Surrey | Zehn Jahre zuvor
Nyx saß im Warteraum des Krankenhauses und musste miterleben, wie Diane Leon zusammenfaltete. Wären sie an einem weniger öffentlichen Ort, würde sie ihn anbrüllen. So jedoch ließ sie einen Hagelsturm an gezischten Vorwürfen auf ihn niederprasseln.
»Mir war klar, dass du dich einen Dreck um die Regeln scherst, die andere beschützen«, fauchte sie. »Aber ich dachte, du wärst zumindest intelligent genug, um dein Leben und das deiner Geschwister nicht aufs Spiel zu setzen!«
Leon saß mit geducktem Kopf und auf den Schenkeln geballten Fäusten vor ihr. Das blonde Haar fiel ihm ins Gesicht, aber Nyx konnte sehen, wie seine Unterlippe zitterte.
Ein Stockwerk unter ihnen lag Kiersten Hayles, das Mädchen, das Leon in einen Schlaf versetzt hatte, aus dem sie nicht aufwachte. Sie war eine Mitschülerin, eine aus einer Gruppe Teenager, die Leon, Nyx und James bereits seit der fünften Klasse drangsalierten. Bisher hatte Leon nur verbal zurückgefeuert, hauptsächlich weil James zur Stelle war, um ihn zu erden. Aber seit gestern lag James im selben Krankenhaus wie Kiersten.
Nyx war bei Kierstens Attacken gegen Leon nicht dabei gewesen. Als sie Leon später fragte, was genau passiert war, wollte er es nicht sagen. Von anderen erfuhr Nyx jedoch, dass Kiersten hinausposaunt hatte, sie wäre über James’ Verletzungen nicht überrascht. Adoptivkinder aus sozial benachteiligten Schichten gerieten früher oder später in Schlägereien, das war ja nichts Neues.
James hatte nie einer benachteiligten Schicht angehört. Seine Eltern waren Professoren in Cambridge gewesen. Und zu der ›Schlägerei‹ war es gekommen, weil ein Mob aus fanatischen Mistkerlen James, Leon und Nyx überfallen hatte. Wären die Schläger besser vorbereitet gewesen, hätten Nyx und die anderen etwas weniger Glück gehabt, dann hätte der Mob sie umgebracht. Deshalb hatten die Söhne der Schöpfung, eine radikale Sekte von Nachtjägern, ihnen aufgelauert.
Nyx’ Bauch tat immer noch weh. Dort, wo einer der Kerle sie ins Zwerchfell geboxt hatte, befand sich ein dunkler Bluterguss. Leon war wortwörtlich mit einem blauen Auge und einer Prellung im Gesicht davongekommen, aber James hatte eine Gehirnerschütterung und einen gebrochenen Arm davongetragen.
Nyx konnte sich gut vorstellen, was in Leon vorgegangen war, als Kiersten ihren Bullshit verbreitet hatte.
»Hast du auch nur eine Ahnung, was du angerichtet hast?«, wetterte Diane weiter. »In welche Gefahr du uns alle gebracht hast? Und was ist mit dem Mädchen? Was ist mit ihr? Der Erste Tag und sämtliche Möchtegern-Inquisitoren glauben, ihr seid Monster, und du hast nichts Besseres zu tun, als genau das zu bestätigen!«
Nyx war übel, und das hatte nichts mit ihren Blessuren zu tun. So hatte sie Diane noch nie erlebt. Sie blieb immer gefasst, selbst wenn sie sich über irgendetwas ärgerte. Dass sie jetzt derart die Beherrschung verlor, erschreckte Nyx und lähmte sie gleichermaßen.
»Reicht dir nicht, was mit James passiert ist?«, fuhr Diane Leon an. »Oder hast du zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, war das der Grund?«
Leon zuckte zusammen, und auch Nyx sog scharf die Luft ein. Sie wollte widersprechen, aber Diane fuhr ihr barsch über den Mund.
»Fang du nicht auch noch an!« Sie machte einen Schritt zurück, wischte sich die Haare aus der Stirn und atmete aus.
Behutsam streckte Nyx die Hand nach Leon aus, aber als ihre Fingerspitzen seine Faust berührten, riss er seine Hand aus ihrer Reichweite und stand auf. Ohne Diane oder Nyx anzusehen, stürmte er aus dem Warteraum.
