Nyx

Wildridge Hall | Jetzt

Sie stand in einer Wüste aus toten Vögeln. Ihre Leiber drückten gegen ihre Schienbeine, und ihre hohlen Knochen knisterten wie abgestorbenes Holz. Nyx wollte fort von hier, wollte laufen, rennen, konnte sich jedoch nicht bewegen. Die Luft war dick und schwer und voller Staub, der in ihrer Lunge kratzte.

Etwas packte ihre Fußknöchel und zog. Mit einem Ruck sackte sie in den Boden. Verzweifelt griff sie um sich, doch die Vogelleichen rutschten unter ihren Händen weg, glitten hinunter wie in den Rachen eines Trichters. Sie hörte das Mahlwerk des Vortex, spürte seinen Sog.

Komm nach Hause, flüsterte eine Stimme.

Nyx erwachte mit einem erstickten Schrei. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie erkannte, wo sie war. Wildridge Hall. Ihr altes Zimmer. Dieselben Tapeten mit den winzigen Rosen an der Wand.

Mit pochendem Herzen richtete Nyx sich auf und zog den schweißnassen Stoff ihres T-Shirts von ihrer Haut. Hatte sie wirklich geglaubt, sie könnte ihre Vision einfach wegstecken? So viel dazu.

Sie wünschte sich, sie könnte den Traum von eben aus ihrem Bewusstsein pflücken. Aus eigener Erfahrung wusste sie jedoch, dass ihr das nicht gelingen würde. Sie konnte nur die Träume anderer Menschen verändern. Nicht ihre eigenen.

»Fuck«, murmelte sie. Was zur Hölle passierte mit ihr? Sie hatte das Gefühl, sie geriet aus den Fugen. Lag das an ihrer Vision? Oder an der Rückkehr nach Wildridge?

Du kennst die Ursache, flüsterte ihre innere Stimme. Du weißt, welcher Fehler dich heimsucht. Und zu Recht.

Plötzlich erschien ihr die Dunkelheit um sie herum erdrückend. Zum ersten Mal in ihrem Leben fürchtete sie sich vor der Nacht.

Das stimmt nicht, beharrte die Stimme in ihrem Kopf. Denk an den Abgrund.

Und Nyx erinnerte sich. Sie erinnerte sich an jene fatale Nacht, als sie zum letzten Mal gemeinsam mit James und Leon hinter die Mondtür gegangen war. Sie waren weit vorgedrungen. Weiter als je zuvor, über das Firmament, bis sie eine Stelle erreichten, an der …

Nyx schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Sie musste hier raus. Musste sich bewegen oder sonst wie ablenken. Ihre Hand streckte sich bereits nach der Nachttischlampe aus, aber dann sah sie auf und erstarrte.

Ihre Zimmertür stand einen Spalt weit offen. Sie hatte sie zugemacht, da war sie sich ganz sicher.

Nyx fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Sei nicht albern, sagte sie sich. Das ist ein altes Haus, die Türen schließen nicht richtig, das kann schon passieren.

Sie wollte aufstehen, aber plötzlich konnte sie sich nicht rühren. Namenlose Furcht krabbelte von ihren Zehen ihre Beine hinauf. Ihr Blick hing an dem Türspalt, dem Streifen tiefschwarzer Finsternis.

Was, wenn sie die Tür öffnete und die Wahre Nacht

Ich verliere die Kontrolle, wisperte etwas in ihr, und die Angst kroch hinauf in ihre Brust. Sie hörte ein Knistern, ein Flüstern wie von winzigen Sandkörnern, die eine Schräge hinunterrieselten. Unmöglich zu sagen, ob sie sich das einbildete oder ob sie die Geräusche tatsächlich hörte.

Schließ die Tür. Schließ einfach die Tür.

Sie wiederholte die Aufforderung in ihrem Kopf, doch das Echo einer anderen Stimme war lauter.

Wir müssen weg hier, wir müssen zurück!

Nyx, hilf mir!

Sie klammerte sich an den Rand der Matratze. Ein Leuchten kroch den Rand ihrer Tür hinauf, unheimlich und flackernd wie Elmsfeuer. Das Rauschen des Sandes – des Sternenstaubs – wurde lauter. Glimmende Fingerspitzen schoben sich hinter der Tür hervor.

