James

Die U-Bahnfahrt zu Samis Garten dauerte keine fünfzehn Minuten. Die ganze Zeit über tappte James unruhig mit dem Fuß. Als sie den Zug verließen, zog er zum x-ten Mal sein Handy aus der Tasche.

Ein Sprung zog sich über das Display, aber ansonsten hatte es den Sturz gut überstanden. James fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, das Telefon wegzuwerfen und seine Anruferliste aufzurufen. Nicht, dass die ihm etwas Neues verraten würde.

Der anonyme Anruf tauchte nicht in der Liste der eingegangenen Gespräche auf. Was hatte das zu bedeuten? Hatte James sich alles eingebildet? Möglich war es. Letzte Nacht hatte er kaum zwei Stunden geschlafen. Dazu kam sein Schwächeanfall nach dem Einsatz des Sonnensiegels. Also, ja, Halluzinationen waren durchaus möglich. Nur, dass sein Kopf ihn bisher noch nie derart in die Irre geführt hatte.

Möglichkeit Nummer zwei: Jemand trieb irgendein perfides Spiel mit ihm. Das war wahrscheinlicher, aber nicht weniger alarmierend. Jay Bird. Woher kannte der Anrufer diesen Spitznamen? Und wie zur Hölle hatte er Leons Stimme vorgetäuscht? Hatte er Zugriff auf James’ Sprachnachrichten?

James hatte das Gefühl, er müsste platzen, wenn er den Anruf für sich behielt. Aber darüber reden konnte er auch nicht. Niemand würde verstehen, warum ihn der Klang von Leons Stimme, Illusion oder nicht, so aus der Bahn warf. Niemand, außer Nyx. Aber bei dem Gedanken, sie anzurufen, blockierte

James schob das Handy zurück in die Tasche und verließ hinter Sami und Erin die U-Bahn-Station an der Tottenham Court Road. Er fühlte sich überfordert, und das musste er in den Griff bekommen, und zwar pronto.

Nachdem sie die Hauptverkehrsader verließen und sich über Nebenstraßen zwischen den Häusern bewegten, dünnte sich die Zahl der anderen Passanten aus. James blieb dennoch in Habachtstellung.

Offenbar war er nicht der Einzige, der mit seiner Anspannung kämpfte. Erin nestelte schon seit dem Verlassen der U-Bahn-Station am Saum ihrer Jacke herum. »Ich versteh es immer noch nicht ganz«, sagte sie. »Der Typ, den wir jetzt treffen, kann mir sagen, was mit mir los ist?«

»Er kann Tag- und Nachtenergien lesen«, antwortete James.

»Wie du?«

»Ja und nein«, sagte er. »Seine Wahrnehmung funktioniert anders. Und vor allem kann er die Energien besser lesen als ich. Er hat feinere Antennen, mehr Erfahrung, und er kann die Spur von Tag- und Nachtenergien über die unmittelbare Aura einer Einzelperson hinaus verfolgen.«

Vor ihnen öffnete sich die Gasse, und sie traten hinaus auf einen Platz zwischen Wohnhäusern aus roten Ziegeln, Bürogebäuden mit breiten Garageneinfahrten und eingemauerten Hinterhöfen.

In der Mitte des Platzes, eingesäumt von Backsteinmauern und überwucherten Zäunen, lag Summer Isle Garden. Auf dieser Seite versperrten Hecken die Sicht auf den Garten, aber die hoch aufragenden Kronen der Bäume deuteten bereits auf eine grüne Oase inmitten der Betonwüste hin.

Sami ging voraus und führte sie entlang der Westseite des Gartens zum Haupttor. Beim Gehen strich James mit den

»Und ihr seid euch sicher, dass wir ihm vertrauen können?«, fragte Erin.

»Luke ist in Ordnung«, antwortete Sami.

»Du hast gesagt, er ist ein Nachtbote«, sagte Erin zu James. »Also arbeitet er nicht für den Orden des Tages?«

»Des Ersten Tages«, korrigierte James. »Und nein, Luke hat einen viel strengeren Boss. Er arbeitet für Sami.«

»Sehr witzig«, erwiderte Sami, aber sein Mundwinkel zuckte verdächtig.