Diane ließ ihn gehen. »So ein verdammter Schlamassel«, murmelte sie. Ihr Handy summte. Sie warf einen Blick aufs Display und sagte: »Joss ist da.«
Nyx schluckte trocken. »Warum?« Josephine war Dianes Spitzel im Orden des Ersten Tages und ihre älteste Freundin. Nichtsdestotrotz hatte sie ihre Adoptivkinder bisher vor Josephine abgeschirmt. Dass sie jetzt hier war, konnte nichts Gutes bedeuten.
»Warum Joss hier ist?«, fragte Diane in bitterem Tonfall. »Damit wir die Vorfälle mit James und dem Mädchen vertuschen können, bevor der Erste Tag Wind davon bekommt.« Noch einmal stieß sie den Atem aus, dann glättete sie ihre Bluse und ihr Gesicht.
»Geh«, sagte sie zu Nyx. »Such deinen Bruder und sorg dafür, dass er nicht noch mehr Chaos anrichtet.«
Irgendwann verschwand Diane mit Josephine, vermutlich, um an der Vertuschung zu arbeiten. Lu sollte Nyx und Leon nach Hause bringen, aber das tat sie nicht. Sie wusste, dass die beiden nicht von James’ Seite weichen wollten, nicht jetzt.
»Lasst euch nicht erwischen«, mahnte Lu und machte es sich mit einem Becher Kaffee und einem Liebesroman im Warteraum gemütlich.
Nyx und Leon schlichen sich am Krankenhauspersonal vorbei. Die Besuchszeit war längst vorüber. Sobald sie jemand bemerkte, würde man sie hochkant rausschmeißen. Doch Nyx und Leon waren gut darin, sich ungesehen zu bewegen.
Eine halbe Stunde später saßen sie in James’ Zimmer und aßen den Proviant, den Pablo für sie gepackt hatte: Sandwiches mit Schinken und Käse, Brownies und Apfelschnitze.
James war blass unter seinem Kopfverband und offensichtlich erschöpft, aber er tat so, als wäre alles bestens. Nyx machte sich Sorgen. In letzter Zeit bekam sie den Eindruck, dass James häufiger den Gelassenen mimte, obwohl ihn etwas verstört oder geärgert haben musste. Sie hatte jedoch keine Ahnung, wie sie das ansprechen sollte.
James war gut darin, zu trösten. Dank seiner Ermutigung fühlten sich Nyx und Leon sicher genug, um über alles zu reden, was sie beschäftigte. Nyx hingegen war nicht gut darin, Gespräche anzustoßen. Überhaupt fiel es ihr schwer, irgendeine Art von Nähe zu initiieren.
Vorhin, nach dem Eklat mit Diane, hatte sie versucht, Leon zu umarmen. Aber er war so starr und unnachgiebig in ihren Armen stehen geblieben, dass sie es gleich wieder sein ließ.
Jetzt warf sie ihm verstohlene Blicke zu. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und einen mürrischen Zug um den Mund. Seine rastlosen Finger zupften einen Brownie auseinander, während er sich über Dianes Tirade ausließ.
»Es war verdammt nochmal keine Absicht, okay?«, sagte er. »Aber ihr hättet Kiersten hören müssen. Und ihr Gesichtsausdruck!« Er zerdrückte ein Stück Brownie und warf es zurück auf den Campingteller. »Ich wollte sie nicht in ein Koma versetzen, egal, was Diane denkt. Aber ganz ehrlich, sie hat gekriegt, was sie verdient hat.«
Trotzig hob er den Kopf und taxierte Nyx und James mit einem herausfordernden Blick. Als wartete er nur darauf, dass sie ihm auch Vorwürfe machten.
Aber Nyx erinnerte sich daran, wie erschrocken Leon ausgesehen hatte, als die Sanitäter Kiersten zum Krankenwagen trugen. Sicher, ab und zu hatte er sein Talent eingesetzt, um Leute in ein unverhofftes Nickerchen zu schicken. Aber noch nie hatte er jemanden in einen komatösen Schlaf versetzt. Was auch immer er Kiersten angetan hatte, er hatte es nicht unter Kontrolle gehabt. Und das jagte ihm Angst ein.
