»Und was, wenn das Sonnensiegel nicht hilft?«, fragte James. »Was dann?«
Diane faltete ungerührt die Hände über ihrem Knie. »Dann isolieren wir Nyx, bis wir eine bessere Lösung finden.«
Fassungslos starrte er sie an. Er hatte geglaubt, Diane wäre auf ihrer Seite. Selbst nach Leons Tod, als er Diane als einen Menschen mit Schwächen erlebte, hatte er nicht daran gezweifelt, dass er sich im Notfall auf sie verlassen konnte.
Dann isolieren wir Nyx.
Diane würde Nyx wegsperren wie ein tollwütiges Tier. Wie würde sie das bewerkstelligen? Würde sie Nyx in die Entscheidung miteinbeziehen? Oder würde sie beschließen, dass Nyx zu instabil war, und sie mit Medikamenten ruhigstellen?
Obwohl Diane sich nicht bewegte, obwohl sie haargenau so aussah wie immer, war James, als säße eine Fremde vor ihm.
»James«, setzte Diane an, doch er unterbrach sie.
»Nein.« Tief in sich spürte er die Dunkelheit brodeln, wie im Garten, als er Bhaskar gegenübergestanden hatte. Er ballte die Fäuste, löste die Hände und schob seine Dunkelheit zurück in ihre Schranken. Ruhig, sagte er sich, aber alles in ihm bebte. »Wir werden Nyx nicht in Isolationshaft stecken«, sagte er. »Was zur Hölle soll das, Diane?«
Nun stand sie auch auf. »Glaubst du, ich will das? Glaubst du im Ernst, dass ich deiner Schwester das antun würde, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe? Verdammt nochmal, ich habe euch gewarnt, dass so etwas passieren könnte!«
Genau diesen Ton hatte sie in ihren Unterrichtsstunden angeschlagen. Wie oft hatte sie James und die anderen zusammengestaucht, weil sie nicht diszipliniert genug, nicht ernst genug, nicht konzentriert genug waren? James dachte daran, wie er in solchen Momenten schuldbewusst den Kopf eingezogen hatte, und plötzlich sah er rot.
»Ja«, spie er aus. »Ja, das hast du. Wieder und wieder und wieder. Du hast uns so oft gesagt, wie gefährlich wir sind, wie anfällig für Fehler, dass wir in ständiger Angst vor uns selber leben.«
Diane war bleich geworden. »Ich habe getan, was–«
»Hör auf«, fuhr James dazwischen. »Erzähl mir nicht, dass du nur getan hast, was du für das Beste gehalten hast. Es spielt keine Rolle!«
Er spürte all die Vorfälle, jedes stechende, verunsichernde Wort, das sie wie Widerhaken in ihn hineingedrückt hatte.
»Du hast gesagt, du wolltest uns beschützen.« Seine Stimme brach, aber die Worte flogen weiter aus ihm hinaus. »Du hast behauptet, dass du diesen ganzen Bullshit über Nachtboten, die von Natur aus schlecht sind, nicht glaubst. Du hast behauptet, du glaubst an uns. Aber das hast du nie, oder? Du hast Angst vor uns, genau wie alle anderen. Genauso wie der verdammte Erste Tag. Du hast uns nie vertraut. Und wir haben das gespürt. Jeder von uns.«
Er dachte an Leons Wut, die versteckte, wie verletzt und hilflos er sich fühlte. An Nyx, die nach dem Lesen von Berichten über Chaoswellen Albträume bekam, die sie nicht ablegen konnte.
James sah Diane an, sah direkt in ihre Augen, und wollte, dass sie verstand. »Jeden Tag, an dem wir in diesem Haus waren, haben wir Angst eingeatmet. Kein Wunder, dass wir so kaputt sind. Kein Wunder, dass wir genau zu dem werden, vor dem wir uns am meisten fürchten sollten. Erst Leon, jetzt Nyx.«
Dianes Gesicht blieb steif wie eine Maske. »Du denkst, es ist meine Schuld«, sagte sie mit kühler Stimme.
Ja, dachte James, und diese Erkenntnis zerbrach das letzte bisschen Grundvertrauen, an das er sich noch geklammert hatte. Er hatte keine Ahnung, worauf er hoffte. Auf Verständnis? Auf eine Entschuldigung? Er würde keines von beidem bekommen.
»Ich werde Nyx nicht auch noch verlieren«, sagte er. »Sie und ich werden einen Weg finden, um sie zu retten, aber nicht so, wie du dir das vorstellst. Du hast schon genug angerichtet, und ich werde den Teufel tun und weiter nach deiner Pfeife tanzen.«
Er hatte sie getroffen. Dianes Schultern bebten, und sie hielt sich an der Lehne ihres Rattansessels fest. Doch als sie sprach, lag noch immer dieselbe stählerne Härte in ihrer Stimme. »Und was bitte schön ist dein Plan? Klär mich auf.«
James schüttelte den Kopf und verließ die Orangerie.
