Sie stand im Glaszimmer und starrte auf die Tür mit den drei Monden. Mondlicht fiel auf sie herab und glitt wie zerrissene Spinnweben über ihre Schultern.
Nyx blinzelte und stand plötzlich direkt vor der Tür. Eine ihrer Hände lag auf dem lackierten Holz, und sie spürte, wie die Nacht durch ihre Haut hindurchflüsterte. Was auch immer hinter der Tür lauerte, ihr Blut, die Resonanz in ihren Adern, zog es an, lockte es herbei.
Ein Knarzen ertönte, und es fühlte sich an, als ob die Tür sich nach außen öffnen wollte.
Ein wimmerndes Geräusch entwich Nyx’ Lippen. Sie konnte die Tür nicht loslassen, also legte sie auch ihre zweite Hand auf das Holz und drückte. Die Nacht auf der anderen Seite drückte zurück, und Nyx spreizte ihre Finger, legte ihr gesamtes Gewicht in ihre Hände. Es waren kleine Hände, Kinderhände, und auch die Stimme, mit der sie flehte, klang jung.
»Bleib zu. Bleib zu.«
Nyx’ Atem ging schneller, und das Gefühl der Bedrohung wuchs und wuchs.
Komm. Komm. Komm nach Hause.
Ein Rauschen flutete den Raum, ebbte ab, kehrte zurück, zerfiel in ein silbernes Knistern. Nyx drückte gegen die Tür, doch aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich die Wand rings um den Türrahmen auflöste. Die Nacht breitete sich aus wie eine Lache aus Tinte, wie ein Universum ohne Sterne. Nyx’ Atem versiegte, und plötzlich gelangte keine Luft mehr in ihre Lunge.
Etwas schlug mit der Wucht eines Zehntonners gegen die andere Seite der Tür.
Schweißgebadet fuhr Nyx aus dem Schlaf hoch. Kurz hatte sie keine Ahnung, wo sie war. Ihr Blick flog über das Bett mit dem gestrickten Quilt, die schräge Decke, das Windspiel aus Muscheln, das sich vor einem halb hochgeschobenen Fenster drehte.
Birdies Cottage, erinnerte sie sich. Das Cottage ihrer Nan.
Nyx fuhr sich mit der Hand über den Mund. Sie wollte nach ihrem Handy greifen, doch das lag auf einer Mauer in Surrey.
Sie hatte ihre Verbindung zu James und Diane gekappt, ein sauberer Schnitt, der sich anfühlte wie eine Amputation. Müde stützte sie die Stirn auf ihre Hand und schloss die Augen.
Sie war allein. Trieb hilflos auf offener See.
Sie steckte so verdammt tief in Schwierigkeiten.
Die Treppe knarzte, als Nyx nach unten ging. Schatten füllten das Haus, also ging die Zeit wohl auf den späten Nachmittag zu. Sie schwankte und stützte sich an der krummen Wand ab. Der Putz fühlte sich feucht und kalkig unter ihrer Hand an.
Sie atmete durch und stieg von der letzten Stufe auf den Boden. Ein mahlendes, kratzendes Geräusch führte sie in die Küche. Der Geruch von Honigwachs wehte ihr entgegen, noch bevor sie die Schwelle übertreten hatte.
Birdie stand vor dem Küchentresen und werkelte an irgendetwas herum. Sie verursachte offenbar das schabende Geräusch, aber ihr Körper verdeckte, was ihre Hände taten. Der Duft von Rosmarin und irgendetwas Zitronigem wob sich in die Dampfwolke, die von einem Topf auf dem Herd aufstieg.
Nyx verharrte im Türrahmen, und ihr Blick fiel auf die schwarze Katze, die um Birdies Beine strich. Die Katze bemerkte sie ebenfalls, musterte sie mit ihren blassen Augen und marschierte mit erhobenem Schwanz auf sie zu.
Birdie neigte den Kopf und drehte sich um. Für ein paar Sekunden erwiderte Nyx schweigend ihren Blick. Was sollte sie auch sagen?
»Hey«, murmelte sie schließlich.
Birdie lächelte. »Hey.«
Eine halbe Stunde später saßen beide am Küchentisch. Das Bienenwachs, das Birdie eingeschmolzen hatte, kühlte auf dem ausgeschalteten Herd aus. Daneben stand der Mörser, in dem sie die Kräuter für ihre Kerzen zerrieben hatte.
