Nyx

Der Tag dämmerte bereits, als Nyx und die anderen den Bahnhof von Whitechapel erreichten. Eine Reinigung und ein Gemüsemarkt flankierten das Bahnhofsgebäude, dessen Name über den Eingangstoren sowohl in Englisch als auch in Bengalisch angebracht war. Die Beleuchtung im Innern der Eingangshalle war grell, um die aufziehenden Schatten des Abends auszugleichen.

James und Erin gingen voraus, um sich um die Tickets zu kümmern. Seit sie Samis Wohnung verlassen hatten, war James so angespannt wie eine Geigensaite und kurz vor dem Zerreißen. Kein Wunder, nach allem, was seit gestern passiert war. Und wahrscheinlich hatte ihm der Streit mit Sami den Rest gegeben.

Der stand mit Birdie und Nyx im Eingang des Bahnhofs. Er trug seine Sporttasche über der Schulter, vollgestopft mit ein paar Klamotten und anderen Notwendigkeiten.

»Kommst du klar?«, fragte Nyx.

Sami verzog das ramponierte Gesicht. »Ich hoffe es.« Er beugte sich vor und gab Nyx einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Pass auf dich auf, okay?«, bat er. Nyx nickte. Sami seufzte, dann fügte er leiser hinzu. »Und pass auf deinen Sturkopf von einem Bruder auf.«

Wenn er mich lässt, dachte Nyx. »Ist nicht unser erstes Rodeo«, sagte sie. Dann, obwohl es bestimmt nicht gut war, wenn sie sich einmischte, fügte sie hinzu: »Er hat Angst um dich, weißt du.«

Nyx schüttelte den Kopf. Natürlich hatte er das nicht. Zu behaupten, dass James’ Geheimnistuerei sie nicht verletzt hatte, wäre gelogen. Aber überrascht war sie auch nicht. Natürlich hatte James es alleine mit Diane aufgenommen, um ihr den Rücken freizuhalten.

Für einen Augenblick stand Sami die Sorge deutlich ins Gesicht geschrieben, dann seufzte er ergeben. »Sag mir Bescheid, wie alles ausgeht, ja?«

»Ich versuch es«, versprach Nyx.

Sie verabschiedeten sich, aber bevor sie sich trennten, nahm Birdie Nyx noch einmal zur Seite.

Ihr Blick huschte zu James und Erin bei den Ticketautomaten und zurück zu Nyx. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«

»Warum fragst du?« Nyx erwartete halb, dass Birdie ihr von irgendwelchen warnenden Vorzeichen erzählen würde, aber stattdessen sagte sie:

»Eure Diane kommt aus dem Orden.«

Nyx hob die Brauen. Sie hatten Birdie bereits versichert, dass Diane kein Mitglied mehr war. Was sollte sie sonst noch sagen?

Nyx schwieg, ließ Birdie damit in der Luft hängen. Die atmete tief aus. Sie schien mit sich zu hadern, bis sie schließlich zu erzählen begann.

»Als ich vorhin gesagt habe, meine Familie hat schlechte Erfahrungen mit dem Orden gemacht, war das keine Untertreibung.« Nervös schob sie sich die Haare hinters Ohr. »Nan hatte zwei Schwestern. Zwillinge, Carol und Joan. Ist ’ne lange Geschichte, aber Joan hatte sich bereiterklärt, mit dem Orden zusammenzuarbeiten. Der Orden wollte unsere Methoden

Birdies Miene verfinsterte sich. »Niemand von uns weiß, was genau passiert ist, aber Joan kam nie wieder nach Hause. Und was auch immer der Orden mit ihr gemacht hat … ich will es mir eigentlich gar nicht vorstellen. Kurz vor dem Ende hat sie Carol so eine eigenartige, verschrammte Münze geschickt. Ohne Brief, ohne Erklärung. Carol hat sie angerufen, aber sie meinte, Joan hätte total gehetzt und verunsichert geklungen. So, als würde sie etwas heimsuchen. Zwei Wochen später war sie verschwunden.« Birdie presste die Lippen aufeinander, bevor sie fortfuhr. »Carol hat aufgehört, zu reden, nachdem klar war, dass sie Joan verloren hatten.«

Nyx kannte mehr als genug Horrorgeschichten über den Ersten Tag. Unter Boten ging das Gerücht um, dass der Orden in seinen frühen Jahren nachtgeborene Menschen in Ritualen opferte, um durch ihren Tod den Einfluss der Chaoskraft in der Welt zu schwächen. Diese Praktiken hatten sie scheinbar aufgegeben, um sich einen aufgeklärten Anstrich zu verpassen. Mit anderen Worten: Sie verlegten sich auf klinische und chemische Experimente, mit ein bisschen Alchemie hier und da, um herauszufinden, wie sich Nachtboten von Tagboten unterschieden, ob es genetische Voraussetzungen für das Erwachen von Chaosträgern gab und wie man entweder Tagboten oder gewöhnliche Menschen mit mehr Macht versorgen konnte, damit sie über einen Durchbruch des Chaos triumphieren konnten.

