Chariot House | Jetzt
Erin folgte ihrer Mutter und Bhaskar durch die Flure des Ordenshauses. Vor dem heutigen Tag war sie nie weiter als bis in die Lobby vorgedrungen. Und auch das lag Monate zurück. Sie hatte ihre Mutter zum Lunch abgeholt und war zwei Stunden danach zum Campus zurückgekehrt, um eine Vorlesung über sumerische Keilschrifttexte anzuhören.
Sie fühlte sich, als ob eine völlig andere Person das alles erlebt hatte. Der gemütliche Lunch mit ihrer Mutter, die über einen Senffleck auf ihrer blauen Bluse lachte. Erins Unikurse. Ihr winziges Zimmer mit den weinroten Vorhängen. Der Kaffee- und Nasse-Wäsche-Geruch, der nie ganz aus der Küche ihres Wohnheims verschwand.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie in dieses Leben zurückkehrte. Doch das Einzige, was ihr bei dem Versuch in den Kopf drängte, war der Nachmittag, an dem ihre Mutter sie als Spionin rekrutiert hatte.
Ich brauche deine Hilfe. Das hatte sie gesagt. Keine Begrüßung, keine Vorbereitung. Dann hatte sie Erin offenbart, dass London eine Katastrophe bevorstand, die Millionen Menschen das Leben kosten konnte.
Wir müssen den Träger finden, und zwar ASAP, hatte Josephine an jenem Tag gesagt. Scheinbar hatte Diane ihren Ziehsohn bereits auf die Suche nach dem Träger geschickt, und Josephine wollte wissen, was er herausgefunden hatte.
Diane hat andere Netzwerke als wir. Und ihre Kinder haben womöglich Kontakte in der Welt der Nachtboten, auf die wir keinen Zugriff haben.
Josephine war überzeugt, dass Diane ihre Informationen nicht teilen würde.
Sie will den Träger retten, sagte sie zu Erin. Kannst du dir das vorstellen? Die ersten Opfer des Chaosverfalls liegen bereits auf unseren Obduktionstischen, und Diane will den Träger mit Samthandschuhen anfassen.
Und wenn du ihr sagst, was du mit ihm vorhast?, schlug Erin vor. Würde sie dir dann nicht helfen?
Sie wäre mit unseren Plänen nicht einverstanden, glaub mir. Und wenn sie herausfindet, dass ich ihr nachspioniere, wird sie alles daransetzen, ihn vor mir zu verstecken. Josephine schüttelte den Kopf. Nein, die beste Chance haben wir, wenn wir jemanden auf Dianes Schützling ansetzen, die scheinbar nichts vom Chaos und allem anderen weiß. Ihr Blick richtete sich auf Erin. Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann. Jemand, der mir Bericht erstattet. Niemandem sonst.
Schon während des Gesprächs hatte sich Erin mit der Idee, jemanden zu bespitzeln, unwohl gefühlt. Abgesehen davon, dass sie keine Ahnung hatte, wie man so etwas richtig anstellte, brach ihr bereits bei der Vorstellung, einem Nachtboten derart nahe zu kommen, der kalte Schweiß aus. Aber sie konnte ihrer Mutter noch nie einen Gefallen abschlagen. Und zu einem Auftrag wie diesem konnte sie erst recht nicht nein sagen.
Wenn wir es richtig anstellen, so die Worte ihrer Mutter, dann unterbinden wir nicht nur die aktuelle Chaoswelle. Wir sorgen dafür, dass die Urkraft der Zerstörung nie wieder eine Bedrohung für die Menschheit darstellen wird.
Also sagte Erin ja.
Josephine wusste, wann James Harling nach London zurückkehren und wo er wohnen würde. Erin sollte sich in seine Nähe begeben, ihn beobachten und herausfinden, ob er Kontakt zu dem Träger aufnahm. Er selbst konnte es nicht sein, hatte Josephine Erin versichert. Während die ersten Londoner am Chaosverfall starben, hatte sich James im Ausland aufgehalten.
Erin sollte ihn aus sicherer Entfernung überwachen und ihrer Mutter Bericht erstatten. Mehr nicht.
Im Nachhinein konnte sie nicht fassen, wie naiv sie in die Sache hineinspaziert war. Von Anfang ging alles schief. Dass sie der Trägerin über den Weg lief, bevor sie ihre Zielperson überhaupt erreicht hatte, war nicht vorgesehen gewesen. Dass sie mit Chaosdunst verseucht und beinahe getötet wurde, schon gleich dreimal nicht. Und ihre Absicht, James zu beschatten? Die war in dem Moment kollabiert, als er sie aus der Luft pflückte.
