Nyx

Wildridge Hall | Jetzt

Der Himmel färbte sich buttergelb, als Nyx nach Wildridge Hall zurückkehrte. Sie folgte einem Weg zur Südseite des Hauses, schreckte ein paar Stare auf und fuhr mit den Fingerspitzen über die Lorbeerbüsche.

Sie fühlte sich leichter, jetzt, da James alles wusste. In ihrem Kopf wimmelten weiterhin die Fragen, und auch das Gefühl, das etwas oder jemand knapp außerhalb ihrer Wahrnehmung lauerte, hatte sich nicht ganz aufgelöst. Doch nun war sie mit der Ungewissheit nicht mehr allein. Zusammen würden sie Antworten finden, einen Plan entwickeln. Sie dachte daran, wie James und sie in den ersten Monaten nach Leons Tod zusammengehalten hatten. Sie hatten das einmal geschafft, dann würde es ihnen auch ein zweites Mal gelingen. So grauenhaft das alles auch war.

Mit all der frischen Luft in den Lungen war Nyx sogar Diane gegenüber versöhnlicher gestimmt. In Sachen Empathie war Diane eine Katastrophe, aber wenn es darum ging, urkraftverwandte Probleme zu lösen, war sie Expertin. Selbst Nyx konnte das nicht abstreiten.

Sicher, die Zusammenarbeit würde aufreibend werden. In der Vergangenheit hatte Diane sie herumkommandiert. Aber das hieß nicht, dass sie heute in dieselben Muster zurückfallen mussten. Vielleicht könnten sie zur Abwechslung auf Augenhöhe miteinander reden. Womöglich würden sie dann sogar heil aus diesem ganzen Debakel herauskommen.

Sie hatte die Tür kaum geöffnet, da hörte sie bereits das Raunen von Stimmen. Sie erkannte James’ Tenor und Dianes abgehackten Upperclass-Dialekt. Ach ja. Diane frühstückte am liebsten in der Orangerie. Das hatte sich wohl nicht geändert.

Nyx suchte sich einen Weg vorbei an Kumquatbäumen, Myrten und – war das eine Bananenstaude? Diane hatte ihr Gewächshaus gehörig aufgestockt.

Noch konnte sie Diane und James nicht sehen, doch mit jedem Schritt schnappte sie mehr Einzelheiten aus ihrem Gespräch auf. Sie näherte sich einem besonders buschigen Feigenbaum, als Diane sagte:

»Wir dürfen uns nichts vormachen. Und zu zögern wäre fatal, das weißt du sehr genau.«

Nyx blieb stehen. Durch das Blattwerk konnte sie die Sitzecke am Ende des Raums ausmachen, die weißen Rattanstühle, den Tisch, die Tassen und die French-Press-Kaffeekanne. James saß mit dem Rücken zu Nyx. Diane saß ihm gegenüber und hatte die Beine übereinandergeschlagen.

»Ich mache mir nichts vor«, widersprach James. »Es kann immer noch eine andere Erklärung geben.«

Diane lehnte sich vor. »James. Wenn Nyx die Trägerin ist, müssen wir handeln.«

Nyx zuckte zurück wie nach einer Ohrfeige. Sie verstand die Bedeutung von Dianes Worten. Trotzdem ergaben sie keinen Sinn.

»Du hast es selbst gesagt«, drängte Diane. »Nyx war im selben Café wie Erin. Und kurze Zeit später wird Erin beinahe durch einen Chaosverfall getötet. Solche Zufälle gibt es nicht.«

»Sie hat mir erzählt, dass sie jemanden von einem Albtraum befreit hat«, sagte James. »Das muss Erin gewesen sein. Deshalb ist Nyx in ihre Nähe gekommen.«

»Das mag ja sein«, erwiderte Diane. »Aber genauso gut kann sie in dem Moment die Chaospartikel auf Erin übertragen haben.«

Kaltes Entsetzen ergriff von Nyx Besitz, als ihr Kopf die Puzzleteile zusammenfügte. Sie sprachen von dem Vorfall in dem Café gestern. Sie sprachen von der Person, deren Albtraum Nyx manifestiert hatte. Das war Erin gewesen? War das überhaupt möglich?