Erin betrachtete Sami skeptisch. »Dafür, dass du dich als Normalo ausgibst, hast du ziemlich viel mit Nachtboten zu tun.«

Sami zuckte mit den Schultern. »Ja, ich scheine die irgendwie anzulocken. Wahrscheinlich rieche ich gut.«

James verschluckte sich beinahe an dem Lachen, das aus ihm herausplatzte. Samis Lächeln wurde breiter.

»Bevor ich James getroffen habe, wusste ich nicht, dass Luke ein Bote ist«, ergänzte er. »Aber nachdem James mich eingeweiht hat, hat Luke mir auch verraten, was er ist. Da sind wir.«

Das Tor zum Garten stand offen, und direkt dahinter befand sich ein halbrunder, gepflasterter Vorplatz. Mehrere Pfade führten nach links in den Garten, während rechts das schlichte Begegnungshaus wartete, in dem sich auch Samis Büro befand.

Summer Isle war ein Gemeinschaftsgarten. Gegründet wurde er in den Achtzigern, als ein paar der Anwohner und Anwohnerinnen zusammenlegten und den damals brachliegenden Winzigpark in einen Nutzgarten voller Gemüsebeete umwandelten. Inzwischen wurde der Garten von der Stadt gefördert und von einer Treuhandstiftung verwaltet. Gemüsebeete gab es immer noch, aber zusätzlich wuchsen hier Ahornbäume und Blumen, es gab Insektenhotels, einen kleinen Teich und Sitzecken für

Sami leitete den Garten, koordinierte die Arbeit der ehrenamtlichen Gärtner und Gärtnerinnen und sorgte dafür, dass das Nachbarschaftsprogramm rundlief.

Hinter dem Tor hielten sie an, und Sami nickte in Richtung eines geschwungenen Pfades. »Luke wollte heute ein neues Hochbeet auffüllen, also findet ihr ihn wahrscheinlich bei den Lauchzwiebeln.«

»Kommst du nicht mit?«, fragte Erin.

»Ich habe leider was anderes zu tun«, antwortete er. »Heute Nachmittag findet ein Treffen mit dem Verwaltungsausschuss statt, ich freu mich schon drauf.« Zu James sagte er: »Du findest dich noch zurecht?«

»Ja, denke schon«, antwortete James.

Sami nickte noch einmal, dann ging er in Richtung des Begegnungshauses davon.

Erin kaute auf ihrer Unterlippe, während sie ihm nachsah. Vielleicht überlegte sie, ob es wirklich eine gute Idee war, hier zu sein. Oder sie war nervös, weil sie gleich mit zwei Nachtboten allein sein würde.

»Wollen wir?«, fragte James und steuerte den Pfad an, der sie tiefer in den Garten führen würde.

Je weiter James sich vom Eingang entfernte, umso mehr vergaß er, dass er sich mitten in der Stadt befand. Grüne Baumkronen verdeckten die umstehenden Häuser. Die Bienen, die über dem Salbei summten, ließen James an Landgärten denken. An Wiesen, gesprenkelt mit Hahnenfuß und dem Radau von Vögeln in den Hecken. Wie aufs Stichwort hüpfte ein Rotkehlchen über den Pfad und flatterte davon.

Selbst Erin schien sich von dem Frühlingsgarten verzaubern

Als er das bemerkte, löste sich ein Knoten zwischen seinen Schulterblättern. Es war für ihn nie leicht auszuhalten, wenn Menschen in seiner Nähe verkrampften. Das war mit einer der Gründe, warum er seine Fähigkeiten geheim hielt. Leon hatte sich oft darüber beschwert, dass sie sich vor der Welt verstecken mussten, aber es hatte Zeiten gegeben, in denen James sich wünschte, dass er vollständig in der Masse verschwinden könnte. Als einer der wenigen Schwarzen Schüler an ihrer Privatschule bekam er schon mehr als genug Aggressionen ab. Nachdem er sich geoutet hatte, fand er zwar neue Communitys, aber auch ein anderes Kaliber an Bullshit, das er sich von engstirnigen Menschen anhören musste. Und später, als er Leute traf, die über Boten Bescheid wussten, musste er feststellen, dass selbst ein paar von denen, die ihm wegen seiner Hautfarbe oder seiner sexuellen Orientierung nicht mit Vorurteilen begegneten, zusammenzuckten, wenn sie mitbekamen, dass er eine übernatürliche Dunkelheit heraufbeschwören konnte. Sogar Dianes Lektionen drehten sich um gefährliche Nachtboten, die ihre Talente einsetzten, um anderen zu schaden – nur weil sie es liebten, Chaos zu stiften. Aber so waren weder er noch Nyx noch Leon. Natürlich waren sie nicht perfekt, kein Mensch war das. Dennoch hatte James lange Zeit geglaubt, niemand konnte etwas gegen sie haben, solange sie nach den Regeln spielten.