Erin trat hinter Bhaskar aus dem Fahrstuhl, der sie in den vierten Stock gebracht hatte. Bhaskar und ihre Mutter unterhielten sich, aber Erin blendete ihre Stimmen aus. Es war nicht nur ihr Nahtoderlebnis, es war die Geschwindigkeit, mit der alles aus dem Ruder gelaufen war, die ihren Kopf schwirren ließ. Nichts von dem, was in den letzten achtundvierzig Stunden passiert war, entsprach ihren Erwartungen.
Sie hatte sich gewappnet, in der Erwartung einen ruchlosen Nachtboten zu verfolgen. Stattdessen traf sie auf James, der alles daransetzte, um sie zu beschützen. Der selbst nervös und hilflos war. Der sie mit einem blöden Scherz dazu ermutigen wollte, Kekse zu essen, die er selbst kaum anrührte.
Und wie er geschrien hatte, als sie Sami in seinem Garten vorfanden. Nie würde Erin den Schmerz in James’ Schrei vergessen. Genauso wenig konnte sie abschütteln, wie geschockt sie selbst beim Anblick von Samis leblosem Körper gewesen war.
Sie bemerkte, dass sich ihre Hand schon wieder um den Saum des Sweatshirts verkrampft hatte, und ließ los. Sami hatte ihr das Shirt gegeben, damit sie etwas Warmes auf der Fahrt nach Surrey hatte.
Ihr Blick fiel auf Bhaskar. Er ging gelassen neben ihrer Mutter, die Hände lose hinter dem Rücken verschränkt.
So, wie Erin das mitbekommen hatte, war Sami nicht nur ein anständiger, fürsorglicher Mensch. Er war ein wehrloser Zivilist. Und Bhaskar hatte ihn bedroht und angegriffen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er Luke fast die Haut vom Fleisch gebrannt hatte.
In der Theorie hatte Erin schon vorher gewusst, dass die Black Ops eine Kampfeinheit darstellten. Dass sie Menschen verletzten und töteten, wenn es nötig wurde. Sie hatte das hingenommen und nicht weiter darüber nachgedacht. Bhaskars Kompromisslosigkeit hautnah zu erleben stellte ihre Welt jedoch völlig auf den Kopf.
Erin starrte auf Bhaskars Rücken und dachte an die mittlerweile getapte Platzwunde, die sie ihm verpasst hatte. Sie könnte behaupten, dass sie den Topf geworfen hatte, um ihre Tarnung zu wahren. Aber das stimmte nicht. Als Bhaskar mit gleißenden Händen in Lukes Schuppen aufgetaucht war, hatte sie Todesangst vor ihm gehabt.
Dabei war er ein Tagbote. Ein Mitglied des Ordens. Sie standen auf derselben Seite.
»Da sind wir«, verkündete Josephine und blieb vor einer Tür aus grauem Stahl stehen. Sie zog eine Schlüsselkarte aus ihrer Tasche, während Bhaskar aufmerksam zusah.
Plötzlich verspürte Erin den Drang, ihre Mutter vor ihm zu warnen. Ihr haarklein zu erzählen, wie brutal Bhaskar vorging und damit anscheinend nicht das kleinste Problem hatte.
Josephine hielt ihre Karte an einen Wandleser. »Willkommen bei Project Daylight«, sagte sie.
Die Schiebetür glitt auf. Josephine und Bhaskar betraten nacheinander den Raum. Erin folgte ihnen und blieb kurz darauf wie angewurzelt stehen.
Sie wusste, was in diesem Labor vor sich ging. Josephine hatte ihr immer wieder stolz berichtet, welche Arbeit sie hier leistete. Aber sie hatte den Raum nie beschrieben. Sie hatte nie erläutert, wie genau sie ihre Experimente durchführten. Und Erin hatte nie nachgefragt.
Bhaskar gab ein »Hm« von sich und klang zum ersten Mal überrascht.
