Erin

Chariot House

Das Büro ihrer Mutter befand sich im Londoner Haus des Ersten Tages. Wie auch der Rest des Gebäudes war der Raum in einer Mischung aus Lagerhaus-Optik und Hipster-Chic eingerichtet. Eine der Wände bestand aus freigelegtem Backstein, von der Decke hingen große Glühbirnen wie ein Büschel Trauben und irgendwelche breitblättrigen Zimmerpflanzen ragten aus kupfernen Blumenkübeln.

Erin saß vor dem Schreibtisch ihrer Mutter wie eine ihrer Mitarbeiterinnen. Im Prinzip war sie das wohl auch. Josephine Morley leitete den Bereich Angewandte Wissenschaft innerhalb des Ordens. In der Hierarchie rangierte sie direkt unterhalb des Vorstands, was ihr einigen Spielraum verschaffte. Zum Beispiel den Spielraum, ihre Tochter auf eine Spionagemission zu schicken, ohne irgendjemanden davon in Kenntnis zu setzen.

Rohan Bhaskar saß neben Erin. Dass sie Josephines Tochter war, wusste er erst seit wenigen Stunden. Als Erin ihre Mutter aus Wildridge Hall anrief, hatte diese sich sofort mit Bhaskar in Verbindung gesetzt. Wie war dieses Gespräch abgelaufen?

Die Chaosträgerin befindet sich in Surrey. Übrigens ist meine Tochter bei ihr, bitte metzeln Sie sie nicht nieder, wenn Sie das Haus meiner ältesten Freundin überfallen.

Jetzt saß Bhaskar hier, gelassen wie sonst noch was, während Josephine ihm erklärte, weshalb Erin mit einem Nachtboten von seiner Roten Liste unterwegs gewesen war.

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte er. »Ich sage nur, dass

Die Operation, dachte Erin mit einem schalen Geschmack im Mund. Das klang sehr viel offizieller als das, was sich eigentlich abgespielt hatte. Sie hatte die Szene noch deutlich vor Augen: Ihre Mutter, die vor ihrem Studentenwohnheim auf sie wartete, und sie mit nur einem Satz begrüßte.

Ich brauche deine Hilfe.

»Nun, ich hatte meine Gründe«, sagte Josephine. Sie war keine besonders große Frau, aber ihre aufrechte Haltung und die Art, wie sie sich bewegte – selbstbewusst und elegant –, ließen sie imposant wirken. Sie hatte ein ovales Gesicht, genau wie Erin, dieselben glatten Haare, die sie sich platinblond färben und mit Vorliebe zu einem schulterlangen Bob schneiden ließ.

Saßen sie nebeneinander, konnte man die Familienähnlichkeit zwischen ihnen nicht übersehen. Erin fehlte jedoch die Eleganz ihrer Mutter. Ihre Schultern beugten sich zu oft nach vorn, ihr Lächeln wirkte verkniffen, und ihre Augenfarbe war zu verwässert und beunruhigend hell.

Wenn Josephine die Idealform der Gene war, die sie miteinander teilten, dann blieb Erin eine grobe Annäherung. Damit hatte sie ihren Frieden geschlossen. Trotzdem fragte sie sich, ob dieses ›knapp vorbei‹-Ergebnis der Grund war, warum ihre Mutter sie die letzten Jahre über von ihrem Arbeitsplatz ferngehalten hatte. Der Grund, warum Bhaskar nicht wusste, wer sie war, als er Erin und James angriff.

»Das Projekt, das ich hier durchführe, ist eine heikle Angelegenheit«, fuhr Josephine fort. »Bisher lautete meine Anweisung, nur diejenigen von uns in Kenntnis zu setzen, die unbedingt informiert werden müssen.«

»Das scheint eine beliebte Strategie im Orden geworden zu sein«, bemerkte Bhaskar.

»Noch nicht«, antwortete Bhaskar. »Aber das ist nur eine Frage der Zeit, jetzt, wo wir wissen, wer sie ist.«

Nyx, dachte Erin und schauderte. Als James’ Schwester in Samis Garten aufgetaucht war, hatte Erin sie sofort wiedererkannt. Sicher, ihre Begegnung im Café hätte ein Zufall sein können. Aber in dem Moment, als James ihr Nyx vorstellte, war sich Erin sicher, dass sie die Chaosträgerin vor sich hatte.

