sagte er. »Das kann sich für den Laien etwas desorientierend anfühlen.«

Das sagst du mir jetzt, dachte Nyx, hielt seine Hand jedoch weiter fest. Der zähe Rauch drang ihr in die Nase und brannte in ihren Augen. Was nun?

»Versuchen Sie, ruhig zu atmen«, sagte Ingleby. »Schließen Sie die Augen und erlauben Sie der Dunkelheit, Ihre Wahrnehmung auszufüllen. Sinken Sie hinein in die Schwärze, folgen Sie ihr nach Hause. Die Nacht ist Ihre angestammte Sphäre. Sie gehen nach Hause. Sie öffnen den Weg, Sie gehen nach Hause, Sie gehen …«

… nach Hause.

Nyx sank allein durch die Dunkelheit. Es fühlte sich an wie ein langes Ausatmen, während der immer gleiche Lockruf in ihren Ohren murmelte.

Nach Hause.

NACH HAUSE.

Die letzte Wiederholung traf sie wie ein Donnerschlag. Nyx schlug die Augen auf. Sie stand auf einer Straße, vermutlich in London, auch wenn sie den genauen Ort nicht erkannte. Links und rechts von ihr ragten moderne Häuser mit auf antik gemachten Fassaden in die Höhe. Platanen säumten die Straße, die sich wie ein Ypsilon vor einem Bürogebäude teilte.

Zu ihrer Beunruhigung stellte Nyx fest, dass sie sich kaum bewegen konnte. Ihr Körper war eigenartig schwerfällig, und ihr Kopf brauchte viel zu lang, um das, was sie sah, zu verarbeiten. Nichtsdestotrotz kratzte etwas am Rand ihres Bewusstseins, wie ein ängstliches Tier. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

Nyx war allein. Hier parkten keine Autos, niemand ging den Gehweg entlang, und die Fenster der umliegenden Häuser starrten schwarz und blicklos auf sie herab. Nacht lag über der Stadt, doch obwohl keine einzige Straßenlaterne leuchtete, kroch ein seltsamer violetter Schimmer die Wände der Häuser herunter.

Mühsam richtete Nyx ihren Blick nach unten. Ein Wimmern kroch über ihre Lippen. Hunderte Vögel lagen tot auf dem Asphalt. Tauben, Spatzen, Elstern. Sie lagen da mit gebrochenen Flügeln, verdrehten Hälsen und eingedrückten Köpfen.

Nyx kämpfte gegen die Starre ihrer Glieder an und sah nach oben. Ein unstetes Leuchten wogte über den Himmel. Die Wellenformen erinnerten Nyx an Nordlichter, nur dass dieses Lichtspektakel die Tönung von frischen Blutergüssen hatte: blau, lila, rot. Glühende Flüsse, die jemand mit einem nassen Pinsel auf den Himmelsbogen gezeichnet hatte.

Nyx öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus. In der Ferne ertönte ein dumpfes Grollen. Noch war es weit entfernt, doch was auch immer das Geräusch auslöste, musste

Ein neuer Windstoß stob durch die Häuserflucht. Das Murmeln wurde lauter. Tatsächlich klang es wie Sand, der eine schräge Ebene hinunterrauschte. Nyx’ Blick hing noch immer an dem versehrten Himmel über ihrem Kopf. Je länger sie hinsah, umso weniger wirkte es, als ob es über den Himmel glitt. Nein, das Licht drang durch Risse im Firmament und leuchtete hinter dem Himmel.

Nyx starrte auf die Fissuren – Bruchlinien, Linien, an denen die Realität auseinanderbricht – und dachte an leuchtende Nebel, Quellwolken, die sich auftürmten und ausdehnten. Sterne auf der Schwelle zur Explosion. Galaxien, die sich auflösten.

Es hat begonnen.

Das Rauschen dröhnte lauter und lauter in Nyx’ Ohren. Sie zwang ihren Kopf zur Bewegung, bis sie das Bürogebäude vor sich sehen konnte. Das Dach des Hauses schien zu flimmern. Winzige Lichter glommen in der gekachelten Fassade auf, Hunderte, Tausende, Millionen von ihnen, bis das Gebäude wie eine Fackel strahlte. Donner krachte, das Haus erlosch und löste sich auf. Es zerfiel, zerbröselte zu dunklem Staub, den der Wind davontrug.

Nyx blieb gefangen, eine hilflose Beobachterin, während sie innerlich mit allem, was sie hatte, gegen das Gefängnis ihres Körpers trommelte.

Lass mich raus, lass mich raus.