Dann hatten vier Männer aus der Sekte Söhne der Schöpfung ihm, Leon und Nyx nach der Schule aufgelauert. Sie wollten die Welt von der Saat des Chaos reinigen (ihre Worte). James wusste nicht mehr, wie sie sich gegen den Überfall gewehrt hatten. Stattdessen war der stechend heiße Schmerz hängengeblieben, der ihn durchfuhr, als einer der Männer ihm den Arm brach. Am meisten jedoch erinnerte er sich daran, dass

Später verstand er es. Stück für Stück, mit jeder Erfahrung wurde ihm klarer, dass sich seine Selbstwahrnehmung nicht immer mit dem deckte, was andere in ihm sahen. Was sie auf ihn projizierten. Nachtbote. Chaosbringer. Die Dunkelheit in Person.

In seinem ganzen Leben hatte er noch nie jemanden verletzt, der ihn nicht zuerst angegriffen hatte. Doch ihm war bewusst, dass manche genau das von ihm erwarteten. Manchmal gelang es ihm, Hass und Ablehnung an sich abprallen zu lassen. Wenn ihm die Menschen jedoch mit Angst begegneten, spürte er den Drang, ihnen zu zeigen, dass sie ihn nicht fürchten mussten.

Leere Hände, sanftes Lächeln, vorsichtiger Abstand. Siehst du? Harmlos.

Nichts davon war neu, aber es machte ihn unsagbar müde.

Das Rotkehlchen kehrte zurück und landete auf einer der niedrigen Mauern, die die Staudenbeete in diesem Teil des Gartens eingrenzten. Der Vogel betrachtete James mit schiefgelegtem Kopf.

Hab leider keine Krümel für dich dabei, Kumpel, dachte James. Er bog um einen Hortensienstrauch und stellte fest, dass er sie in die richtige Ecke gelotst hatte. Vor ihm befand sich ein halbes dutzend Hochbeete. An einem von ihnen stand ein weißer Mann in Cargohose und Karohemd. Ein Sack Mulch lehnte an der Holzwand des Beets, und an den Händen des Mannes klebte Erde, aber als James auf ihn zuging, schaute er ihm bereits abwartend entgegen.

Er hatte gespürt, dass sie kamen.

Mit seinen fünfundsechzig Jahren war Luke der älteste Nachtbote, den James bisher kennengelernt hatte. Er hatte ein schmales, wettergegerbtes Gesicht, das von einer breiten Nase beherrscht wurde, braune Haare und einen Bart, der von grauen Strähnen durchzogen war.

Luke war ein Einzelgänger, jemand, der gut mit sich selbst klarkam und das Alleinsein schätzte. Ein wenig ironisch war das schon, denn im Grunde bestand sein Talent darin, Verbindungen zwischen anderen Menschen zu erkennen. James ging davon aus, dass Luke gute Gründe hatte, ein zurückgezogenes Leben zu führen. Vielleicht entsprach das einfach seiner Natur. Vielleicht hatte er auch Erfahrungen gemacht, die er nicht wiederholen wollte.

»Eine merkwürdige Aura«, sagte Luke schließlich und musterte Erin. »Hm.«

Erin sagte nichts. Überhaupt hatte sie außer einem Hallo kein einziges Wort gesprochen.