In einem seltenen Moment der Offenheit hatte Diane Nyx einmal erzählt, warum sie dem Ersten Tag den Rücken gekehrt hatte. Ihre Rolle im Orden beschränkte sich auf Forschung und Recherche. Mit den praktischen Experimenten hatte sie nichts zu tun. Eines Tages jedoch wurde sie hinzugezogen, als eine Gruppe Wissenschaftler darüber diskutierte, ob man die Organe oder Hirnchemie von Tagboten so manipulieren konnte,

Die Diskussion fand um einen Labortisch herum statt, auf dem eine Nachtbotin festgeschnallt war. Die Schergen des Ordens hatten sie in Budapest aufgegriffen, weil sie glaubten, sie wäre kurz davor, zur Trägerin zu mutieren. Die lebendige Botin hatte Diane nicht mehr kennengelernt. Jetzt, wo sie vor ihr lag, war ihr Körper bereits vom Schambein bis zur Kehle aufgeschnitten, damit die Männer der Wissenschaft nach Anomalien in ihren Innereien suchen und Gewebeproben entnehmen konnten.

Sie standen da und redeten über die arme Frau wie über ein Ding, eine Petrischale, sagte Diane. Danach war es für mich endgültig aus.

Also nahm sie ihre Überzeugungen, ihre Forschungsunterlagen und ihren Ehemann Richard und kündigte ihren Austritt aus dem Orden an. Eine Woche später wurde Richard von einem Auto überfahren.

All das machte den Verlust von Birdies Familie natürlich nicht weniger schrecklich. »Das tut mir sehr leid«, sagte sie.

»Man kann denen nicht trauen«, beharrte Birdie.

»Ich weiß«, versicherte Nyx. »Aber Diane gehört wirklich nicht mehr zu ihnen. Sie hat erkannt, dass der Orden ein Haufen Fanatiker ist. Jetzt arbeitet sie gegen ihn.« Nyx zog abwesend an dem Gummiband an ihrem Handgelenk und warf einen weiteren Blick in James’ Richtung. »Diane ist alles andere als perfekt, aber sie beschützt uns, seit wir klein waren.«

Birdie sah sie eindringlich an. »Niemand, der im Orden war, kommt je ganz von ihm los.«

Nyx zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne und sagte nichts. Birdie hatte recht. Diane war zwar nicht mehr Teil des Ordens – offiziell, um sich auf ihre Forschungsarbeit zu konzentrieren, eine umfassende Studie über das Leben und Wirken von Nachtboten in Großbritannien von der Frühen Neuzeit

Nyx verstand Birdies Bedenken. Sehr gut sogar. Doch obwohl sie selbst nicht gut auf Diane zu sprechen war, stand eines außer Zweifel: Diane würde sie nie verraten. Sie war so hart und unterkühlt wie ein Eiszapfen, aber sie war ehrlich. Und dem Orden würde sie nie mehr helfen, nicht nach dem, was mit Richard passiert war.

Ob sie die richtige Person war, mit der James und Nyx jetzt zusammenarbeiten sollten, stand jedoch auf einem anderen Blatt.

Birdie schnappte Nyx’ Unschlüssigkeit auf. »Du könntest hierbleiben«, sagte sie. »Wir könnten deine und Inglebys Visionen zusammen entschlüsseln. Nach dem Träger suchen …«

»… und die Welt retten?«, vervollständigte Nyx mit einem halben Lächeln.

Birdie lachte kurz. »Ja, warum nicht? Ich lese unsere nächsten Schritte aus dem Teesatz, und du trittst Ordensagenten zwischen die Beine, wenn’s nötig wird.«

Nyx war tatsächlich in Versuchung, ja zu sagen. Wäre da nur Diane gewesen, die auf sie wartete, hätte sie sich vielleicht Birdie angeschlossen. Aber konnte sie James alleine lassen? James, der sich die ganze Welt auf die Schultern packte, wenn niemand aufpasste?

Sie dachte an den Anruf, den er bekommen hatte. Als er meinte, der Anrufer hatte wie Leon geklungen, war es ihr eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. Beinahe hätte sie ihm von der Sternengestalt erzählt und dem Aufruf, der seit ihrer Vision in ihren Ohren widerhallte.

Komm nach Hause.

Nyx konnte das verstehen. Die Vorstellung, dass Leon sie und James heimsuchte, war furchtbar. Sie konnte sich zwar zusammenreimen, dass Leon zumindest mit ihr noch eine Rechnung offen hatte, aber das machte es keinen Deut besser.

Sie hatte James nichts gesagt. War das heuchlerisch? So kurz nachdem sie aus allen Wolken gefallen war, weil er hinter ihrem Rücken mit Diane zusammenarbeitete?

Diese Art von Drama hatte sie wirklich nicht vermisst.

»Meine Familie braucht mich«, sagte sie schließlich.

Birdie verbarg ihre Enttäuschung nicht, aber sie nickte. »Verstehe ich«, sagte sie. »Dein Handy?«

Nyx gab es ihr, und sie tippte ihre Nummer in Nyx’ Adressbuch. »Falls du deine Meinung änderst, ruf mich an.«

Sie nahm ihr Telefon zurück, und dabei fiel ihr Blick noch einmal auf die Schutzzeichen auf Birdies Fingerrücken. »Viel Glück«, sagte sie.

»Dir auch«, antwortete Birdie.