Zehn Minuten später saß Nyx in einem der Labyrinthflure in Inglebys Gebäudetrakt. Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand, direkt neben den Toilettenräumen. Der Boden unter ihr war steinhart, obwohl er mit einem braunen Teppich beklebt war.
Nyx war es egal. Tatsächlich halfen ihr der feste Untergrund und die schmucklosen Betonwände. Je länger sie hier saß, umso besser gelang es ihr, sich aus dem Horror ihrer Vision zu befreien. Die Szenen, denen sie ausgeliefert gewesen war, rückten in die Ferne. Ihre Panik ebbte ab.
Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass sie den Anblick eines untergehenden Londons verkraften konnte. Mit Abstand betrachtet wandelten sich der zerrissene Himmel und die zerfallenden Häuser zu surrealen Szenen, die eher zu Science-Fiction-Filmen passten. Nicht zur Realität.
Das Einzige, was sie nicht von sich schieben konnte, was ihr unter der Haut steckte wie ein Angelhaken, war die Sternengestalt. War es wirklich Leon gewesen? Mittlerweile bröckelte ihre Gewissheit, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass jener menschliche Schemen etwas mit ihrem Bruder zu tun hatte. Wieso sonst hatte sie als Erstes an seinen Namen gedacht? Aber hieß das, dass das Gemälde von letzter Nacht auch an Leon geknüpft gewesen war? Und dann war da noch Ingleby, der in seiner Vision einen Jungen mit hellen Haaren gesehen hatte. Leons Haare hätten die Farbe einer Sternschnuppe, das hatte Nanny Lu einmal gesagt.
Was geht hier vor?, dachte Nyx hilflos. Was bedeutet das alles?
Sie lehnte den Kopf an die Wand und starrte zur Decke, bis sich von rechts Schritte näherten. Kurz darauf setzte Birdie sich neben Nyx.
Nach einer Weile sagte Nyx: »Bin überrascht, dass du mir keine Flasche Wasser gebracht hast.«
Birdie warf ihr einen Seitenblick zu. »Hättest du gerne eine Flasche Wasser?«
»Nein, lass gut sein.« Nyx lächelte matt, dann beugte sie sich vor und stützte ihren Kopf auf ihre Hände. Dieser verdammte Tag mutierte zu einem absoluten Desaster. Wenn sie am Vormittag geahnt hätte, was auf sie wartete, wäre sie einfach im Bett geblieben.
»Eins muss man Ingleby lassen«, sagte Birdie. »Er ist noch viel arroganter, als Nan ihn beschrieben hat.«
Nyx schnaubte und lehnte sich wieder zurück an die Wand. »Hat er den Mord an Nachtboten wirklich als kleineres Übel bezeichnet?«
»Mh-hm«, machte Birdie. »Was ihn in dieselbe Kategorie wirft wie den zwielichtigen Zauberer in jedem Fantasyepos.«
»Ein arroganter Esel und ein Klischee«, sagte Nyx. »Starke Leistung.«
Birdies Mundwinkel zuckten, bevor sie Nyx sacht mit der Schulter anstieß. Die Berührung fühlte sich genauso erleichternd an wie der frische Luftzug in Inglebys stickigem Büro. Nyx hatte keine Ahnung, wie Birdie das anstellte, aber momentan hatte sie nicht die Kraft, ihr Verhalten oder ihre Motivation zu hinterfragen.
»Ich glaube, wir haben ein verdammt großes Problem«, sagte sie. Dann erzählte sie Birdie alles, was sie in ihrer Vision gesehen hatte. Nur Leons Namen erwähnte sie nicht. Den brachte sie einfach nicht über die Lippen.
»Du meinst, dieser Sternenmann hat sich wie der Chaosträger angefühlt, den du kanntest?«, hakte Birdie nach.
Nyx nickte.
»Aber wenn dir die Vision gezeigt hat, was uns jetzt bedroht, dann kann es nicht dieselbe Person sein, oder? Du hast gesagt, er …«
»… ist gestorben.« Nyx schluckte. »Ja. Vielleicht hat mir die Vision den neuen Träger gezeigt, und mein Unterbewusstsein hat ihn mit … mit dem Jungen verknüpft, den ich kannte.«
»Einem Jungen mit hellen Haaren?«
Wieder nickte Nyx.
