Erin

Oxfordshire | Dreizehn Jahre zuvor

Als Erin zehn Jahre alt war, nahm ihre Mutter sie zu einem Einsatz mit. Sie dachte, es wäre an der Zeit, dass Erin mit eigenen Augen sah, welchen Schaden Nachtboten anrichten konnten.

»Es wird Leute geben, die dir sagen, dass wir nicht alle Nachtboten über einen Kamm scheren sollten«, sagte Erins Mutter. »In gewisser Weise haben sie recht. Nicht alle Nachtboten handeln vorsätzlich, wenn sie andere verletzen. Manche reagieren aus dem Affekt heraus, andere haben ihre eigenen Fähigkeiten nicht unter Kontrolle. Aber egal, ob sie mit oder ohne Absicht handeln, eines dürfen wir nie vergessen: Die Essenz eines Nachtboten ist Chaos, und Chaos ist eine von Grund auf zerstörerische Kraft. Es liegt in ihrer Natur, sichere Strukturen aufzulösen und klare Geister zu verwirren, und die Natur lässt sich nicht verändern.«

Erin nickte. Lektionen wie diese begleiteten sie schon, solange sie denken konnte. Bereits die Märchen, die ihre Mutter ihr vorgelesen hatte, handelten von finsteren Mächten, die in der Nacht ihr Unwesen trieben, und von lichten Gestalten, die die Menschen beschützten und den Tag zurückbrachten.

An jenem Tag nahm ihre Mutter sie bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Was du heute siehst, wird dir Angst machen«, prophezeite sie. »Aber diese Angst kannst du in eine Rüstung verwandeln. Du wirst wissen, wogegen es sich zu kämpfen lohnt, und du wirst sehen, dass wir gewinnen können.«

Ihre Mutter führte sie durch ein fremdes Haus – eine private Klinik, wie Erin später herausfinden sollte. Erin ging hinter ihrer Mutter, denn der Platz an Josephines Seite wurde von einem noch jüngeren Mädchen in einem gepunkteten Kleid eingenommen. Josephine hielt das Mädchen an der Hand. Erin bemühte sich, stolz darauf zu sein, dass sie schon alt und mutig genug war, um alleine durch den Flur zu gehen. Sie hielt ihr Kinn hoch und ging mit festem Schritt, bis sie sich einer Tür aus dunklem Eichenholz näherten.

Ein Stöhnen ächzte durch den Flur. Mit einem Schaudern begriff Erin, dass das Geräusch aus dem Zimmer hinter der Tür kam. Ein Wimmern folgte und ließ sie straucheln, doch da griff ihre Mutter bereits nach der Klinke. Josephine und das Mädchen gingen nach drinnen, und Erin folgte ihnen, obwohl sie plötzlich überall anders sein wollte, nur nicht hier.

In der Mitte des Zimmers stand ein Bett. Eine Frau war darauf festgebunden, mit Stahlseilen und gepolsterten Manschetten an ihren Knöcheln und Handgelenken. Sie trug ein weißes Nachthemd, und ihre langen, braunen Haare waren feucht und strähnig.

Vom Schweiß, dachte Erin entsetzt und roch im selben Moment den sauren Gestank, der im Zimmer hing. Sie wich zur Türschwelle zurück, blieb jedoch stehen, als ihre Mutter sich nach ihr umsah.

»Nimm deinen Mut zusammen«, wies Josephine sie an.

Erins Herz schlug wie ein gefangener Schmetterling gegen eine Fensterscheibe. Trotzdem trat sie ins Zimmer.

»Diese Frau ist ein Opfer von böswillig eingesetzter Nachtenergie«, erklärte Josephine. »Sie hat einer Nachtbotin den Mann abspenstig gemacht, und die hat sich an ihr gerächt. Sie hat ihr Talent missbraucht, um den Geist dieser Frau zu umnachten. Nun kann sie die Realität nicht mehr erkennen. Sie

Erin nickte. Diese Frau war verflucht worden, genauso, wie die unglückseligen Menschen in den Märchen. Sie wollte die Augen schließen, konnte den Blick jedoch nicht abwenden. Das Gesicht der Frau war furchtbar verzerrt, und die Panik schien ihr aus jeder Pore zu dringen. Sie stöhnte vor Schmerzen, murmelte vor sich hin und zerrte an ihren Fesseln. Immer wieder bäumte sie sich auf, als wollte sie etwas von ihrer Brust schütteln.

Erin wurde übel. Eine Rüstung, erinnerte sie sich. Verwandle deine Angst in eine Rüstung. Aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte.

Josephine beugte sich zu dem Mädchen, das sie mitgebracht hatte. »Bist du bereit, Liebes?«, fragte sie.

Die Kleine grinste, ließ Josephines Hand los und trat an den Rand des Bettes. Sie war jünger als Erin, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, und schien von der armen Frau überhaupt nicht eingeschüchtert zu sein.

»Sieh gut zu«, ermahnte Josephine ihre Tochter.

Das Mädchen im Pünktchenkleid wackelte mit den Fingern, dann hob sie ihre Arme und presste ihre Handgelenke aneinander. Es sah aus, als wollte sie eine Kugel greifen, und tatsächlich: Innerhalb weniger Sekunden erblühte ein Leuchten im Hohlraum zwischen ihren Handflächen. Es wuchs und wuchs, bis sie etwas hielt, das aussah wie eine kleine Sonne aus goldenem Nebel.

Gebannt sah Erin zu, wie die Sonne aus dem Griff des Mädchens zum Bett schwebte. Zuerst zuckte die Frau zurück, dann erstarrte sie. Das Licht der Sonne glitt über ihre Brust, über ihren Hals hinauf über ihr Gesicht. Dann löste sich der schwebende Ball auf, und schimmernde Fäden aus Sonnennebel drangen in ihre aufgerissenen Augen.

»Ich hab sie repariert«, verkündete das Mädchen im Pünktchenkleid.

»Gut gemacht«, lobte Josephine und legte der Kleinen die Hand auf den Kopf. Erin zog ihre eigene Hand zurück und versteckte sie hinter ihrem Rücken.

Ihr Blick klebte noch immer an der Frau, die nun ruhig zu schlafen schien. Ihr war immer noch schlecht, und der salzige Geschmack ihrer eigenen Spucke ekelte sie.

»Kriege ich jetzt Eiscreme?«, fragte das Mädchen und wippte vorfreudig auf ihren Fußballen.

»So viel, wie du willst«, versprach Josephine. Grinsend rannte das Mädchen nach draußen, während sich Erins Mutter zum ersten Mal ganz zu ihr umdrehte.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, fragte sie mit einem Lächeln.

Erin schluckte. »Ja«, brachte sie heraus.

Josephines Lächeln wurde sanfter, dann beugte sie sich herab und gab Erin einen Kuss auf den Scheitel.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, dass du mir bald genauso helfen kannst.«

Erin versuchte, sich auf die Nähe ihrer Mutter zu konzentrieren, aber ihr Blick huschte immer wieder zu der bewusstlosen Frau. Die Haut rings um die Handfesseln war rot und dunkelblau. Ich will nicht hier sein, dachte Erin. Ich will das nicht sehen.

Josephine irrte sich.

Fähigkeiten, wie sie das Mädchen mit den Sonnenhänden zur Schau gestellt hatte, würde Erin nie besitzen.