Nimbus, der Kater, hatte sich auf Nyx’ Schoß zusammengerollt. Sie war froh darüber. Während sie Birdie alles erzählte, was in Wildridge vorgefallen war, strich sie immer wieder über Nimbus weiches Fell.
»Es tut mir so leid«, sagte Birdie.
Nyx wartete auf ein ›Hab dich ja gewarnt‹. Doch Birdie sagte nichts dergleichen. Stattdessen stand sie auf, kramte durch einen der Schränke und kehrte mit einer Packung Jaffa Cakes, einer Dose Shortbread und einer Tüte Käsecracker zurück.
Nyx starrte auf den Berg aus Knabberkram. Birdie zuckte mit den Schultern. »Nicht ganz so lecker wie das Pistazienteil aus deiner Bäckertüte, aber ich bleibe dabei: Nach einem Schock ist Zucker die beste Antwort. Und Käsecracker, warum auch nicht.«
Sie riss die Jaffa Cakes Packung auf, und Nyx fragte sich, ob sie nervös war. Äußerlich wirkte sie entspannt. Sie hatte sich scheinbar die Zeit genommen zu duschen und ihre noch feuchten Haare zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt. Es war klar, dass sie sich in diesem Haus wohlfühlte. Sie ging auf sockigen Füßen durch die Küche, wusste genau, wo sie nach den Keksen suchen musste, und saß mit angezogenem Bein auf ihrem Stuhl.
Sie ging nicht auf Abstand, saß schräg neben Nyx und lehnte sich leicht in ihre Richtung. Das waren gute Zeichen, oder? Das bedeutete, dass sie nicht eingeschüchtert war?
Birdie murmelte etwas, das nach »Esel« klang.
»Was?«, fragte Nyx.
»Ingleby«, erklärte Birdie. »Von wegen der Träger ist ein Junge. So langsam glaube ich, dieser Schnösel hat keine Ahnung, was er tut.«
Damit ist er nicht alleine, dachte Nyx. »Was machen wir jetzt?«, fragte sie so gefasst wie möglich. »Was muss ich tun? Wie bekommen wir das Chaos aus mir heraus?«
Birdie runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Könnten wir so etwas Ähnliches versuchen wie James mit seinem Sonnensiegel?« Angespannt beugte sie sich vor, und Nimbus hüpfte von ihrem Schoß. »Kennst du ein Ritual oder sonst was, mit dem du mich, ich weiß nicht, säubern kannst?«
»›Säubern‹«, wiederholte Birdie und verzog das Gesicht. »Nyx, die Chaoskraft ist mit deiner Nachtenergie verwoben. Sie ist ein Teil von dir.«
»Ja, und ich will, dass sie verschwindet!«
Birdie biss sich auf die Unterlippe und schien mit ihrer Antwort zu hadern. »Einer Nachtbotin das Chaos zu entziehen ist verdammt riskant«, sagte sie. »Wenn man nicht aufpasst, richtet man den gleichen Schaden an wie eine Lobotomie. So arbeite ich nicht.«
James hätte das Sonnensiegel an Nyx ausprobiert. Er wäre das Risiko eingegangen. Sie spürte ein Stechen in der Brust. An James zu denken tat so verdammt weh. Ein Teil von ihr wollte immer noch nicht glauben, dass er sich mit Diane verschworen hatte. Aber so war es.
Nervös rieb sie sich über den Schenkel und verschränkte dann die Hände in ihrem Schoß. Denk nicht an ihn, sagte sie sich. Nicht jetzt. Schieb das alles weg. Konzentrier dich nur auf das, was du tun musst.
Funktionier weiter, wisperte es in ihr. Nicht zusammenbrechen, nicht jetzt.
»Wie arbeitest du dann?«, fragte sie.
Birdie hob Nimbus vom Boden hoch. »Ich helfe dir, deine innere Balance wiederzufinden«, sagte sie, während sie den Kater streichelte. »Wie fühlt sich Nachtenergie für dich an? Wie Wind? Oder Wasser?«
»Was?« Nyx war geschockt. Noch nie hatte jemand auf Anhieb erfasst, was die Nacht an Bildern und Gefühlen in ihr auslöste.
Birdie hob abwartend die Brauen, und Nyx schluckte. »Wie Wasser«, antwortete sie schließlich.