Mit langen Schritten durchquerte er das Haus. Zorn und Enttäuschung wüteten immer noch in ihm, aber gleichzeitig fühlte er sich so klar im Kopf wie schon lange nicht mehr. Er musste mit Nyx reden, und zwar sofort.
Er kehrte in die Küche zurück, wo immer noch ihre Teller vom Frühstück standen. Halb hatte er gehofft, Nyx wäre inzwischen zurück und würde eine frische Kanne Tee kochen. Als er sie nicht vorfand, ging er nach draußen. Aufs Neue ließ er seinen Blick über den Park schweifen, aber Nyx ließ sich nicht blicken. Auch die Liege am Pool war nun leer. Nachdem James zu Diane gegangen war, hatte Erin sich nach oben ins Gästezimmer zurückgezogen.
Ruhelos ging James zurück ins Haus. Er versuchte Nyx anzurufen, doch ihr Telefon schaltete sofort auf Voicemail. Er schickte ihr eine Nachricht, bat sie, zurückzukommen, weil sie miteinander reden mussten. Schlechte Idee vielleicht, denn solche Nachrichten versetzten einen immer in Panik. Aber mit einem Mal war er sich sicher, dass sie keine Zeit verlieren durften.
Er würde Nyx nicht verlieren. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass sie ihm durch die Finger glitt wie Leon.
James beschloss, das Sonnensiegel aus seinem Zimmer zu holen. Vielleicht konnten sie vorsichtig ausprobieren, ob es ihr half. Vielleicht würden sie Antworten in Dianes Database finden, dem elektronischen Archiv, in dem sie all ihre Quellen, Informationen und Forschungsergebnisse über Urkräfte und Boten sammelte. Oder sie würden verschwinden, irgendwohin, wo sie vor denen, die Jagd auf den Träger – die Trägerin – machten, sicher waren.
Was auch immer ihre nächsten Schritte waren, James würde nicht alleine entscheiden. Er hatte Nyx schon zu lange ausgeschlossen.
Er betrat das Foyer und stolperte, als er sah wie Diane mit Don MacRae, einem ihrer Wachmänner, aus dem Wohnzimmer kam. Sein Herz machte einen Satz. Was hatte Diane vor?
Noch bevor sein Körper sich für Flucht oder Kampf entscheiden konnte, sagte Diane: »Wir bekommen Besuch.«
»Was?«, fragte James völlig überrumpelt.
»Ein fremdes Auto fährt die Auffahrt hoch«, sagte Diane, bevor sie sich an MacRae wandte. »Die anderen sind in Alarmbereitschaft?«
»Ja«, bestätigte er. »Die Männer werden die Fahrer draußen in Empfang nehmen.«
Dianes Wachmannschaft wohnte im alten Haushälter-Cottage, direkt neben dem Haupthaus. Dort befand sich auch die Schaltzentrale für die Überwachungskameras, die an den Grenzen des Anwesens angebracht waren.
James versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging. Dann sah er, dass MacRae die Hand an seiner Waffe hatte, und die Verwirrung fiel von ihm ab.
»Irgendeine Ahnung, wer es sein könnte?«, fragte er.
»Wir werden es gleich erfahren«, antwortete Diane, bevor sie das Foyer durchquerte und die Haustür aufriss. James trat hinter sie und sah zu, wie ein schwarzer SUV mit getönten Scheiben auf die Wendeplatte vor dem Haus zufuhr.
»Mrs. Harling«, warnte MacRae. »Sie sollten von der Tür zurücktreten, bis wir wissen, was los ist.«
Diane verzog das Gesicht, ging jedoch auf Abstand und ließ zu, dass MacRae die Tür schloss. Durch die Fensterscheibe neben der Tür beobachtete James, wie das Auto anhielt und zwei von Dianes Bodyguards darauf zugingen.
»Martens, Statusbericht?«, verlangte MacRae. Er trug einen Kopfhörer samt Mikrophon im Ohr. Falls er eine Antwort bekam, teilte er sie ihnen nicht mit.
Diane wandte sich an James. »Ist Nyx zurück?«
Die Sorge, die in ihrer Frage mitschwang, beschleunigte seinen Herzschlag. »Ich glaube nicht«, antwortete er. Waren die Leute in dem schwarzen SUV wegen Nyx hier? Draußen ertönten Stimmen, aber James verstand nicht, was sie sagten.
Diane drückte ihn am Arm. »Sieh in ihrem Zimmer nach«, sagte sie. »Und warn Erin.«
Mit einem dumpfen Gefühl im Magen wich James zurück, um zur Treppe zu gehen, als draußen ein Schrei ertönte, gefolgt von Schüssen.
»Zurück«, warnte MacRae und schob Diane mit dem Arm tiefer ins Foyer. »Martens.«
Martens’ Antwort musste knapp ausfallen, denn MacRae zog umgehend seine Waffe und nahm vor Diane Aufstellung.