Sie kam immer noch nicht darüber hinweg, dass niemand, weder James, noch Diane Harling, auch nur irgendwelche Maßnahmen ergriffen hatten, nachdem sie wussten, was Nyx bereits anrichtete. Nach allem, was ihr widerfahren war – der Chaosverfall, James’ unerwartete Freundlichkeit, seine Aussage, dass sie eine seltsame Aura ausstrahlte –, verlor sie zunächst die Orientierung. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, also hatte sie abgewartet, mit sich gehadert. Doch bei dem Gedanken daran, was passieren konnte – was ihr selbst beinahe passiert wäre –, war ihr der kalte Schweiß ausgebrochen. Sie musste ihrer Mutter Bescheid geben. Es gab keine andere Wahl.

Jetzt war Nyx verschwunden, James gefangen und Diane tot.

»Diese Nyx ist die zweite Chaosträgerin aus Dianes Stall«, sagte Josephine. »Das sollte mich wohl nicht überraschen. Ich hielt Dianes Vorgehen schon lange für grob fahrlässig. Ihre Vorstellung, dass sie nachtgeborenen Kindern Selbstbeherrschung beibringen könnte, war naiv, aber die Forschungsergebnisse, die sie uns geliefert hat, waren nützlich.«

»Ha, nein«, antwortete Jospehine. »Diane war schon längst kein Mitglied des Ordens mehr. Aber sie und ich, wir hatten einen Deal. Ich habe sie mit Kopien aus unseren Archiven versorgt, und sie hat mir im Gegenzug Kapitel aus ihrer Forschungsarbeit geschickt. Alles abgesegnet durch den Vorstand natürlich, auch wenn Diane davon nichts wusste.«

Das war nur die halbe Wahrheit. Josephine mochte Diane, das wusste Erin. Sie hatten zusammengearbeitet, bevor Diane abtrünnig wurde und Josephine in die praktische Forschung wechselte. Diane wusste, wie man hohen Tieren schmeichelte, wie man sich selbst gut verkaufte, um die Projekte durchzusetzen, die man auf die Beine stellen wollte. Josephines heutige Position verdankte sie unter anderem Dianes Unterstützung in jenen ersten Jahren. Aus Loyalität hielt Josephine Diane nach ihrem Austritt ein paarmal den Rücken frei. Diane, die angeblich brav in ihrem Landhaus saß und an ihrer Enzyklopädie arbeitete, verstrickte sich immer wieder in Unfälle oder Konfrontationen mit Nachtboten. Josephine sorgte dafür, dass der Orden davon nichts mitbekam.

Die beiden hatten unterschiedliche Wege gewählt, aber sie blieben dennoch befreundet.

Oder zumindest hatte Erin das bisher geglaubt. Sie dachte daran, wie sie das Telefon in Dianes Büro hochhob, und fröstelte. Ich hatte keine Wahl, dachte sie. Es gab nur die eine Möglichkeit.

Bhaskar hob eine Braue. »Wussten Sie, dass Mrs. Harlings Adoptivkinder nachtgeboren sind?«

Erins Mutter verzog den Mund. Die Frage mochte sie offensichtlich nicht, aber um eine Antwort kam sie nicht herum. »Nein. Nein, ich hatte keine Ahnung. Diane hat sich wirklich gut bedeckt gehalten. Vor, hm, neun Jahren gab es jedoch einen Vorfall, der sie dazu zwang, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dann kam heraus, was sie wirklich trieb.«

Erins Mutter nickte, erläuterte das aber nicht weiter. Klar, dachte Erin. Sonst müsste Josephine Bhaskar womöglich erklären, wie genau – und wie oft – sie Diane aus der Klemme geholfen hatte.

Erin senkte den Blick. Sie wusste, wovon ihre Mutter sprach, denn bei jenem ›Vorfall‹ war sie dabei gewesen. Oder zumindest hatte sie im Auto vor dem Krankenhaus gewartet, während ihre Mutter regelte, was zu regeln war.