Frustriert schüttelte Birdie den Kopf und schob sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich hatte gehofft, Ingleby hätte Antworten für uns. Aber jetzt ist alles noch verwirrender. Mist. Ich habe keine Ahnung, wie wir den Träger finden sollen.«
Das versetzte Nyx dann doch einen Stich. »Warum willst du ihn finden? Was wirst du mit ihm machen?«
Dianes Quellen listeten ein paar Einzelfälle, in denen Träger abgefangen wurden, bevor sie die letzte Chaoswelle lostreten konnten. Die meisten fanden genau das Ende, das Ingleby in seiner nonchalanten Rede erwähnt hatte. Lediglich von einer Frau wurde berichtet, die das Eingreifen mit klarem Verstand überlebte. Sie verbrachte den Rest ihrer Tage in einem abgesperrten Zimmer unter Dauerbetäubung, bewerkstelligt von einer Sekte, die nur minimal weniger rabiat war als der Orden des Ersten Tages.
Würde Nyx wirklich dazu beitragen, dass dem jetzigen Träger etwas Derartiges widerfuhr?
»Wenn ich ihn finde, werde ich ihm helfen«, sagte Birdie. »Hoffentlich.«
»Hoffentlich?«
»Mit einer Sache hatte Ingleby leider recht«, gestand Birdie. »Es gibt keine Garantie, dass die Methoden, die Nan mir beigebracht hat, funktionieren. Sie hat einen Träger vom Abgrund zurückgeholt, als sie jung war, aber andere Seherinnen haben ihre Schützlinge verloren.«
Das brachte Nyx auf einen anderen Gedanken. »Du weißt schon, dass du dich selbst in Gefahr bringst, wenn du dich dem Träger näherst? Wenn er genügend aufgeladen ist, infiziert er andere mit seiner Ausstrahlung. Nachtboten können das eine Weile lang aushalten, aber Menschen zerlegt diese Übertragung in kürzester Zeit.«
Als Antwort hob Birdie ihre tätowierte Hand. »Dafür habe ich diese Schutzzeichen«, erklärte sie. »Wenn ich sie aktiviere, sollten sie mich eine Weile vor Chaosstrahlung beschützen.«
»Wie lang ist ›eine Weile‹?«
»Lange genug?« Birdie seufzte. »Für mich war diese ganze ›Begleite den Träger‹-Sache bisher nur Theorie. Ich meine, ich weiß, was ich tun muss. Ich kenne die einzelnen Schritte. Aber die Chance, dass ich es vermassele … Es steht verdammt viel auf dem Spiel.«
»Du willst wirklich die Welt retten«, sagte Nyx.
»Du nicht?« Birdie rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Aber um ehrlich zu sein, will ich einfach diesen Jungen finden, bevor ihn das Chaos überwältigt. Kannst du dir vorstellen, wie viel Angst er hat? Wahrscheinlich versteht er nicht mal, was gerade mit ihm passiert.«
Nyx betrachtete Birdie. Die kleine Falte zwischen ihren Augen und den verkniffenen Zug um ihren Mund. Zum ersten Mal zeigte sie, wie sehr sie die ganze Situation belastete. Sie wollte nicht nur die Menschheit beschützen. Sie wollte dem Jungen beistehen, der in diesem Moment zu einer wandelnden Zeitbombe mutierte.
Nyx glaubte ihr. Vielleicht war das naiv. Vielleicht Wunschdenken. Aber was hätte sie nicht alles dafür gegeben, wenn jemand Leon geholfen hätte.
Wie sehr sie sich wünschte, dass sie diese Person gewesen wäre.
»Wir sollten zu Ingleby zurück«, sagte Birdie. »Er ist das Orakel. Wenn in euren Visionen irgendein tieferer Sinn steckt, dann soll er ihn uns erklären.«
Nyx nickte, hatte jedoch sofort einen bitteren Geschmack im Mund. Wenn sie Erklärungen wollte, musste sie Ingleby von Leon erzählen.
Als sie zurückkehrten, saß Ingleby an seinem Schreibtisch und kritzelte in ein Notizbuch. Vermutlich hielt Ingleby seine Visionen in Worten fest wie sie die Träume anderer mit Bildern.
Birdie schloss die Tür, doch Ingleby beachtete sie nicht. Stattdessen blätterte er hektisch durch ein zweites, ebenfalls handbeschriebenes Buch und murmelte vor sich hin.