»Zum Hinterausgang«, befahl er. »Wir–«
Weiter kam er nicht, bevor er die Augen aufriss und nach rechts herumwirbelte. James hatte kaum Zeit, den schwarz vermummten Mann wahrzunehmen, der aus der Küche trat, da feuerte dieser schon einen Schuss aus seiner schallgedämpften Pistole ab. Es gab ein dumpfes Geräusch, und Don MacRae krachte mit einem abgehackten Schmerzenslaut zu Boden. Bevor James überhaupt reagieren konnte, stieß Diane ihn beiseite und stellte sich zwischen ihn und den Schützen.
Nein, dachte James entsetzt, aber der Schütze richtete seine Waffe bereits auf Diane. Draußen ging klirrend etwas zu Bruch, jemand brüllte einen Befehl, und James wartete erstarrt auf den nächsten Schuss. Der kam, laut und krachend, aus MacRaes Waffe. Er traf den anderen Mann und platzierte in schneller Abfolge zwei weitere Schüsse. Der letzte schlug in die Wand ein, denn der Mann in Schwarz war bereits zusammengebrochen.
»MacRae!«, rief Diane und ging neben ihm in die Hocke. Der Wachmann lag gekrümmt auf dem Boden und konnte seine Pistole kaum noch heben.
»Fuck«, murmelte James, da wirbelte Diane zu ihm herum.
»Geh«, drängte sie. »Hol Nyx und Erin. Seht zu, dass ihr hier wegkommt.«
James spannte sich an, nickte und fuhr herum. Vor der Treppe warf er einen letzten Blick auf Diane, die MacRaes Waffe aufhob, dann sprang er die Stufen hinauf. Er war fast oben, als er ein Stechen wie von winzigen Funken auf seiner Haut spürte. Binnen Sekunden war sein Mund so trocken, als hätte er zwei Tage lang nichts getrunken.
Shit.
Er wirbelte herum, um Diane zu warnen, da trat Rohan Bhaskar an den oberen Absatz der Treppe.
»So sieht man sich wieder«, sagte er, hob eine grell aufgleißende Hand und fegte James von der Treppe.
James hatte keine Zeit, zu schreien, bevor er rücklings auf den Boden krachte und sein Kopf auf die Fliesen des Foyers knallte. Schmerz durchfuhr ihn wie ein Blitz, dann verschwamm alles vor seinen Augen. Er wollte sich aufsetzen, dachte sogar, er bewegte sich, nur um festzustellen, dass er immer noch auf dem Rücken lag. Ein Fiepen schrillte in seinen Ohren. Um ihn herum ertönten Stimmen, aber er verstand nicht, was sie sagten. Rief jemand seinen Namen?
»James. James!«
James blinzelte und sah hoch zu Dianes vor Entsetzen verzerrtem Gesicht. Ich bin hier, wollte er sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Eine schleichende Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus, aber gleichzeitig spürte er wieder das Brennen auf seinen Handrücken. Seine Finger zuckten hilflos, während Bhaskar näher kam.
Diane spie dem Tagboten irgendetwas entgegen. James schloss die Augen, schluckte, und die Worte drangen endlich zu ihm durch.
»… soll das?«, fragte Diane mit schneidender Stimme. »Was habt ihr hier verloren?«
Bhaskars Antwort ging in dem Pfeifen unter, das sich durch James’ Ohren bohrte. Er glaubte, einen Schuss zu hören.
Steh auf, drängte er sich. Steh auf.
Es gelang ihm, seinen Kopf anzuheben. Sein Blick fiel auf das obere Ende der Treppe und Erin, die reglos dort stand.
Lauf, wollte er ihr sagen. Lauf weg!
Vor seinen Augen drehte sich alles. Er sank zurück auf den Boden, bekam jedoch noch mit, wie Erin die Treppe herunterkam. Er schob seine Hand über den Boden, wollte nach Erin greifen, da hörte er Bhaskars Begrüßung.
»… Ihnen gut, Miss Morley?«
James runzelte die Stirn, brachte sein letztes bisschen Kraft auf, um seinen Blick auf die Menschen über ihm zu richten. Erin stand direkt neben Bhaskar und schaute mit fest zusammengepressten Lippen auf James hinunter.
Jemand anderes kam hinzu und sagte irgendetwas über eine Nachtbotin, die sich nicht im Haus befand. James starrte weiter zu Erin hinauf und versuchte vergeblich zu begreifen, was hier passierte.
»… nicht mehr ihre Verantwortung«, sagte Bhaskar. Zu dem anderen Agenten? Zu Erin? »Fahren Sie mit den anderen zurück, Ihre Mutter erwartet Sie bereits.«
Es wurde mehr gesagt, aber James war nun drauf und dran, das Bewusstsein zu verlieren. Jemand packte ihn unter den Achseln und hievte ihn hoch.
Das Letzte, was er sah, war Diane, die mit glasigen Augen in einer Lache ihres eigenen Blutes lag.