James griff nach Leons Hand. Der verzog das Gesicht, machte Anstalten, ihm seine Hand zu entziehen, doch als James seine Finger um die von Leon schloss, schien der Widerstand aus ihm zu weichen.
»Weißt du, wie du sie wieder aufwecken kannst?«, fragte James sanft.
Leons Schultern sackten nach unten, und die zornige Maske rutschte ihm vom Gesicht. »Nein«, gab er zu.
Daraufhin sagte niemand mehr etwas. James strich mit dem Daumen über Leons Fingerknöchel, bis dieser die Augen schloss.
»Diane hat keine Ahnung«, sagte Leon schließlich bitter. »Keine Ahnung von irgendwas. Wenn sie uns nicht die ganze Zeit ausbremsen würde, könnte ich herausfinden, was ich kann. Was ich wirklich kann. Und ihr auch.« Er zog seine Hand aus Leons Griff und stand auf. »›Tu dies nicht, tu das nicht‹. Das ist alles, was sie draufhat. Warum hören wir überhaupt auf sie? Sie ist keine Nachtbotin. Sie hat keine Ahnung, womit wir es zu tun haben. Wie es sich anfühlt!«
Nyx, die am Fußende von James’ Bett saß, schlang die Arme um ihre Knie. Leon wartete offenbar auf eine Antwort, aber James war zu ausgelaugt, und sie war sich nicht sicher, ob er recht hatte. Ja, Diane hielt sie an der kurzen Leine. Aber gab es dafür nicht gute Gründe?
Die Erinnerung an den Überfall drängte sich in den Vordergrund ihres Bewusstseins. Wieder roch sie den sauren Gestank von Schweiß, als einer der Wegelagerer sie von hinten packte. Sie spürte seinen feuchten Atem an ihrem Gesicht, hörte die Angst und den Hass in seiner Stimme.
Du wirst die Welt vernichten. Das lasse ich nicht zu.
Seine Worte rieben wie Stahlwolle über ihren Rücken. Er hatte so überzeugt geklungen. Ein Teil von ihr wollte ihn konfrontieren, ihm antworten. Ihn überzeugen.
Das werde ich nicht. Keiner von uns wird das!
Aber der Kerl war tot. Lu hatte ihm das Genick gebrochen.
»Nyx?«, fragte James. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte. Am liebsten hätte sie sich neben James zusammengerollt und eine Weile an gar nichts mehr gedacht. Doch dafür waren sie mittlerweile zu groß, oder nicht?
Draußen erklangen Schritte, und alle drei versteiften sich. Aber die Tür zu James’ Zimmer blieb geschlossen, und die Schritte entfernten sich.
Leon fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ich hasse es hier«, murmelte er. »Fuck, ich wünschte, wir könnten durch die Mondtür gehen.«
»Morgen lassen sie mich nach Hause«, sagte James. »Dann ist es das Erste, was wir machen.«
»Wenn Diane uns aus den Augen lässt«, erwiderte Leon grimmig.
James seufzte.
Nyx sagte: »Wir müssen nicht warten, bis wir zu Hause sind.«
Überrascht sahen die Jungen sie an.
»Ich kann den Weg hier öffnen«, erklärte sie. »Wir müssen nicht durch die Mondtür gehen.«
»Du kannst andere Türen zur Nacht öffnen?«, fragte James. »Einfach so?«
Nyx nickte.
»Seit wann?«, hakte James nach.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hab’s vor ein paar Monaten bemerkt.«
Es war in der Schule gewesen, an einem regnerischen Nachmittag. Sie war an der Tür zum Musikzimmer vorbeigegangen und hatte plötzlich einen Zug in sich gespürt, ein Aufschäumen unter ihrer Brust. Sie hatte die Tür betrachtet, und plötzlich hatte sie die Kraft in ihrer Hand gespürt – sacht, wirbelnd, wie schaumige Gischt, die über einen Strand rutschte.
»Ist doch egal«, sagte Leon. »Kannst du den Weg jetzt öffnen? James, bist du fit genug, um aufzustehen?«
James zögerte einen Moment, den Blick immer noch auf Nyx gerichtet, dann antwortete er: »Ich glaube schon.«
»Nyx?«
Unter Leons erwartungsvollem Blick rutschte sie vom Bett und ging hinüber zur Badezimmertür. Es dauerte ein paar Sekunden, dann standen James und Leon direkt hinter ihr.
