Nyx

Nyx saß auf der Mauer neben der Bushaltestelle und versuchte an nichts zu denken. Am Anfang zuckte sie noch bei jedem vorbeifahrenden Auto zusammen, doch niemand hielt an.

Die Haltestelle lag einsam am Rand einer Landstraße. Sie war die drei Kilometer von Wildridge Hall querfeldein bis hierhergelaufen. Ihre Füße kannten den Weg. Sie war ihn in ihrer Teenagerzeit Dutzende Male gegangen.

Inzwischen war es spät am Morgen. James und Diane würden sich fragen, wo sie abgeblieben war, suchten vielleicht bereits nach ihr. Nyx rang ihre Hände und kämpfte mit der kalten Furcht, die immer wieder in ihr anschwoll. Sie prüfte ihr Handy, um nachzusehen, ob Birdie sich noch einmal gemeldet hatte. Stattdessen sah sie die Pop-up-Meldung, die auf eine neue Nachricht von James hinwies.

Sie schluckte und starrte auf das Display, bis ein weiteres Auto die Straße entlangkam. Das Auto wurde langsamer, und die Scheinwerfer blitzten kurz auf. Nyx verkrampfte sich, erkannte dann jedoch Birdie hinter dem Steuer. Dankbar schloss sie die Augen.

Birdie hielt neben der Bushaltestelle an, und Nyx stieg ein. Ihr Handy ließ sie auf der Mauer zurück.

Nyx schwieg die ganze Fahrt über. Das Adrenalin in ihren Adern versiegte und ließ sie ausgelaugt zurück. Hin und wieder dämmerte sie weg, nur um erneut aufzuschrecken.

Nein. Nein, daran durfte sie nicht denken.

Sie rieb sich über die Augen, die sich schmerzhaft trocken und gereizt anfühlten. Dabei versuchte sie, praktisch zu denken, ihre nächsten Schritte abzuwägen.

Es ist okay, sagte sie sich. Halte durch, reiß dich zusammen. Verlier nicht die Kontrolle.

Niemand außer Birdie wusste, wo sie war. Und die hatte versprochen, dass sie einen Ort kannte, der weit ab vom Schuss lag. Dort würde ihr niemand gefährlich werden.

Aber was ist mit dir?, hatte Nyx gefragt.

Ich kann mich abschirmen, erinnerst du dich?

Nyx warf einen Blick auf Birdies Tätowierungen, spürte jedoch keine Erleichterung. Der Mann im Park hatte nichts gehabt, was ihn hätte schützen können. Je erschöpfter sie wurde, umso eindringlicher bohrte sich der Anblick seiner Leiche in ihren Kopf. Das Wissen, dass sie für den Tod von mindestens drei Menschen verantwortlich war, zog sich wie eine Eisenschlinge um ihren Magen zusammen.

Sie mobilisierte alles, was sie an Überwachungs- und Unterdrückungstaktiken zur Verfügung hatte, quetschte ihren Nachtsinn zusammen, bis sie ihn nicht mehr spürte.

Zieh die Mauern hoch, sagte sie sich. Vage erinnerte sie sich daran, dass sie sich dasselbe Mantra nach Leons Tod vorgebetet hatte. Lass nichts rein und nichts raus.

Irgendwann, es mochten zwei oder drei Stunden vergangen sein, berührte Birdie sie an der Schulter. Nyx, die seit einer

»Wir sind da«, sagte Birdie.

Nyx rieb sich über die Augen und sah nach draußen. Hinter der schmutzigen Scheibe entdeckte sie ein grellweißes Haus zwischen monströsen Hecken.

Bis sie sich aufraffte und ausstieg, hatte Birdie bereits ihre Reisetasche aus dem Kofferraum geholt und das Gartentor geöffnet. Nyx folgte ihr ins Haus. Sie bekam mit, dass Birdie ihr etwas erzählte, doch die Worte drangen nicht zu ihr durch. Irgendwann nahm Birdie sie am Ellbogen und führte sie nach oben in ein Schlafzimmer.

»Ruh dich aus«, sagte sie und drückte sacht ihren Arm.

Nyx schlüpfte aus ihren Schuhen und kroch so, wie sie war, unter die Bettdecke.