Birdie nickte. »Das ergibt Sinn«, sagte sie. »Das haben schon mehrere Nachtboten und -botinnen berichtet.«
»Wer?«, wollte Nyx wissen. »Wer hat das gesagt?« Sie kannte niemanden, der ihr Empfinden teilte, und auch in Dianes Quellen stand nichts davon, dass sich Nachtenergie fließend und die Wahre Nacht wie ein Meeresspiegel anfühlte.
»Ich kann’s dir gerne erzählen, aber nicht jetzt«, antwortete Birdie. Sie gab Nimbus einen Kuss auf den Kopf und setzte ihn dann wieder auf dem Boden ab. »Du wolltest wissen, wie ich arbeite. Stell dir deine Nachtenergie vor wie einen Fluss, der durch dich hindurchfließt, okay? Die meiste Zeit fließt er ruhig und stetig. Du kannst auf ihn zugreifen, deinen speziellen Sinn wie eine Hand hineintauchen. Du kannst seine Strömung lenken, kannst dafür sorgen, dass sein Wasserspiegel ansteigt oder abfällt. Bei Hochstand kannst du deine besonderen Talente nutzen. Bei Tiefstand befinden sich deine Fähigkeiten sozusagen im Schlafmodus. Liege ich so weit richtig?«
Nyx konnte nur nicken. Birdie lächelte und fuhr mit der flachen Hand über den Tisch. Ihre Bewegung folgte unsichtbaren Kurven, als würde sie den Lauf eines Baches nachzeichnen. »Solange dein Fluss frei fließen kann, ist alles in bester Ordnung«, erklärte sie. »Aber manchmal kommt es vor, dass etwas den Fluss stört.«
Nyx schloss die Hände um ihre Ellenbogen. Sie verstand nicht, warum, aber Birdies Beschreibungen verpassten ihr eine Gänsehaut.
»Wenn wir bei dem Flussbild bleiben, kannst du es mit einem Stein vergleichen«, erklärte Birdie. »So eine Störung kann Stromschnellen oder andere Unruhen erzeugen. Das merkst du, wenn dein Zugriff auf deine Energiereserven plötzlich unzuverlässig wird oder wenn du beim Ausüben deiner Fähigkeiten plötzlich überschüssige Energie freisetzt.«
»Wenn ich die Kontrolle verliere«, stellte Nyx klar. Sofort dachte sie daran, wie sich in den letzten Jahren Träume in ihrer Nähe manifestiert hatten, obwohl sie diesen Prozess nicht aktiv oder bewusst eingeläutet hatte. Ihr wurde kalt.
»Ich schätze, ja«, sagte Birdie. »Aber diese Art von Schwankungen sind nicht ungewöhnlich. In der Regel fließt der Energiestrom irgendwann um kleine Hürden herum, oder sie lösen sich auf. Heikel wird es erst, wenn der Fluss durch eine größere Blockade gestört wird. Weniger ein Stein, mehr ein Erdrutsch, der ins Flussbett stürzt, ja?«
»Wie ein Damm?«
»Genau so.« Birdie stellte die Jaffa-Cakes-Packung auf, so dass sie wie eine Wand auf der Tischplatte stand. »Wenn das passiert, staut sich nicht nur die Nachtenergie auf, es sammeln sich auch immer mehr Chaospartikel in diesem Energiepool. Wie Sediment, das nicht abfließen kann. Und wenn das lange genug vor sich geht, tritt die Energie samt Chaos über die vorgesehenen Ufer.« Birdie suchte Nyx’ Blick. »Wenn dann noch mehr Chaoskraft nachgeschoben wird, überkommt sie dich und bricht aus dir hinaus.«
Nyx packte ihre Ellbogen fester. »Chaosflut«, sagte sie.
Birdie nickte, und Nyx wurde übel.
»Die Lösung ist nicht, das Chaos zu entfernen«, fuhr sie fort. »Die Lösung ist, den Fluss wieder frei strömen zu lassen.«
Nyx spürte, wie ihre Fingernägel sich in die Haut ihrer Arme drückten. »Und was genau soll dieser Stein sein? Die Blockade, meine ich?«
Birdie zog die Jaffa-Cakes-Packung zu sich heran. »Das kommt darauf an. So, wie ich das gelernt habe, kann eine Blockade durch einen ungelösten Konflikt ausgelöst werden. Oder durch eine physische oder seelische Verletzung.«
»Eine seelische Verletzung.«
Birdie nickte.