»Diane war der Überzeugung, dass sie Nachtboten durch Erziehung und Training davon abhalten konnte, dem Chaos die Tür zu öffnen«, sagte Josephine. »Schon während ihrer Zeit bei uns hatte sie ähnliche Vorstellungen.« Sie verstummte, schien in Gedanken zu versinken und schüttelte dann den Kopf. »Ich wusste, dass sie mit ihren Idealen früher oder später auf Grund laufen würde. Trotzdem wünschte ich, es wäre anders für sie ausgegangen.«

»Mrs. Harlings Tod ist bedauerlich«, stimmte Bhaskar ihr zu. Erin warf ihm einen scharfen Blick zu, sah jedoch ebenso rasch wieder weg. Bedauerlich. Wie unbeteiligt er das sagte. Als wäre es nicht einer seiner Handlanger gewesen, der Diane Harling in den Kopf geschossen hatte.

Erins Mutter straffte die Schultern. »Nun gut, unterm Strich sollten wir wohl froh sein, dass Ihr Einsatz so glimpflich verlaufen ist. Vielen Dank noch mal für Ihre gute Arbeit.«

»Die Arbeit ist noch nicht beendet«, widersprach Bhaskar.

Erins Mutter lächelte. »Da haben Sie recht, aber nach allem, was ich bisher von Ihnen gesehen habe, zweifele ich nicht daran, dass Sie die Trägerin bald festsetzen werden.«

Bhaskar legte den Kopf schief. »Das ist nicht mein Auftrag.«

Erins Hände verkrampften sich. Wenn Nyx in Wildridge gewesen wäre, hätte er sie dann auch erschossen? Sie wollte sich die Trägerin als Ungeheuer vorstellen, aber alles, was sie

Erins Mutter lächelte breiter. »Doch, das ist er. Ab jetzt.« Sie hielt Bhaskar ein gefaltetes Schreiben hin, welches er mit skeptischer Miene entgegennahm. Während er las, erhaschte Erin einen Blick auf eine Signatur und einen offiziell aussehenden Stempel. Sie nahm an, dass es sich bei dem Dokument um einen neuen Marschbefehl handelte.

»Ich soll die Trägerin hierherbringen?«, fragte Bhaskar. »Warum?«

Erins Mutter lachte. »Nun, bis heute früh hätte ich Ihnen das nicht beantwortet. Aber wie gesagt, es wird Zeit, dass wir an einem Strang ziehen.« Sie stand auf. »Also, wie wäre es? Wollen Sie sich unser Projekt anschauen?«

Bhaskar stand ebenfalls auf. »Gerne.«

Das Schreiben steckte er ein. Vermutlich würde er gegenprüfen, ob der neue Befehl wirklich von seinen Vorgesetzten abgesegnet war.

»Wunderbar«, erwiderte Erins Mutter. »Ich brauche vorher nur einen Moment mit meiner Tochter. Gehen Sie doch solange in die Cafeteria. Der Kaffee hier ist sehr gut.«

Bhaskar senkte zustimmend den Kopf und verließ das Büro.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, wartete Erins Mutter ein paar Sekunden, bevor sie sich wieder setzte. »Was für ein elender Schlamassel«, sagte sie. »Hätte ich früher gewusst, dass die Black Ops Bhaskar auf Dianes Spross angesetzt haben, dann hätten wir unsere Suche nach dem Träger gleich koordinieren können. Das war wirklich ein unnötiges Risiko.«

Erin hätte am liebsten gelacht. Sie hatte von Anfang an gedacht, dass der Plan ihrer Mutter riskant war. Aber sie hatte sich darauf verlassen, dass Josephine die möglichen Gefahren besser abwägen konnte als sie. War das blauäugig gewesen? Oder hatte Josephine sich verrechnet? Es hätte nicht viel gefehlt, und Erin

Sie hätte sterben können. Erin wusste nicht, was sie mehr beunruhigte. Die Möglichkeit, dass ihre Mutter die Gefahrenlage nicht richtig eingeschätzt hatte oder dass sie immer noch nicht anerkannte, wie dicht ihre Tochter am Tod vorbeigeschrammt war.