Jemand klopfte an den Türrahmen, und sie fuhr so heftig zusammen, dass sie mit dem Arm gegen den Nachttisch schlug.

»Shit!«

»Nyx?« James’ Stimme drang zu ihr, kurz bevor er die Tür aufschob. »Alles in Ordnung?«

Sie krümmte sich über ihren schmerzenden Ellbogen, sah hoch, sah James … und die Zimmertür, die nur in den Flur hinausführte und sonst nirgendwohin.

James Augen weiteten sich, dann lief er zu ihr und setzte sich neben sie. »Hey, hey. Du zitterst ja.«

Das tat sie. Sie hatte es gar nicht bemerkt. James griff behutsam nach ihrem Arm, und sie ballte die Fäuste so fest, dass ihre Fingerknöchel knackten.

»Ich glaube, ich drehe durch.«

Die Nacht war immer ihre Zuflucht gewesen, doch jetzt sehnte sie den Tag herbei. Das Gefühl bereitete ihr Übelkeit, ließ sie noch verunsicherter zurück, als sie es ohnehin schon war.

James schob seine Hand in ihre und verschränkte ihre Finger miteinander. Normalerweise hielt sich Nyx mit Berührungen zurück, aber jetzt brauchte sie den Kontakt. Sie musste sichergehen, dass James bei ihr war.

»Was ist los?«, fragte er.

Sie hatte Angst. Angst, dass alles aus ihr herausbrach, wenn sie anfing, zu reden. Es war Unsinn, denn vor James musste sie sich nicht verstecken. Er wusste, was passiert war. Was sie getan hatte. Und dennoch, wenn sie sich vorstellte, über Leons Tod zu sprechen, darüber, wie die Erinnerung daran alles tränkte, was sie jetzt erlebte, schnürte sich ihre Kehle zusammen.

Aber sie konnte das, was sie umtrieb, nicht mehr für sich behalten. Sie würde ersticken, wenn sie es versuchte. Also erzählte sie James von dem, was auf Freyas Dach passiert war. Sie beschrieb die Sternengestalt, die sie gemalt hatte und die vielleicht zum Leben erwacht war. Dieselbe Gestalt, die in ihrer Vision zurückgekehrt war. Die sich nach Nyx ausgestreckt hatte, während sie hilflos über dem Abgrund schwebte.

James hielt weiter ihre Hand. »Ich wusste nicht, dass das Malen für dich so wichtig geworden ist.«

Er klang genau so wie damals, als er die kleine Eule vor ihrem Versteck abgestellt hatte.

»Es hilft mir«, sagte Nyx. »Ich kann die Träume nicht mehr so gut loslassen wie früher. Wenn ich sie male, werde ich sie los.« Sie seufzte. »Zumindest hat das bisher funktioniert. Aber

James’ Finger zuckten. Vielleicht sollte sie jetzt aufhören. Was sie sagte, musste ihn aufwühlen. Aber die Worte rutschten trotzdem über ihre Lippen.

»Ich weiß, du glaubst, der Anruf bei dir war ein Trick. Aber ich habe das Gefühl, als würde er versuchen, in meine Nähe zu kommen«, gestand sie. »Oder etwas, das ihm sehr ähnlich ist. Und ich weiß nicht, was schlimmer wäre. Wenn tatsächlich etwas hinter mir her ist oder wenn ich mir alles nur einbilde.«

Sie schluckte. Kurz fand sie keine Worte, dann sagte sie: »Ich habe Angst.«

James sog die Luft ein. Er drehte sich zu ihr, so dass seine Stirn ihren Kopf berührte. Für ein paar Augenblicke lehnten sie sich aneinander.

»Es wird alles gut«, sagte er schließlich. »Wir finden raus, was los ist, und dann bekommen wir es in den Griff.«

Er legte auch seine zweite Hand über ihre bereits verschränkten Hände. Wir, dachte Nyx. Das Wort, seine Nähe fluteten sie mit Erleichterung. Sie hatte keine Antworten, keine Vorstellung davon, was als Nächstes passieren würde. Aber zusammen würden sie es aushalten können.

»Eulchen«, murmelte James.