»Professor?«, fragte Birdie. »Wir müssen über die Visionen reden. Was haben Sie gesehen? Gab es irgendwelche Hinweise auf den Chaosträger?«
»Ich ging davon aus, dass wir am Anfang der ersten Phase stehen«, sagte Ingleby, ohne den Kopf zu heben. »Aber jetzt?«
Nyx und Birdie tauschten einen Blick, dann trat Birdie auf Ingleby zu. »Professor«, wiederholte sie. Dieses Mal zuckte er zusammen und hob den Kopf. »Sie wirken erschüttert«, sagte Birdie. »Warum? Sie haben doch bereits geahnt, dass eine Chaosflut droht?«
»Erschüttert«, wiederholte Ingleby. »Ja, das trifft es wohl.« Er warf seinen Stift auf das Notizbuch und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Es ist viel schlimmer, als ich befürchtet habe. Was ich soeben gesehen habe, sagt mir, dass die Wellen der ersten Phase längst ausfächern. Höchstwahrscheinlich sind bereits Dutzende Menschen vom Chaosverfall dahingerafft worden. Womöglich sind es sogar weitaus mehr.«
»Hätten wir das nicht in den Nachrichten gehört?«, fragte Nyx.
Ingleby stand auf und schüttelte den Kopf. »Falls die Opfer gefunden werden, werden die Ärzte rationale Erklärungen für ihre Tode finden. Herzinfarkte, Hirnaneurysmen, Nekrose, dergleichen. Sie werden es in die Akten eintragen und die Toten schnell vergessen. Und es wird keine Zeugen geben, nicht in diesem Stadium der Apokalypse! Gewöhnliche Menschen meiden Orte, an denen Personen vom Chaos überwältigt werden. Sie wählen einen anderen Weg nach Hause, verlassen U-Bahnsteige, um mit einer alternativen Linie zu fahren, all das. Sie wissen nicht warum, sie denken nicht darüber nach. Nicht jetzt, nicht, solange sie es noch ignorieren können. Ihr Verstand weigert sich, das wahrzunehmen, was nicht in ihre Wirklichkeit passt.«
Unwillkürlich dachte Nyx an den Toten auf der Bank und daran, wie leer der Park gewesen war. Vielleicht war doch mehr im Spiel als eine verzögerte Lunch Crowd.
Ingleby kam hinter seinem Schreibtisch hervor, lief zum Fenster und kehrte wieder zurück. Er war nicht nur beunruhigt, er hatte völlig die Fassung verloren.
»Ich begreife nicht, warum mir der Fortschritt der Flut nicht schon früher aufgefallen ist«, klagte er. »Ich hätte es bemerken müssen. Und selbst jetzt! Selbst heute konnte ich den Chaosträger nicht klar erkennen.«
»Aber sie haben ihn gesehen?«, hakte Birdie nach.
Ingleby warf ihr einen Blick zu, dann griff er sich sein Notizbuch. »Ich habe einen Jungen mit weißen Haaren gesehen, der aus der Wahren Nacht auf mich zukam.« Er starrte auf seine Notizen, dann ruckte sein Kopf nach oben, und sein Blick fixierte Nyx. »Was haben Sie gesehen?«
Gänsehaut strich über Nyx’ Nacken. Eben hatte sie Ingleby von Leon erzählen wollen, doch etwas an seinem aufgebrachten Zustand hielt sie davon ab. »Etwas Ähnliches«, antwortete sie ausweichend.
»Können Sie uns irgendeinen Anhaltspunkt über die Identität des Jungen geben?«, fragte Birdie. »Haben Sie sein Gesicht gesehen, sein Alter erkannt, irgendwas?«
Mit einem Stirnrunzeln überflog Ingleby seine Notizen. »Sein Gesicht blieb mir verborgen.« Er klang entrüstet. Als würde er die Unklarheit seiner Vision als persönliche Beleidigung auffassen. »Er war einen halben Kopf kleiner als Sie, hatte kurze Haare, eine schlanke Gestalt. Und etwas war seltsam an ihm. Da war ein Schleier von Verwirrung und Aufruhr, der ihn einhüllte und an ihm zu zerren schien.«
»Er ist der Chaosträger«, sagte Nyx. »Verwirrt und geplagt zu sein sind automatische Symptome, oder?«
Ingleby presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Das ergibt alles keinen Sinn! Die Energie, die er ausstrahlte – es fühlte sich an, als hätte er sich lange Zeit auf der Schwelle zwischen der irdischen Sphäre und der Wahren Nacht aufgehalten.« Ingleby ging auf und ab und redete immer schneller. »Er trat aus der Nacht heraus in die Straßen von London. Ich habe gespürt, woher er kam. Aber das ist unmöglich. Kein Mensch, nicht mal ein Nachtbote, kann in die Wahre Nacht übertreten. Nicht mit seinem physischen Körper. Er würde sich im Moment des Übergangs selbst zerstören.«
Nyx kämpfte darum, ein ausdrucksloses Gesicht beizubehalten. Beinahe hatte sie vergessen, wie ungewöhnlich ihr Talent war. Türen zur Wahren Nacht zu öffnen war ihr schon immer leichtgefallen. Diane hatte lange Zeit auch nicht geahnt, dass sie das konnte. Später, als sie den Beweis dafür bekommen hatte, hatte sie Nyx nicht nur verboten, ihre Fähigkeit einzusetzen. Sie hatte ihr auch eingeschärft, niemandem jemals von ihren Türen zu erzählen.