»Warum hast du nicht angerufen, nachdem du mit Bhaskar zusammengestoßen bist?«, wollte ihre Mutter wissen. »Was sollte das mit der Funkstille?«

»Ich wollte meine Tarnung nicht auffliegen lassen.« Erin tastete mit den Fingern nach dem Saum ihres Sweatshirts. Die Antwort war nicht gelogen, aber so ganz der Wahrheit entsprach sie auch nicht.

Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Nun, das war dumm.«

»Ich bin kein James Bond, Mum«, schoss Erin zurück. »Ich habe keine Ahnung, wie man richtig spioniert. Du hast mich nur in diese ganze Sache reingeworfen, weil du niemanden aus dem Orden vertraust.« Um genauer zu sein, hatte sie niemandem aus ihrem Geheimklüngel zugetraut, sich das Vertrauen eines Nachtboten erschleichen zu können. Aber Erin war normal genug, harmlos genug, schwach genug, um keinen Verdacht zu erregen. Und es hatte funktioniert, oder nicht? James hatte keine Sekunde lang vermutet, dass sie ihn hinterging. Stattdessen hatte er sie getröstet. Er hatte ihre Fragen beantwortet und Frühstück für sie gekocht.

Er hatte ihr das Leben gerettet.

»Ich habe dich ›reingeworfen‹, weil du meine Tochter bist«, widersprach ihre Mutter. »Weil du weißt, was auf dem Spiel steht, und weil ich dir zutraue, alles zu tun, was nötig ist.«

Erin presste die Lippen aufeinander.

»Und das hast du«, sagte Josephine nach einer kurzen Pause. Überrascht sah Erin auf. Ihre Mutter lächelte.

Erin schwirrte der Kopf. Black Ops war ein Spitzname für die Außenagenten des Ordens. Die Personen, die Jagd auf Nachtboten machten. Die dafür sorgten, dass der Alltag normaler Menschen nicht von irgendwelchen abstrusen Vorkommnissen gestört wurde. Oder zumindest sicherstellten, dass niemand von außen Fragen stellte, wenn jemand aus den verborgenen Reihen der Nacht- und Tagboten Mist baute.

So, wie Erins Mutter es erklärt hatte, standen die Black Ops unter dem Kommando des konservativen Flügels: jenen Mitgliedern des Vorstands, die darauf aus waren, so viele Nachtboten wie möglich auszuschalten.

Josephine verfolgte ein anderes Ziel. Und wenn Rohan Bhaskar nun nach ihrer Pfeife tanzen und die Trägerin nicht umbringen, sondern lebend hierherbringen sollte? Dann hatte sich die Hierarchie innerhalb des Ordens soeben seismisch verschoben.

Das war gut, oder nicht? Der Plan ihrer Mutter war zumindest humaner als der Genozid, den der konservative Flügel propagierte.

Erin rieb wieder über den Saum des Sweatshirts und dachte an Diane Harling, die auf dem Boden ihres Zuhauses verblutete. Sie dachte an James, der verwirrt zu ihr aufsah und mit der Hand nach ihrem Fuß tastete. Als wollte er sich an ihr festhalten.

»… Sonnensiegel?«

Verwirrt sah Erin auf. »Was?«

»Das Artefakt, das Dianes Junge benutzt hat«, sagte ihre Mutter. »Du hast es mitgebracht?«

Josephine drehte das Siegel zwischen den Fingern, bevor sie es achtlos auf den Tisch warf. »Niedlich«, befand sie. »Das hätte niemals ausgereicht, um eine Trägerin auszubremsen.« Wieder verzog sie das Gesicht. »Ich wundere mich wirklich, dass Diane das nicht erkannt hat. Sie war verblendet, aber die cleverste Frau, die ich je gekannt habe.«

Vor Bhaskar mochte sie es überspielt haben, aber Erin merkte, dass Dianes Tod ihre Mutter aufwühlte. Sie wusste nicht, was sie mit dieser Beobachtung anstellen sollte. Vor allem wünschte sie sich, ihre Mutter wäre noch aufgebrachter. Aber was erwartete sie? Dass Josephine Bhaskar zur Rede stellte? Dass sie ihren Anteil an Dianes Tod bereute?

