Wildridge Hall | Jetzt
Dianes Anwesen befand sich im Westen von Surrey. Die Zugfahrt zum nächstgelegenen Ort hatte kaum mehr als eine Stunde gedauert. Dennoch war es für Nyx, als fiele sie vom Rand einer Welt in eine völlig andere.
Diane schickte einen ihrer Sicherheitsleute, um sie nach Wildridge Hall zu bringen. Niemand von ihnen sprach, während der Mercedes dieselbe Auffahrt entlangrollte, über die Nyx vor über zwanzig Jahren in ihr neues Zuhause gelangt war. Wildridge Hall lag am Ende einer Allee aus Eichen, die irgendein Vorfahr von Diane gepflanzt hatte. Das Herrenhaus bestand aus rotem Backstein mit weißen Fenster- und Türrahmen. Zwei Säulen stützten das Vordach über dem Eingang, und zwei Thujabüsche flankierten die Säulen.
Der Chauffeur stoppte den Wagen auf der Wendeplatte vor dem Haus. James, Nyx und Erin stiegen aus, nur um schweigend vor dem Haus stehen zu bleiben. Die Sonne war mittlerweile untergegangen, doch ein orange-blauer Schimmer zeichnete sich noch über dem Dach ab.
Nyx stand mit den Fußspitzen im Schatten und spürte, wie sich ihre Muskeln, ihre ganze Haut, anspannten. Für sie hatte dieses Haus in etwa so viel Charme wie eine Venusfliegenfalle. Sie warf einen Seitenblick auf James, nur um festzustellen, dass auch er zum Dach hinaufstarrte. Das Glaszimmer war von hier aus nicht zu sehen, aber sie wussten beide, dass es da war.
Erin scharrte ungeduldig mit dem Fuß, dann öffnete sich die Haustür. Diane trat in den Türrahmen, und mit einem Schlag fühlte sich Nyx wieder wie eine Sechsjährige.
Automatisch wich sie zurück und spürte einen heißen Anflug von Scham. Sie war kein Kind mehr. Egal, wie ehrfurchtsgebietend Diane sich vor ihr aufbaute, sie konnte Nyx zu nichts mehr zwingen.
Du lässt dich nicht mehr einschüchtern, versprach sie sich. Und wenn all das hier vorbei ist, dann gehst du zurück nach London. In deine Wohnung. In dein eigenes Leben.
Nur, dass ihr Leben außerhalb von Wildridge plötzlich in entsetzliche Ferne rückte.
James ging bereits auf Diane zu, dicht gefolgt von Erin. Diane wartete an der Tür auf sie. Natürlich kam sie ihnen nicht entgegen. Nyx straffte die Schultern und schloss zu den anderen auf.
Diane nickte James zu und schüttelte Erins Hand.
»Willkommen in Wildridge«, sagte sie. »Kommt rein, wir haben viel zu besprechen.«
Ihr Blick richtete sich auf Nyx, aber die ging wortlos an ihr vorbei.
Die Eingangshalle war, typisch für Herrenhäuser, im georgianischen Stil gehalten: Geometrisch angeordnete, sandfarbene Fliesen, hohe Wände, alles dezent elegant. Wildridge Hall hatte zudem einen modernen Anstrich. Die Wände waren komplett weiß tapeziert, und von der Decke hing ein minimalistischer Kronleuchter aus Kupfer. Ein Strauß aus weißen Freesien, Tulpen und Milchsternen stand auf einem Sideboard.
Da bin ich, dachte Nyx verbittert. Zu Hause.
Auf den ersten Blick wirkte es so, als wäre die Zeit in Wildridge stehengeblieben. Aber Nyx wusste, dass sich alles verändert hatte, sie selbst eingeschlossen. Dieses Haus zu betreten, fühlte sich an, als würde sie in einen Schrank gequetscht, in den sie längst nicht mehr passte. In dem Dinge lauerten, die sie nie wieder aus der Nähe hatte betrachten wollen.
»Habt ihr Hunger?«, fragte Diane. »Ich kann meine Köchin bitten, euch einen Imbiss zu richten. Oder Tee und Kaffee?«
Nyx’ Blick zuckte automatisch nach links, zu dem Teil des Hauses, in dem sich die Küche befand. Sehnsucht überrollte sie mit Wucht und völlig unerwartet. Plötzlich hatte sie Heimweh nach dem Duft von Pablos Kürbislasagne. Sie wünschte, sie könnte in die Küche schleichen und den Koch dabei erwischen, wie er Lu einen Kuss auf die Wange drückte. Aber Lu und Pablo waren nicht mehr da. Sie hatten vier Monate nach Leons Tod gekündigt.
Bis heute wusste Nyx nicht, warum Lu gegangen war. Sie war die Gouvernante der Kinder gewesen, ein Coach in Sachen Selbstverteidigung, und eine Vertraute. Ihr Weggang aus Wildridge hatte Nyx zwar nicht sofort aus dem Haus getrieben. Aber er gehörte zu einer Reihe von Auslösern, die dazu führten, dass Nyx und James sich von Diane lossagten.
Sie erinnerte sich an einen Streit zwischen Lu und Diane. Er lag viele Jahre zurück, länger noch als Leons Tod. Doch Lu schien bereits damals gegen Dianes Erziehungsmethoden anzukämpfen. In Gegenwart ihrer Schützlinge sprach sie es nie laut aus, aber hinter verschlossenen Türen hielt sie mit ihrer Kritik nicht hinterm Berg.
Du schränkst sie zu sehr ein.
Was ich tue, ist zu ihrem eigenen Besten.
