James

Die Sonne war immer noch nicht aufgegangen, als James und Nyx in die Küche umzogen. James war dankbar für den Ortswechsel. Hätte er noch länger in Nyx’ Zimmer gesessen, dort, wo sich sein Magen bei jedem Satz, den sie sagte, fester verkrampfte, hätte er sich nicht mehr zusammenreißen können.

In der Küche fiel es ihm leichter, die Ruhe zu bewahren. Er toastete Brot und machte Erdnussbutter-Sandwiches, während Nyx Tee kochte. Die Beschäftigung schien auch ihr zu helfen. Zuerst verschwand der getriebene Ausdruck aus ihren Augen. Dann kehrte sogar ein wenig Farbe auf ihre Wangen zurück.

James versuchte, sie nicht allzu offensichtlich zu beobachten. Der Drang, sie in den Arm zu nehmen und irgendwohin zu bringen, wo sie vor allem und jedem sicher war, rumorte in ihm. Er roch an der Erdbeermarmelade, atmete ihren Sommerduft ein und kleckste sie auf die Brote. Er musste seine Hände bewegen, sonst würde die Panik aus ihm herausbrechen.

Kurz davor, in einen Strudel zu geraten. So fühlte sie sich gerade.

Nein, dachte er. Es durfte nicht wahr sein. Es konnte nicht stimmen. Nicht einmal dieses verdammte Universum, in dem sie lebten, wäre so grausam.

Das Universum ist nicht grausam, flüsterte seine innere Stimme. Es schert sich nur einen Scheiß um euch.

Erins Worte hämmerten in seinem Kopf wie ein nicht zu bremsender Trommelschlag. Deine Schwester saß gestern im selben Café wie ich.

Das war ein Zufall, hatte er behauptet. Sie ist keine Trägerin.

Bist du dir sicher?, hatte Erin gekontert. Sie hat versucht, nach meiner Tasche zu greifen, das ist doch seltsam?

Ich werde mit ihr reden.

Und genau das hatte er vorgehabt. Deshalb war er zu Nyx’ Zimmer gegangen. Um endlich seinen Kopf aus dem Sand zu ziehen und sie zu fragen, was sie in dem Café gemacht hatte. Er hatte sich fast davon überzeugt, dass sich alles aufklären würde, dass Erin mit ihrem Verdacht natürlich falsch lag. Doch dann erzählte ihm Nyx von Schwindelgefühlen, von Trancezuständen und von Visionen, in denen sie über einem Scheißabgrund schwebte.

Er brachte es nicht über sich, Nyx zu offenbaren, was er befürchtete. Er konnte es einfach nicht.

Sie aßen ihre Sandwiches, tranken den Tee, sprachen über Lu und Pablo und darüber, dass die Küche immer noch der beste Platz im ganzen Haus war. Irgendwann stahl sich rosafarbenes Dämmerlicht durch die breite Fensterfront.

Nyx schob ihren Teller von sich. »Ich glaube, ich gehe ein paar Schritte durch den Park.«

James bemühte sich, seine Tasse nicht noch fester zu packen. »Soll ich mitkommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss meine Gedanken sortieren. Das verstehst du, oder?«

»Klar.«

Sie lächelte, öffnete die Glastür, die nach draußen führte, und ging. James wartete ein paar Augenblicke, dann stützte er die Stirn auf seine Hände.

»Scheiße«, murmelte er. »Verdammte Scheiße

Eine Trägerin aus den Siebzigern sprach in einem aufgezeichneten Interview von einem Sog, dem Geräusch eines reißenden Flusses, der sie nachts nicht schlafen ließ. In einer anderen Quelle wurde berichtet, dass manche Träger einen anschwellenden Druck in ihrem Innern wahrnahmen, ›als ob der Wasserspiegel in einem Brunnen ansteigt‹. Ein Chronist, der einen Träger bis zu dessen Tod durch Erhängen begleitet hatte, erzählte, dass die Fähigkeiten dieses Nachtboten sich verändert hatten, dass sie seiner Kontrolle entglitten und ein Eigenleben entwickelten.

Das alles war absurd. Nyx konnte keine Trägerin sein. Sie waren so geeicht darauf, die Symptome zu erkennen, sie würde wissen, wenn es sie traf. Sie würde es spüren. Er würde es spüren. Bereits auf der Zugfahrt hierher hatte er vorsichtig nach ihrer Aura gegriffen, aber die hatte sich angefühlt wie immer. Kein warnendes Prickeln, kein messbarer Anstieg von Chaos in ihrer Ausstrahlung.

Diane hatte ihnen tausendmal eingebläut, dass nur diejenigen zum Träger wurden, die zu nachlässig oder zu undiszipliniert waren. Unter allen Menschen, die James kannte, war Nyx diejenige mit der größten Selbstkontrolle.

Sie war es nicht. Sie war nur aufgebracht wegen all dem abstrusen Mist, der gerade passierte. Aber James’ Angst, dass er die Wahrheit längst wusste, wuchs und wuchs.

Er trat aus der Küche hinaus auf die Terrasse. Von hier aus führte eine Treppe hinunter auf den Rasen von Wildridge Park. Blasser Morgendunst hing in Fetzen über dem Gras und dem trockengelegten Pool, der im Windschatten des Herrenhauses lag. James ließ den Blick über den Eichenwald schweifen, der

Was sollte er tun? James verschränkte die Hände im Nacken. Die Ahnung, dass sie auf eine Katastrophe zusteuerten, drohte ihn niederzudrücken. Und warum zur Hölle stießen sie plötzlich an allen Ecken auf Spuren von Leon? James presste die verschränkten Hände gegen seinen Nacken. Er dachte an das Weiße Rauschen, an den Kosenamen.