Und was war mit ihrem eigenen Anteil? Erin schluckte gegen den Druck in ihrer Kehle an. Egal, ob sie glaubte, dass ihr Anruf bei Josephine die richtige Entscheidung gewesen war: Ihretwegen waren Bhaskar und seine Wölfe nach Wildridge Hall gekommen.

»Sie haben Diane erschossen«, sagte sie. »Das hätten sie nicht tun müssen.«

»Das stimmt«, bestätigte Josephine. »Aber Diane hatte schon immer die Angewohnheit, in das nächstbeste Kreuzfeuer zu rennen. Sich für irgendwen oder irgendetwas in die Bresche zu werfen, weil das ihren ach so hehren Werten entsprach.« Sie seufzte. »Ich habe versucht, sie zu warnen. Sie hat nie auf mich gehört.« Ihr Blick fiel auf das Sonnensiegel, und sie stieß es mit der Fingerspitze an. »Alberner Klunker. Ich wünschte fast, ich hätte Diane erzählen können, dass wir längst eine effizientere

Erin starrte ebenfalls auf das Siegel. Sie spürte immer noch die raue Unterseite des Steins auf ihrer Haut und das eiskalte Brennen in ihren Adern, als das Siegel die Chaospartikel aus ihrem Blut saugte.

Erin ballte die Fäuste. »Als es mich berührt hat, hat sich das Ding nicht albern angefühlt.«

»Natürlich nicht«, sagte ihre Mutter. »Die Chaoskraft, die du abbekommen hast, war wie ein Gift für dich. Das Siegel hat die Fremdsubstanz aus dir herausgezerrt, aber eigentlich hätte man es an einem gewöhnlichen Menschen nicht ohne zusätzlichen Schutz anwenden dürfen. Es ist ein Wunder, dass du das Ganze schadlos überstanden hast. Jemand hätte dein Bewusstsein abschirmen, oder dich betäuben müssen, damit dein Körper sich nicht gegen den Extrahierungsprozess zur Wehr setzt. Aber Dianes Junge wusste das natürlich nicht. Hm.« Sie schüttelte den Kopf. »Ein Junge, vom Chaos überwältigt. Ein Junge, der laut Bhaskar Dunkelheit als Waffe einsetzt. Und eine Trägerin, die stark genug ist, um eine Flut loszutreten. Wie Diane jemals gedacht hat, sie könnte sich auf ihn und die anderen verlassen, ist mir ein Rätsel.«

Noch vor zwei Tagen hätte Erin ihre Einschätzung von James und dessen Ziehgeschwistern fraglos hingenommen. Aber jetzt?

Jetzt sah Erin James vor sich, wie er mit ihr unter der Decke lag. Schwache Lichtflecken drangen durch den Wollstoff und sprenkelten seine Haut wie Sommersprossen. Sie hörte seine ruhige Stimme, die ihr von dem Trost erzählte, den er in der Dunkelheit fand.

Was, wenn sie ihm die Wahrheit gesagt hätte? Wenn sie ihm noch einmal die Gelegenheit gegeben hätte, ihr zu erklären, wie er mit Nyx umgehen und die Chaosflut stoppen wollte?

»Nun ja«, sagte Josephine. »Abyssus abyssum invocat.« Ihr Blick richtete sich auf Erin. »Hast du irgendeine Idee, wo sich diese Nyx verstecken könnte? Haben sie oder der Junge irgendeinen Ort oder eine Person erwähnt, an dem sie Zuflucht finden könnte?«

Erin dachte an Birdie, die Seherin an Nyx’ Seite, die behauptet hatte, sie könne Chaosträgern helfen. Erin wusste, dass sie diese Information weitergeben sollte. Doch sie konnte die Bilder in ihrem Kopf nicht ausblenden. Diane Harling und der starre Blick ihrer Augen. James, dessen Ferse durch das Blut seiner Ziehmutter schleifte, als die Agenten des Ordens ihn nach draußen schleppten.

»Nein«, antwortete sie. »Nein, ich habe keine Ahnung.«