»Erin?«, fragte James. »Alles okay?«

»Nein«, sagte Erin schroff. »Nein, ist es nicht. Deshalb sind wir hier, oder?« Sie holte Luft und fuhr dann etwas ruhiger fort: »Tut mir leid. Das ist alles nur … viel.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Luke. »Also, weshalb kommt ihr zu mir? Was glaubt ihr, kann ich für euch tun?«

»Wenn Erin damit einverstanden ist, dann würde es uns sehr helfen, wenn du die Signatur der Energien deuten könntest, die sich in ihr abgelagert haben«, sagte James. »Und ist es möglich, die Spur der Nachtenergie zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen?«

»Zu ihrem Ursprung«, wiederholte Luke. »Damit meinst du den Chaosträger?«

Luke seufzte.

»Ich will ihm helfen«, versicherte James rasch. »Ich habe etwas, mit dem er seine überschüssige Chaoskraft loswerden kann, ohne jemanden zu verletzen. Möglicherweise.«

Luke hob eine Braue. »Ist es dasselbe ›Etwas‹, das du benutzt hast, um den Chaosdunst aus Erin herauszufiltern?«

James biss sich auf die Lippe, dann zog er den Bleikasten aus der Tasche. Das war nur fair, wenn er von Luke verlangte, sich einzubringen. Neugierig lehnte Luke sich vor, nur um sofort zurückzuzucken, als James den Deckel öffnete.

»Das reicht«, sagte Luke und war sichtlich erleichtert, als James den Kasten wieder zuklappte. »Was ist das?«

»Ein Sonnensiegel«, antwortete James. »Hast du die Keilschrift darauf bemerkt? Das ist eine Art Bannspruch, den ein hethitischer Sonnenkult fürs Einfangen von Chaoskraft benutzt hat. Vermuten wir zumindest.«

Luke rückte noch ein Stück von James weg. Dank des Bleikastens dürfte er eigentlich nichts von der Wirkung des Siegels spüren, aber James konnte seinen Drang nach Abstand nachvollziehen.

»Wer hat dir das gegeben?«, fragte Luke.

»Freunde«, antwortete James. Er dachte an Remzi und Ipek, das Pärchen, das das Siegel in einer Ausgrabungsstätte in Kappadokien aufgespürt hatte. Er war Tagbote, sie Nachtbotin. Nach ihrem Archäologiestudium widmeten sich die beiden der Erforschung von antiken Riten, die mit Tag- und Nachtmythen verknüpft waren. Über zwanzig Jahre lang hatten sie eine Menge an vergessenem Wissen ausgegraben. James bekam nur einen Bruchteil davon zu sehen. Zwar hatte er sich gut mit den beiden verstanden, doch das Siegel überließen sie ihm trotzdem mit gemischten Gefühlen. Sie sahen die Bedrohung, die sich in London regte, und wollten helfen. Gleichzeitig war ihnen klar,

Luke akzeptierte James’ vage Antwort, sah jedoch nicht weniger besorgt aus. »Das Artefakt ist mit Tagenergie aufgeladen, wusstest du das?«

Und ob. Das hatte Remzi bewerkstelligt. Laut sagte er: »Ja. Das braucht das Siegel, um die Chaoskraft zu extrahieren. Ohne funktioniert es nicht.«

Luke musterte ihn eindringlich. »Mit so was herumzulaufen ist verdammt riskant. Wie hast du dich gefühlt, nachdem du es benutzt hast?«

»Schwach«, gab James zu.

Luke rieb sich nervös die Erde von den Händen. »Ich kann schon verstehen, warum du das Siegel hergebracht hast. Besonders wenn wir wirklich einen Träger in London haben. Aber ich sag’s dir ganz ehrlich, dieses Ding macht mich nervös.«

»Mich auch«, sagte James. »Nur leider ist das alles, was wir haben. Und wir stecken schon mitten in der ersten Phase der Chaosflut.«

Luke schwieg nachdenklich, dann wandte er sich an Erin. »Dann liegt die Entscheidung bei dir«, sagte er. »Willst du, dass ich mir deine Aura näher anschaue?«

Erin schluckte, zögerte jedoch nicht. »Ich will herausfinden, was mit mir nicht stimmt.«

Luke nickte. »In Ordnung. Ich kann euch nichts versprechen, aber ich gebe mein Bestes.«

Luke nahm sie mit in einen Schuppen am Ende des Gartens. Drinnen standen lange Tische, auf denen Tomaten- und Paprikasetzlinge auf ihre Pflanzzeit warteten. Leere Blumenkübel stapelten sich in den Ecken, und Gartengeräte hingen an der Wand.