Jay Bird.

Er war sich so sicher gewesen, dass ihn ein Unbekannter mit dem Anruf aus der Bahn werfen wollte. Doch jetzt verriet Nyx, dass sie Visionen von einer gesichtslosen Gestalt hatte, die sie an Leon erinnerte? Was steckte dahinter? Eine Erinnerung, ein Geist oder ein Trick, den ihnen irgendjemand spielte? Wie passte das alles zusammen?

James wollte seinen Frust hinausschreien. Er war so kurz davor. Dann sah er die Gestalt, die auf einer der breiten Liegen vor dem Pool lag.

James atmete aus, löste die Hände und stieg die Treppe hinunter. Erin lag eingewickelt in eine Decke auf der Liege und sah hoch zum Horizont, wo ein schwacher Lichtschein glomm.

»Hey«, sagte er.

»Hey«, antwortete sie. »Ich dachte, du wolltest schlafen?«

Er zuckte mit den Schultern und setzte sich auf die Liege neben ihr. »Ich hab’s versucht.«

»Hast du mit Nyx geredet?«, fragte sie.

Er nickte, doch als sie zur nächsten Frage ansetzte, kam er ihr zuvor. »Können wir das aufschieben? Können wir hier einfach einen Moment sitzen, ohne Probleme zu wälzen?«

Erin sah ihn nachdenklich an. »Okay«, sagte sie schließlich, drehte sich zurück auf den Rücken und rutschte tiefer unter ihre Decke.

»Ich habe Angst vor der Dunkelheit«, sagte Erin plötzlich. »Hab ich schon, seit ich klein bin.«

Überrascht drehte er sich zu ihr um.

»Ich schätze, ich habe zu viele Geschichten über Monster und Geister gehört, die sich nachts herumtreiben.« Sie lachte matt. »Nicht besonders hilfreich für jemanden mit einer lebhaften Phantasie. Ich hatte schon immer viele Albträume.«

James hatte keine Ahnung, warum sie ihm das anvertraute, aber er hatte wieder dieses eigenartige Gefühl des Erkennens. Irgendetwas an Erins schroffer Art, an ihrer Angewohnheit, alle um sich herum genau im Blick zu behalten, ließ ihn vermuten, dass sie in ihrem Leben ähnliche Erfahrungen gesammelt hatten. Als wären sie Soldaten, die sich nie zuvor begegnet waren, die jedoch in denselben Gräben gekämpft hatten.

Plötzlich erinnerte er sich daran, dass sie heute Morgen überrascht gewesen war, wie gut sie geschlafen hatte. War es möglich? Hatte Nyx nach Erin gegriffen, um einen Albtraum zu entfernen? Ja, das wäre eine Erklärung.

Konnte Nyx etwas derart Freundliches tun und Erin gleichzeitig zum Chaosverfall verdammen? Das passte in seinem Kopf nicht zusammen. Doch wenn es so war und sie selbst nicht wusste, was sie anderen Menschen antat … James wurde kalt. Das würde Nyx zerstören.

Er schob die Gedanken beiseite. »Ich liebe die Dunkelheit«, sagte er. »Sie tröstet mich. Ich schätze, sie lässt mich durchatmen. Das Leben ist ziemlich laut und kompliziert, findest du nicht? Wenn du es zulässt, kann die Dunkelheit ein Ruhepol sein. Ein Ort, an dem du nicht denken oder reagieren musst. Wenn es dunkel ist, wenn der Rest der Welt schläft, darfst du loslassen und einfach, hm.« Er lächelte. »Einfach sein

Erin schwieg.

»Ja«, antwortete sie leise.

James stand auf und ging zu ihr hinüber. Sie machte ihm Platz. Er legte sich neben sie und zupfte an ihrer Decke.

»Darf ich?«

Sie schälte sich aus ihrem Kokon. Er nahm die Decke und breitete sie über sie beide aus. Die Dunkelheit darunter war warm und sanft, aber nicht undurchdringlich. James konnte die blasse Rundung von Erins Wange sehen, einen Arm, eine Schulter. Sie trug eins von Samis Sweatshirts, das ihr viel zu groß war.

Ein Windhauch strich über sie hinweg und ließ die Decke schaudern wie eine Zeltplane.

»Dunkelheit hat verschiedene Abstufungen«, sagte James. »In Neumondnächten kann sie so dicht und schwarz werden, dass sie dich ganz einhüllt, dich vor allem abschirmt. Oder sie ist wie jetzt, kurz vor dem Anbruch der Dämmerung. Dann ist sie samtgrau, still, und sobald sich deine Augen an sie gewöhnt haben, kannst du Formen und Schattierungen wahrnehmen. Kannst du sehen?«

»Ja«, antwortete Erin.

»Es gibt ein altes englisches Wort für diese Art der Dunkelheit«, sagte er. »Owl Leet

»Eulenlicht?«, mutmaßte Erin.

»Mh-hm.«

Sie lagen so dicht beieinander, dass James einen Hauch ihres Atems auf seinem Gesicht spürte.

»Hast du Angst?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie und sah ihn unverwandt an.

Eulen. Eichelhäher. Das war ihm nie bewusst gewesen, aber ein paar seiner besten Erinnerungen waren mit Vögeln verknüpft. Er dachte an ein Lied, das seine Mutter ihm

Eye mélo tolongo wáyé? Ọ̀kan dúdú aro, Tolongo!

Wie viele Vögel folgten Rotkehlchen in die Welt? Ein Vogel war indigoblau, Rotkehlchen.

James schloss die Augen und wünschte sich, er könnte in diesem Moment bleiben.