Ja, das war es. Sie hatte eine Mütze aufgehabt, die ihre gefärbten Haare verdeckte. Und Nyx hatte es nach ihrem tollpatschigen Griff nach dem Frosch so eilig gehabt, zu verschwinden, dass sie sich die andere Person nicht näher angesehen hatte.

Erin. Sie hatte Erin berührt. Und Diane glaubte … James glaubte …

»Es ergibt Sinn«, beharrte Diane. »Ich habe schon damals gedacht, dass Nyx mit ihren Experimenten zu tief in den Abgrund hineingreift.«

»Was?« James klang genauso schockiert, wie Nyx sich fühlte.

»Deine Schwester hat mehr Macht, als sie uns zeigt«, sagte Diane. »Vielleicht sogar mehr, als ihr selbst bewusst ist. Und ich glaube, dass die Art von Leons Tod Nyx erschreckt hat. Vielleicht hat der Schock ihre Energie heruntergedrosselt, vielleicht hat sie sie instinktiv zurückgedrängt. Aber ihre Fähigkeiten, was sie bewerkstelligen konnte …« Diane ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen, bevor sie hinzufügte: »Niemand kann eine Tür zur Wahren Nacht öffnen. Sie konnte es, und dass schon als Kind.«

»Es war nur eine Frage der Zeit, bevor sie sich in eine Trägerin verwandelt.«

Es war, als rammte sie Nyx mit diesem Satz eine Eisenstange durch die Magengrube.

James sagte ein einziges Wort. »Nein.«

»Die Befürchtung musst du doch auch längst gehabt haben«, sagte Diane.

»Nein.«

Nyx wich einen weiteren Schritt zurück. Ein Farnwedel strich über ihre Wange und ließ sie zusammenfahren.

»Nun«, sagte Diane, »egal, was wir glauben, das Risiko ist zu groß. Wir müssen so agieren, als wäre sie der Träger. Zumindest, bis wir einen Gegenbeweis haben.«

James schwieg. Widersprich ihr, flehte Nyx stumm. Schrei sie an, steh auf, lass sie hier sitzen. Doch noch während sie auf seine Reaktion wartete, wurde ihr bewusst, dass James mit seinem Verdacht zu Diane gegangen war. Nicht zu ihr.

»Und wenn sie es ist?«, fragte James schließlich. Nyx schloss die Augen.

»Dann setzen wir als Erstes das Sonnensiegel ein.«

James machte ein Geräusch, als hätte sie ihn verwundet. »Wir wissen nicht, was das Ding mit ihr anstellen würde. Sie ist kein verdammtes Versuchskaninchen.«

Diane blieb hart. »Wenn sie die Trägerin ist, ist jeder Versuch, ihr zu helfen, besser als Untätigkeit.«

Wenn sie die Trägerin ist, wenn sie die Trägerin ist, wenn sie …

Jetzt stand James auf, ging unruhig ein paar Schritte umher, bevor er sich wieder zu Diane umdrehte. »Und was, wenn das Sonnensiegel nicht hilft? Was dann?«

»Dann isolieren wir sie, bis wir eine bessere Lösung finden.«

Es reichte. Nyx fuhr herum und entfernte sich lautlos, vorbei

Sie rannte den Pfad entlang, nur weg, weg, weg von dem Haus und dem Gespräch, das wie eine Brandung immer wieder über ihr zusammenschlug.

Es stimmte nicht. Sie war nicht die Trägerin. Dass Diane es glaubte, tat weh, aber James’ Vertrauensbruch brach ihr das Herz. Er hatte ihr zugehört, hatte ihre Hand gehalten, und kein einziges Wort gesagt. Er musste das mit Erin bereits heute früh gewusst haben. Verdammt, er wusste es bestimmt schon seit gestern Nachmittag. Deshalb war er auf der Fahrt hierher so distanziert gewesen.