»Heute ist hier hinten nicht viel los«, erklärte er, »aber wir wollen trotzdem keine zufälligen Zuschauer.«

Er stellte sich James und Erin gegenüber und rieb noch einmal seine Hände an seiner Hose ab.

»Habt ihr Handys dabei? Oder irgendwelche anderen elektronischen Geräte?«

Erin verneinte, und James schaltete sein Handy aus. Wenn Luke Energien manifest machte, ging das für Mikrochips und andere empfindliche Technik schlecht aus.

»Was passiert jetzt?«, fragte Erin nervös.

Luke lächelte. »Jetzt wird es magisch. James, wärst du so nett?«

James legte beide Hände vor die Brust. Zu Erin sagte er: »Das kennst du schon. Ich rufe die Dunkelheit, wie gestern Abend.«

Nur, dass er dieses Mal sanfter vorgehen konnte. Er spürte, wie die Dunkelheit in ihm aufstieg, spürte die Ruhe, mit der sie sich an sein Herz schmiegte. Mit einem leisen Seufzen drückte James gegen seine Brust, und die Dunkelheit strömte aus ihm heraus. Als er die Augen öffnete, war er umgeben von vollkommener Finsternis.

Jemand stieß gegen seine Schulter und gab ein ersticktes Keuchen von sich.

»Erin?«, fragte er.

»Alles okay«, murmelte sie, doch es war klar, dass James’ Fähigkeiten sie immer noch einschüchterten. Oder vielleicht erinnerte sie die Dunkelheit zu sehr an den Vorfall von gestern. In dem Fall konnte er ein wenig Abhilfe schaffen.

»Willst du was Schönes sehen?«, fragte er und schloss die Finger seiner Hand zu einer losen Faust. Wie lange hatte er das schon nicht mehr versucht? Waren es Monate? Oder schon länger als ein Jahr?

»Bemerkenswert«, murmelte Luke.

James öffnete seine Hand. Über seiner Handfläche schwebte ein winziger, perlweiß schimmernder Stern.

Obwohl ihm der Anblick einen Kloß in den Hals presste, fühlte er seine Dankbarkeit bis in die Knochen. Seit Leons Tod lebte er mit der Angst, dass der Stern eines Tages nicht mehr auftauchen würde. Wieder dachte er an den seltsamen Anruf. Die Stimme hätte jedem gehören können, aber der Spitzname? Der hatte sich angefühlt wie Leons Schulter an seiner.

Nein. Wen auch immer er gehört hatte, es war nicht Leon gewesen. Der Stern war das Einzige, was er noch von ihm hatte. Es war Unsinn, auf etwas anderes zu hoffen.

James drehte sich zu Erin. Der Glanz spiegelte sich in ihren Augen, während sie staunend den Stern betrachtete.

»Besser so?«, fragte James. »Mit ein bisschen Licht?«

Kurz blieb sie stumm, dann blinzelte sie überrascht und sah ihn an. »Ja. Danke.«

James tauschte einen Blick mit Luke, um sicherzugehen, dass ihn das Licht nicht ablenken würde. Luke nickte zustimmend, dann schloss er die Augen. Er spreizte die Finger und breitete die Arme aus, als ob er einen großen Ball fassen wollte.

»Fangen wir an.«

Erin versteifte sich, und ihre Hand streifte die von James, bevor sie sie zurückzog.

»Keine Sorge«, versicherte James. »Du wirst gar nichts spüren. Luke macht die Energie, die dich umgibt, nur sichtbar.«

Und genau das tat er. Zuerst erschien nur ein mattes Blitzen, wie Glühwürmchen im Flug, dann leuchtete Faden um Faden aus Lichtern auf. Nach wenigen Augenblicken stand Erin

James ließ den Stern über seiner Hand erlöschen und begutachtete das Glitzern, das sich um Erin herum manifestierte.

Erin schien ebenfalls von dem Anblick gefesselt zu sein, doch als Luke näher trat, zuckte sie zusammen. Ihre Aura spiegelte sich in Lukes Augen, dessen Pupillen jetzt doppelt so groß waren wie vorhin und grellgrün leuchteten. James kannte drei Nachtboten, die nachts sehen konnten, aber soweit er wusste, besaßen nur Lukes Augen diesen katzengleichen Schimmereffekt.