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wo sich der Chaosträger aufhält?«, fragte Birdie beharrlich nach. »Haben Sie einen Ort in Ihrer Vision erkannt?«
Ingleby schien die Fragen abzuwägen, bevor er antwortete. »Ja«, sagte er knapp, bevor er sich an Nyx wandte. »Warum sagen Sie uns nicht, welchen Ort Sie gesehen haben?«
Nyx dachte an die toten Vögel und schlang ihre Arme um sich. »Es war irgendwo in der Stadt, glaube ich. Ein Geschäftsviertel vielleicht. Da waren Bürogebäude und mindestens ein Restaurant.«
»Hat der Ort irgendeine Bedeutung für Sie?«, fragte Ingleby.
»Nein«, antwortete Nyx überrascht. »Warum sollte er?«
»Ich wette, wir können herausfinden, wo das ist«, sagte Birdie.
»Vielleicht«, sagte Ingleby. »Aber damit ist es nicht getan. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob der Träger sich jetzt dort aufhält, ob er früher einmal dort war oder in Zukunft dort sein wird. Dafür müsste ich mich in eine neue Trance versenken und die Bilder genauer studieren.«
Bei der Erwähnung einer weiteren Trance zog Nyx ihre Arme fester um sich. Birdie bemerkte es.
»Ich glaube, wir können mit dem arbeiten, was wir haben«, sagte sie. »Danke, Professor. Ich denke, wir–«
Sie brach ab und blickte an Ingleby vorbei zum Fenster.
»Was ist los?«, fragte Nyx.
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Birdie. »Mir war, als hätte sich etwas im Licht draußen geändert. Komisches Gefühl. Als ob ein Sonnenstrahl über ein Grab wandert, weißt du, was ich meine?«
Nyx hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie redete. Aber der abwesende Blick in Birdies Augen verpasste ihr auch so eine Gänsehaut.
»Wir sollten besser gehen«, sagte sie. »Es gibt jemanden, den ich anrufen muss.«
»Mh«, machte Birdie, immer noch abgelenkt von der obskuren Lichtveränderung oder was auch immer sie gerade wahrnahm. »Ja. Ja, wir sollten los.«
Sie wandten sich schon zur Tür, als Ingleby bemerkte, was sie vorhatten.
»Was?«, platzte es aus ihm heraus. »Nein, nein, warten Sie! Wir haben eben erst an der Oberfläche gekratzt! Wir können mehr herausfinden. Ich brauche nur eine kleine Pause, dann können wir uns in die nächste Trance versenken.«
»Ich passe«, sagte Nyx und öffnete die Tür.
Hinter ihr verabschiedete sich Birdie von Ingleby. »Wir sind wirklich dankbar für Ihre Hilfe, aber ich denke, ich werde selbst nach ein paar Zeichen Ausschau halten. Vielleicht genügen die Informationen, die Sie und Nyx gesammelt haben, schon, damit ich den richtigen Ort ausfindig machen kann.«
»Nein!«
Überrascht drehte Nyx sich um. Ingleby umklammerte sein Notizbuch mit beiden Händen und starrte sie an. Hatte er Angst? Vor was bitte?
Nyx wechselte einen Blick mit Birdie, die allerdings nur ratlos den Kopf schüttelte und Nyx in Richtung Tür schob.
»Gehen wir«, murmelte sie.
Sie waren kaum auf den Flur hinausgetreten, als Ingleby ihnen hinterherstürmte.