Du hast Teenager im Haus, Diane. Die drei brauchen Freiraum, die Möglichkeit, herumzuexperimentieren. Sie müssen doch rausfinden dürfen, wer sie sind – und wer sie sein wollen.
Wenn die drei normale Teenager wären, würde ich dir recht geben. Aber das sind sie nicht. Wenn du und ich als Jugendliche ›herumexperimentiert‹ hätten, hätten wir uns höchstens ein paar Narben eingefangen. Ein paar verkaterte Morgen danach oder Tätowierungen, die wir später bereuen. Wenn die drei nicht aufpassen, können sie sich selbst und anderen irreparablen Schaden zufügen. Sie könnten sich verlieren oder in den Urkräften, die durch sie strömen, untergehen.
Nyx, James und Leon hatten dieses Gespräch belauscht. Keine zehn Minuten später schlug Leon vor, dass sie sich heimlich Tattoos stechen lassen sollten. Das hatten sie getan. Leon entschied sich für das Sternbild Canis Major, James wollte die Feder eines Eichelhähers mit blauen Schattierungen. Nyx wählte eine kleine, stilisierte Eule, die sie hinter ihrem Ohr trug. Das Motiv erinnerte sie an Käuzchen, die zwischen Olivenbäumen dahinglitten, und an die Plüscheule, die Leon und James ihr geschenkt hatten.
Für Nyx war die Eule eine Verbindung zu ihrer alten und ihrer neuen Familie, zu den beiden Jungen, die ihre Brüder in allem waren außer im Blut.
Erst vor einem Jahr hatte sie sich ein zweites Tattoo stechen lassen. James war in Tel Aviv unterwegs gewesen, und Nyx hatte das Gefühl, in einen Schwebezustand zu rutschen, in dem sie nicht mehr genau wusste, wer sie war und wohin sie gehörte. Das Tattoo an ihrem Bein löste dieses Gefühl nicht auf, aber es knüpfte ein Band zu dem Großvater, den sie vermisste, den Jungen, mit denen sie aufgewachsen war, und ihren Eltern.
Dieses Tattoo kannte James noch nicht. Würde er das Motiv erkennen, wenn sie es ihm zeigte? Würde er sich an die einzige Geschichte erinnern, die Nyx von ihrer leiblichen Mutter geblieben war?
»Soweit ich weiß, haben wir keine Hafermilch da«, fuhr Diane an Nyx gerichtet fort. »Aber du kannst einen Earl Grey bekommen, wenn du willst.«
Wenn das ein Versöhnungsangebot sein sollte, war es ziemlich dürftig. »Nein, danke«, sagte Nyx.
»Ehrlich gesagt, sind wir ziemlich durch«, sagte James. »Wäre es okay, wenn wir uns erst mal aufs Ohr hauen?«
Diane hob eine Augenbraue und lächelte milde. »Ihr wollt nachts schlafen? Das ist ja mal was Neues.«
Niemand lachte. Mit jeder Minute, die verstrich, wünschte sich Nyx, sie wäre überall, bloß nicht hier. Instinktiv sah sie sich nach James um, doch er mied ihren Blick. Seit ihrem Aufbruch in Whitechapel war er seltsam in sich gekehrt. Vielleicht ging ihm sein Streit mit Sami nah. Vielleicht war er genauso deprimiert darüber, zurück zu sein, wie Nyx.
James rieb sich übers Gesicht und drehte seine Hand in einer ›Was soll man machen‹-Geste. »Es spricht nichts gegen eine Pause, oder?«, fragte er. »Die Welt wird nicht direkt heute Abend untergehen?«
Diane schnaubte. »Ich denke nicht, nein«, sagte sie. »Ich habe eure alten Zimmer für euch herrichten lassen. Erin, du kannst dich ins blaue Gästezimmer zurückziehen. James zeigt dir, wo es ist.«
Immerhin war sie nicht auf die Idee gekommen, Erin in Leons altem Zimmer unterzubringen. Ein bisschen Taktgefühl besaß sie also doch.
Erin murmelte ein knappes »Danke«. Sie stand auf der anderen Seite von James und hielt penibel Abstand zu Diane und Nyx. Nicht zum ersten Mal fragte sich Nyx, was in Erin vorging. Momentan fehlte ihr allerdings die Energie, um sich über diese neue Person in ihrem Radius Gedanken zu machen. Erin wollte helfen. Das musste als Information vorerst genügen.
»Was meint ihr?«, fragte James Erin und Nyx. »Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber ich habe seit vorgestern nicht geschlafen.«
»Sind wir sicher, dass wir nicht sofort was tun sollten?«, fragte Erin mit einem eindringlichen Blick in James’ Richtung.
»James hat recht«, erwiderte Diane. »Was auch immer uns bevorsteht, wir brauchen dafür so viel Kraft wie möglich. Ruht euch aus. Wir reden morgen.«
»Okay?«, fragte James. Erin nickte, und die beiden gingen zur Treppe nach oben. Nyx setzte sich ebenfalls in Bewegung, als Diane ihren Arm berührte.
»Nyx.«
Diane sah sie an, und Nyx zwang sich, ihren Blick zu erwidern. Sie fragte sich, ob Dianes Schlaf immer noch von Albträumen heimgesucht wurde.
Nyx senkte den Blick. Wenn sie jetzt sagt, dass sie froh ist, mich wieder hier zu haben, schreie ich.
»Ich bin froh, dass es dir gut geht.«
Sie war zu überrumpelt, um etwas zu erwidern, nickte jedoch automatisch. Dann ging sie nach oben.