Wut züngelte in Nyx hoch. »Willst du mir damit sagen, das alles ist reine Kopfsache?«, fragte sie. »Was, ich muss mir nur die richtige Einstellung zulegen, ein bisschen Selfcare betreiben, und danach bin ich keine Chaosträgerin mehr?«
»Na ja, der Prozess ist schon eine Nummer komplexer«, antwortete Birdie. »Aber im Grunde genommen, ja. So hat Nan mir das beigebracht. Wenn du herausfindest, was deine Blockade ist, kannst du versuchen, sie aus dem Weg zu räumen. Ich kann dir dabei helfen. Aber wir werden Zeit dafür brauchen.«
»Die haben wir aber nicht«, widersprach Nyx. Wut und Frust drückten ihre Kehle hinauf. Das sollte die Lösung sein? Ernsthaft? Dass Birdie bereits so gut verstand, wie sich Nyx in ihrem Innern fühlte, machte ihr Hoffnung, aber der Rest? Das klang alles viel zu vage und esoterisch.
Sie drehte den Kopf zur Seite, weil sie diesen mitfühlenden Blick nicht mehr aushielt. Vor ihrem inneren Auge sah sie einen reißenden Fluss, der um einen Felsen herumwirbelte. Das Wasser schäumte und kreiste, schlug Wellen, die sie hinter ihren Rippenbögen spürte.
Innere Balance, das war doch ein Scherz.
Was hast du erwartet?, fragte die Stimme in ihrem Kopf spöttisch. Dass Birdie vor dir mit den Fingern fuchtelt, einmal ›Abrakadabra‹ raushaut, und alles wird gut? Nichts funktioniert so.
Nichts funktionierte. Nichts würde sie retten, das war nur der alberne Wunsch eines verängstigten Mädchens gewesen. Eines egoistischen Mädchens.
Die Unruhe in ihrem Körper schäumte auf, schickte einen Schauder durch ihre Glieder.
»Nyx?«, fragte Birdie vorsichtig.
»Ich bin eine verdammte Zeitbombe«, sagte sie. »Ich könnte jede Sekunde in die Luft gehen.« Nein, nicht jede Sekunde. Sie war schon explodiert. Menschen waren tot, ihretwegen.
Ihr Atem geriet ins Stocken, aber ihr Herzschlag dröhnte wie eine Brandung in ihrer Brust.
Fuck. Sie hätte ihr Schicksal Diane überlassen sollen. Die hätte wenigstens dafür gesorgt, dass sie niemandem sonst Schaden zufügte.
Das Bild des Flusses füllte jetzt ihr ganzes Bewusstsein aus, nur dass sie mittlerweile keinen Fluss mehr sah, sondern einen Mahlstrom. Einen rasenden Wirbel, in dessen Mitte sich der Fels in ein schwarzes, bodenloses Loch verwandelte. Das Brüllen des Wassers füllte ihre Ohren. Sie konnte nicht mehr auseinanderhalten, ob sie das Geräusch tatsächlich hörte oder ob es nur Einbildung war.
Nyx hatte ihre Arme so fest um sich selbst geschlungen, dass ihre Wirbel knackten. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Fühlte es sich so an, wenn das Chaos durchbrach? Verlor sie nicht nur die Kontrolle über ihre Fähigkeiten, sondern auch über ihren Verstand?
»Nyx.«
Ich gehe unter, dachte sie. Ich ertrinke.
»Nyx«, sagte Birdie. »Hey. Atme mit mir.«
Sie blinzelte, sog keuchend die Luft ein und sah die Frau vor sich an, die ihr die Hand hinstreckte. Nyx griff zu und hielt sich an Birdie fest. Sie atmeten, ein, aus, bis ihr Körper sich entkrampfte. Ihre Hand erschlaffte, aber diesmal hielt Birdie sie fest.
»Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll«, flüsterte Nyx. Sie wusste nicht einmal genau, was sie damit meinte. Das Chaos zurückzuhalten? Nicht auseinanderzubrechen?
»Ich weiß«, sagte Birdie. »Das ist okay. Lass mich dir helfen. Ich will dir helfen.«
Ihre Stimme brach beim letzten Satz, und vielleicht war es das, was Nyx dazu brachte, zu nicken.