»Nein!« Er stieß Birdie grob beiseite und packte Nyx am Arm. »Sie dürfen nicht gehen!«
Nyx wollte ihn abschütteln, aber sein Griff war erstaunlich fest. »Sie verheimlichen etwas vor mir«, beschuldigte er sie. »Über den Jungen, über Sie selbst. Was ist es?«
Nyx riss sich los. »Fassen Sie mich nicht an.«
Birdie trat mit geballten Fäusten an Nyx’ Seite. »Was soll das?«
Ingleby hörte ihr gar nicht zu. »Ich habe es gespürt. In dem Augenblick, in dem Sie mit mir in die Trance versunken sind. In Ihnen lauert eine große Unruhe. Eine Kraft.«
Er hatte seinen Satz kaum beendet, als Birdie scharf die Luft einsog. »Nyx, wir müssen gehen. Sofort!«
Nyx wich einen Schritt zurück, und Ingleby kam ihr nach.
»Was ist Ihre Fähigkeit?«, zischte er. »Was können Sie anrichten?«
»Nyx!«, drängte Birdie. »Wir–«
»Kein Wunder, dass Ihr Name auf seiner Liste stand«, sagte Ingleby.
Nyx erstarrte. »Wovon reden Sie?«
Ein nervöses Lächeln verzerrte seinen Mund. »Glauben Sie wirklich, dass ich das Erwachen des Trägers einfach so hingenommen habe? Ich habe den Orden alarmiert, nachdem ich sein Wirken das erste Mal gespürt habe.«
Nyx’ Augen weiteten sich. »Sie haben den Orden alarmiert?« Noch während sie das fragte, hallten seine vorherigen Worte in ihren Ohren. Ich habe gehört, dass Nachtboten aus London verschwinden.
»Natürlich habe ich das«, bestätigte Ingleby. »Und sie waren sehr interessiert, als ich ihnen von Ihrem anstehenden Besuch bei mir schrieb.«
Nyx fehlten die Worte. Wie angewurzelt stand sie da, bis Birdie ein gezischtes »Verdammt« ausstieß und gegen ihren Rücken prallte. Nyx fuhr herum und sah den Flur hinunter.
Zwei breitschultrige Männer kamen auf sie zu, angeführt von einer Frau mit schulterlangen roten Haaren und Sonnenbrille. Der Siegelring an ihrem kleinen Finger verriet Nyx alles, was sie wissen musste. Die Agentin des Ersten Tages lächelte, während sie näher kam, und die Verwirrung, die Nyx eben noch gespürt hatte, verschwand schlagartig.
Plötzlich war Ingleby hinter ihr und schlang beide Arme um sie.
»Es tut mir leid, dass ich Sie hintergehen musste«, sagte er. »Aber ich werde garantiert nicht riskieren, dass London vom Chaos überflutet wird.«
Birdie wirbelte herum, und ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Sie verdammter Mistkerl!«
»Sagen Sie mir, was Sie wissen«, zischte Ingleby in Nyx’ Ohr. »Jetzt, bevor sie es aus Ihnen herauspressen.«
Nyx war mit dem Wissen großgezogen worden, dass ihre Identität als Nachtbotin sie jederzeit psychischen und physischen Bedrohungen aussetzen konnte. Diane hatte ihr beigebracht, ihren Geist zu schützen. Ihre Nanny, eine Ex-Soldatin mit Straßenkampferfahrung, hatte ihr beigebracht, ihren Körper zu verteidigen.
Nyx trat Ingleby mit voller Wucht auf den Fuß. Er zuckte zurück, und sie rammte ihren Ellbogen erst in seinen Solarplexus, dann gegen seine Kehle. Birdie schrie auf, und Nyx stieß Ingleby mit einem gezielten Tritt zu Boden. Ohne sich nach den Agenten umzusehen, packte sie Birdies Arm.
»Lauf!«
Sie rannten in die entgegengesetzte Richtung des Flurs. Menschen kamen aus den umliegenden Büros und versperrten ihnen den Weg, aber sie schafften es, sich durchzuquetschen, und prallten schließlich gegen eine Glastür. Birdie riss ohne Erfolg am Griff, dann drückte sie nach vorn, und die Tür schwang auf. Sie hatten es schon auf die andere Seite geschafft, als die Agentin des Ersten Tages Nyx’ Namen rief.
»Nyx Harling!«
Nyx konnte nicht anders, sie drehte sich um. Die Agentin sah über die Köpfe der aufgebrachten Leute zu ihr hinüber. Nyx trat die Glastür hinter sich zu, hörte aber trotzdem, was die Rothaarige ihr hinterherrief.
»Grüß deinen Bruder von mir!«