»Du kannst ruhig weiteratmen«, sagte Luke mit abwesender Stimme. »Das hier läuft alles so, wie es soll.«

»Kann ich«, setzte Erin an, »darf ich mich bewegen?«

»Sicher. Fass die Energiewellen ruhig an, wenn du willst.«

Vorsichtig zog Erin ihre Finger durch das Licht, das sich wie Wasser teilte.

Lukes Katzenaugen blickten scheinbar ins Leere, doch James wusste, dass er die Wellen, die Erin umspielten, sehr genau betrachtete.

»Hm«, machte er nach einer Weile.

»Was siehst du?«, fragte James.

»Nichts, was mir je zuvor untergekommen wäre«, antwortete Luke. »Du hast recht. Erins Aura ist unruhig, als ob sie nicht genau wüsste, was sie sein will.« Er deutete auf einen goldenen Schimmer. »Das ist sehr alte Tagenergie, vermutlich von deinem Artefakt.« Er zeigte auf einen blauschwarzen Wellenkamm. »Nachtenergie. Ich glaube, das ist ein bisschen James. Und das hier«, er schwang seine Hand vor einem dunklen Strang, der mit einem dünnen Faden aus sattem Violett durchzogen war, »das hier ist Chaos.«

Erin wich zurück, als hätte er sie geohrfeigt, aber Luke hob beschwichtigend die Hand. »Kein Grund zur Sorge. Das ist

Als ob ich eine Wahl hätte, dachte James. »Ich nehme es zur Kenntnis«, sagte er. »Was passiert jetzt mit Erin?«

»Nichts. Seht ihr das hier?« Luke schüttelte die Finger, und die Lichtfäden, die er eben noch gehalten hatte, verpufften zu glitzerndem Staub und erloschen. »Die Wellen lösen sich bereits auf«, sagte Luke. »Ich schätze, in drei bis vier Tagen werden sich die letzten Spuren fremder Energie verflüchtigt haben.«

Erin schloss in offensichtlicher Erleichterung die Augen. Wenigstens eine gute Neuigkeit.

»Was ist mit dem Chaosträger?«, fragte James. »Sind die Wellen noch stark genug, dass du sie zurückverfolgen kannst?«

Luke streckte seine Hände aus, wieder mit gespreizten Fingern. »Finden wir es heraus.«

Er sortierte die Lichtfäden, wie man ein Knäuel aus losen Wollschnüren entheddern würde. Das Chaos entglitt ihm, aber er erwischte einen Nachtfaden. Luke zupfte an ihm, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Da bist du«, murmelte er. Er zog an dem Faden, und das Licht wurde länger, sponn sich über Lukes behutsamen Griff hinaus. Wie ein schimmerndes Rinnsal wand sich das Nachtlicht durch die Dunkelheit – bis Luke die Augen weit aufriss.

»Nein!« Er ballte die Fäuste, riss sie zurück, und Erins Aura

»Was …«, begann Erin, aber Luke brachte sie mit einem »Still!« zum Schweigen.

Im gleichen Moment spürte James, was Luke bereits aufgeschnappt haben musste: Ein Stechen, als ob die Hitze der Augustsonne ungebremst auf seinen Nacken treffen würde.

Erin bewegte sich, und James griff blind nach ihrem Arm. »Leise«, flüsterte er. »Solange wir in meiner Dunkelheit sind, kann er uns nicht finden.«

Er. Die Ausstrahlung könnte zu jedem x-beliebigen Tagboten gehören, aber James hatte so eine Ahnung, wer sich ihnen näherte.

Pech gehabt, Bhaskar, dachte James grimmig. Seine Dunkelheit war mehr als nur Sichtschutz, sie war ein Schutzraum. Sie konnte von niemandem durchdrungen werden, den er nicht hineinließ.

Oder zumindest hatte er das bisher geglaubt.

Erin stieß zischend die Luft aus, dann murmelte Luke etwas Unverständliches. Und James? James starrte auf Rohan Bhaskar, der, eingehüllt in grellweiße Flammen, in seine Dunkelheit trat.