»Bist du sicher, dass du das schaffst?«, fragte sie James.
Er hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »Durchatmen in der Nacht klingt gut, ehrlich gesagt.«
Leon schlang den Arm um James’ Taille, und Nyx wusste, dass er James festhalten würde, falls er strauchelte. Leons Blick, der jetzt fast fiebrig wirkte, blieb jedoch auf die Tür gerichtet.
Kurz durchzuckte Nyx der Zweifel, aber dann spürte sie das seidige Streicheln ihres Talents in ihrer Handfläche. Sie war vielleicht nicht gut darin, andere zu umarmen oder sie aus der Reserve zu locken, aber das hier war etwas, was sie konnte. Was sie für Leon und James tun konnte, die jetzt ein paar Momente Ruhe an einem vertrauten, sicheren Ort brauchten. Denn genau das war die Sphäre der Wahren Nacht. Sie war der eine Ort, der sich mehr wie zu Hause anfühlte als alles andere.
Für Leon. Für James.
Und für Nyx.
Als Nyx die Tür hinter ihnen schloss, atmete sie als Allererstes tief durch. Die Nacht breitete sich um sie herum aus, dunkel, kühl und befreiend endlos.
Wie immer lag das Firmament wie ein Teppich unter ihren Füßen. Sie wünschte sich, sie hätte daran gedacht, die Schuhe auszuziehen. Mit schmutzigen Sohlen über die Sterne zu gehen, fühlte sich falsch an.
Es war nicht das Einzige, was sich heute falsch anfühlte. Nyx runzelte die Stirn. Da war etwas … ein Brummen oder Vibrieren, das sie spürte, anstatt es zu hören. Irritiert sah sie sich um, konnte die Quelle des Fast-Geräuschs jedoch nicht erkennen. Ihr fiel nur auf, dass heute auffällig weniger Sterne auf dem Boden der Nacht leuchteten als sonst.
Sie wollte James und Leon darauf ansprechen, als ihr Blick auf Leon fiel. Er stand ein paar Meter entfernt, mit dem Rücken zu ihnen.
Noch während Nyx hinsah, erloschen die Sterne im Kreis um Leon wie Kerzen im Wind.
Kalte Furcht ergriff von ihr Besitz. Was ging hier vor?
Als James nach vorne trat, hielt Nyx ihn instinktiv zurück. Er runzelte jedoch nur die Stirn, löste ihre Hand von seinem Arm und ging zu Leon.
Das Rumoren wurde stärker, drang jetzt durch Nyx’ Schuhe in ihre Füße und pochte in ihren Waden hinauf. Der eisige Klammergriff der Angst schloss sich fester um ihre Brust.
Etwas kommt, dachte sie völlig zusammenhanglos.
James war indessen an Leons Seite zurückgekehrt. Er redete leise auf ihn ein, dann legte er den Arm um Leons Schultern. Sie schluckte und zwang sich, näher an die beiden heranzugehen.
»Ich bin okay«, hörte sie James sagen. »Wir sind okay.«
Leon zitterte. Nyx war bis auf Armeslänge an die beiden herangekommen, da drehte sich Leon in James’ Umarmung hinein.
»Ich würde sie aufwecken, wenn ich könnte«, sagte Leon mit brüchiger Stimme.
James lehnte seine Wange an Leons Kopf. »Ich weiß.«
Leon weinte an James’ Schulter, und James hielt ihn mit seinem gesunden Arm fest.
Einer nach dem anderen gingen die Sterne wieder an, bis die beiden Jungen auf einem glitzernden Teich standen. Nyx jedoch richtete ihren Blick in die Ferne. Die Nacht besaß keinen Horizont. Sie bestand nur aus Dunkelheit und dem Schimmer der Sterne, der mit wachsender Entfernung zu einem milchigen Bodennebel zerschmolz. Und noch weiter hinten, da, wo Nyx erst ein Mal gewesen war, schien sich die Schwärze eines lichtlosen Universums auszubreiten.
Wir sind nicht allein.
Dort war irgendetwas. Etwas, das sich zurückzog. Nyx starrte in die Nacht und stellte sich vor, wie der massige Körper eines Leviathans durch sturmschwarze Fluten glitt.