Sie spreizte die Finger, verzog den Mund zu einer Grimasse und zwang ihren Blick weiter nach unten. Der Verfall hatte die Straße bereits erreicht. Asphalt zerkrümelte, brach ein, rauschte in glimmenden Partikeln nach unten in einen klaffenden Abgrund. Nein, kein Abgrund. In einen Mahlstrom, einen

Im Herz des Strudels wartete vollkommene Dunkelheit. Nyx sah es mit Schrecken und bemerkte gleichzeitig, dass sie nicht mehr stand, sondern schwebte. Die Spitzen ihrer Schuhe zeigten nach unten, doch ihr Körper blieb steif wie ein Brett.

Etwas tauchte aus dem Dunkel am Boden des Vortex auf. Ein Licht. Ein Komet, der nach oben fiel. Das Leuchten kletterte höher und höher, bis Nyx die Sternengestalt aus ihrem Gemälde erkannte. Nur, dass die Gestalt nicht mehr aus einem bloßen Umriss bestand: Das Wesen, das aus der Tiefe emporstieg, war vollständig aus Sternenstaub gemacht. Es besaß kein Gesicht, aber einen menschlichen Körper, durchscheinend und erfüllt von wirbelnden Lichtpunkten.

Es trieb direkt auf Nyx zu, das Gesicht zu ihr erhoben, als wäre es eine Spiegelung auf einem See. Wieder streckte das Wesen die Hand aus. Nyx wollte fliehen, doch zu ihrem Grauen hob sich ihr eigener Arm, und ihre Hand reckte sich nach unten. Das Sternenwesen stieg höher, beinahe berührten sich ihre Fingerspitzen.

In jenem Augenblick wusste Nyx, wer es war. Während der Vortex in ihr wie ein Sturm um seine eigene Achse brauste, hörte Nyx das Gelächter von Kindern und das Bellen eines Hundes. Sie sah das Honiglicht einer Küche am Abend, schmeckte den salzig-süßen Geschmack von Erdnussbutter-Marmeladen-Broten in ihrem Mund. Sie spürte die schrecklich kalte Haut eines toten Körpers an ihrer Handfläche.

Komm nach Hause, flüsterten die Sterne.

Nyx sprang auf, stieß ihren Stuhl um und stolperte mehrere Schritte blind durch Inglebys Büro. Der beißende Rauch der

Birdie sprang an ihre Seite. Nyx ergriff ihre Arme und stützte sich auf sie. Sie musste sich festhalten, sie wollte nicht wieder abstürzen, nicht zurück in die Dunkelheit, in den Abgrund, nie wieder.

»Hey, hey, alles in Ordnung«, beschwichtigte Birdie sie mit bebender Stimme.

Die Jalousien schnellten mit einem lauten »Ritsch« nach oben, und grelles Licht flutete den Raum. Nyx hielt sich schützend die Hand vor die Augen, hörte jedoch, wie jemand ein Fenster aufriss. Ein Schwall kühler Luft brandete durch die Rauchschwaden.

»Was ist passiert?«, rief Birdie.

Nyx klammerte sich an sie. Sie hatte keine Wahl, sie brauchte einen Rettungsring, sonst würde sie ertrinken. Die Vision wirbelte ihr Verständnis von Ort und Zeit durcheinander. Wenn sie die Augen schloss, war es, als ob die Bilder der Zerstörung auf den Rückseiten ihrer Lider flackerten. Während ihrer Ausbildung bei Diane hatte Nyx Zeugenberichte und hypothetische Abhandlungen über Chaoswellen gelesen. Doch in ihrer Trance hatte sie den Zerfall der Welt erlebt. Sie hatte die Macht der letzten Welle gespürt, und die Auslöschung war … unabwendbar. Allumfassend.

Birdie drückte Nyx’ Unterarme. »Bitte sag was!« Sie wandte sich an Ingleby. »Was hat sie? Was haben Sie mit ihr gemacht?«

Mit Mühe sah Nyx sich nach Ingleby um. Das Gesicht des Professors war aschgrau. Mit einer zitternden Hand fuhr er sich durch das schüttere Haar. »Eine Vision von solcher Intensität … wie ist das möglich? Ich habe noch nie …« Er brach ab, und sein Blick flog zu Nyx. »Haben Sie ihn gesehen? Den Jungen mit den hellen Haaren?«

Vor ihrem inneren Auge sah Nyx die Hand aus Sternenstaub,

Leon. Leon Leon Leon.

Nyx spürte, wie der Zimtknoten von heute Mittag ihre Kehle hinaufdrängte, und floh aus dem Büro.