Und er hatte geschwiegen.

Nyx stolperte, lief weiter, nur um kurz darauf auf die Knie zu sinken.

Es stimmte nicht.

Doch noch während sie sich gegen Dianes Urteil sträubte, kehrten die Bilder aus ihrer Vision zu ihr zurück. Sie sah vor sich, wie sie über dem Vortex schwebte. Würde sie die Wände zwischen den Sphären einreißen? Die Urkraft des Chaos in der Welt entfesseln?

Sie hatte den Sog schon vor ihrer Vision gespürt. Er zog an ihr, gab ihr das Gefühl, in ihrem eigenen Bewusstsein abzurutschen. Fühlte es sich so an? Waren das die Warnzeichen, die Nachtboten spürten, bevor das Chaos aus ihnen herausbrach?

Es ist ein feines Geräusch in mir. Eine Bewegung wie von kommender Flut.

Nyx beugte sich vor und krümmte sich, bis ihre Stirn den Kies berührte. Nüchtern betrachtet wäre das die Antwort, oder? Die Antwort auf das, was mit ihr nicht stimmte.

Sie war die verdammte Chaosträgerin.

Was sollte sie jetzt tun?

Nyx wollte sich zusammenrollen, wollte in der Erde versinken. Gleichzeitig stach ihr Gewissen wie mit Nadeln in ihre Haut und trieb sie dazu, aufzustehen, zurück zum Haus zu gehen und sich in Gewahrsam zu begeben, bevor …

Ihr entfuhr ein Keuchen. Sie hatte andere Menschen mit Chaos infiziert. James hatte Erin gerettet, aber der Mann im Park? Die anderen, von denen James erzählt hatte? Sie waren tot, umgebracht durch den Chaosverfall, den Nyx verursacht hatte. Sie wusste nicht einmal, wer sie waren, aber sie musste ihnen begegnet sein. Bei ihren Spaziergängen, beim Einkaufen, in der Buchhandlung. Sie hatte sie getötet und es nicht bemerkt.

Sie krallte ihre Hände in den Sand. Sie hatte keine Wahl. Auf tauben Beinen stand sie auf, nur um von einer Welle aus hilfloser Wut und Panik überrollt zu werden. Sie wusste, worauf Dianes Notfallplan hinauslaufen würde. Isolieren, das hieß Einsperren. Sie würde Nyx in einen fensterlosen Raum verbannen, fernab von anderen Menschen. Sie würde sie sedieren, um den Ausbruch der Chaosflut hinauszuzögern. Nyx zweifelte nicht daran, dass Diane alles versuchen würde, um sie – wie hatte James es gestern genannt? Um sie zu ›entschärfen‹. Würde Diane sie umbringen, wenn es keinen anderen Ausweg gab? Plötzlich erschien ihr das mehr als möglich. Vielleicht würde Nyx am Ende sogar selbst darum bitten.

All die Jahre hatte sie geglaubt, dass Nachtboten sich durch ihr Verhalten davor schützen konnten, ein Träger zu werden. Doch wenn sie versagten? Wenn die Schleuse in ihrem Innern aufbrach? Diese Menschen waren verloren, davon war sie überzeugt.

Das war’s, dachte sie. Ich bin eigentlich schon tot.

Nyx schloss die Augen. Bei dem bloßen Gedanken daran, ins Haus zurückzukehren, rebellierte ihr Magen. Es musste doch eine andere Lösung geben. Sie wollte nicht zurück zu Diane und James. Sie wollte nicht sterben, nicht so.

Du hast keine Wahl, murmelte ihre innere Stimme, die jetzt genau wie Diane klang.

Nyx ballte die Fäuste. »Halt deinen verdammten Rand«, murmelte sie, zog ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Birdies Nummer.