Josephine lächelte. »Beeindruckend, nicht wahr?«
Vor ihnen lag ein Raum, der in seiner Größe eher als Saal bezeichnet werden konnte. Der Boden und die Wandpaneele bestanden aus irgendeinem polierten, plastikweißen Material. Hohe Standleuchten und Neonröhren an den Decken spendeten taghelles Licht. Es gab Stelen, an denen Monitore befestigt waren, Arbeitstische, auf denen sich Mikroskope und andere medizinische Geräte aufreihten.
Eine Handvoll Menschen in Laborkitteln hielt sich im vorderen Teil des Raumes auf, aber Erins Blick hing an der Konstruktion, die sich weiter hinten befand.
Inmitten einer freien Fläche standen acht Behandlungsstühle, im Kreis angeordnet, wie die Strahlen einer Sonne. Auf ihnen lag jeweils eine Person in weißer Kleidung. Erin konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Dafür waren die Drähte, die aus ihren Armen ragten, um so sichtbarer. Wie freiliegende Adern verliefen sie von den hingestreckten Körpern zu einer wuchtigen Säule aus sandfarbenem Stein, die in der Mitte zwischen den Liegen emporragte.
Erin schwankte und zuckte zusammen, als Josephine sie rief.
»Erin? Kommst du?«
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ihre Mutter und Bhaskar bereits weitergegangen waren. Mit hämmerndem Herzen holte sie auf.
»Was Sie hier sehen, ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit«, sagte Erins Mutter, während sie durch den Raum schritt. »Als Dr. Wilson und ich Project Daylight ins Leben gerufen haben, war natürlich noch nicht abzusehen, ob wir unsere Theorie in die Praxis umsetzen können.«
»Wurde das Projekt deshalb nicht an die große Glocke gehängt?«, wollte Bhaskar wissen.
Erins Mutter schnalzte mit der Zunge. »Na ja, das war wohl ein Grund, aber hauptsächlich ging es darum, genügend Unterstützung zu sammeln, bevor wir mehr Mittel beantragen. Sie wissen, wie das ist.«
»Ordensinterne Politik«, mutmaßte Bhaskar.
»Ganz genau.«
Erin ging ihrer Mutter hinterher und hatte das Gefühl, als würde sie über einen schwankenden Moorboden laufen. Es war kühl im Labor, und ein schwacher, chemisch-beißender Geruch hing in der Luft.
»Natürlich wollen wir alle dafür sorgen, dass Nachtboten keine Gefahr für die allgemeine Bevölkerung darstellen«, fuhr Josephine fort. »Aber wie wir das bewerkstelligen, darin ist man sich innerhalb des Ordens uneinig.« Sie maß Bhaskar mit einem Seitenblick. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber ich persönlich bin keine Verfechterin der ›Zuerst töten, später Fragen stellen‹- Methodik.«
Bhaskar zuckte mit den Schultern. »Ich bin nur das Werkzeug«, sagte er. »Die Entscheidung, wie ich eingesetzt werde, überlasse ich anderen.«
Erin Mutter blieb am Fußende einer der Liegen stehen und vollführte eine ausladende Geste mit ihrer Hand. »Mittlerweile sprechen unsere Erfolge für sich, und wir konnten den Ältestenrat davon überzeugen, unser Projekt mit allen verfügbaren Ressourcen zu fördern.« Sie nickte einer vorbeigehenden Wissenschaftlerin zu, dann fuhr sie fort: »Ich habe von Anfang an große Hoffnungen in unsere Arbeit gesetzt, aber seit wir dieses Labor zur Verfügung gestellt bekommen haben, übertreffen unsere Fortschritte sogar meine Erwartungen. Allein in den letzten zwei Monaten konnten wir dreizehn Nachtboten in unsere Obhut nehmen.«
Erin trat neben ihre Mutter und starrte auf die Frau, die vor ihnen lag. Sie war bereits älter. Ihre Haut war von Falten gezeichnet und wirkte papierdünn. Altersflecken sprenkelten ihre Schläfen und Wangen. Sie hatte die Augen geschlossen, aber ihr linker Augapfel zuckte unruhig unter ihrem Lid. Erin schauderte.
Die Lehne des Stuhls war leicht nach hinten gekippt. Lederne Manschetten banden die Frau an das Gestänge zu beiden Seiten. Sie war festgekettet, genauso wie die Frau, die Erin als Zehnjährige gesehen hatte.
Von nahem erkannte Erin, dass die Drähte aus Gold oder zumindest einer goldenen Legierung bestanden. Ihre Enden steckten in der schlaffen Haut in den Ellenbeugen der Frau. Anders als der Katheter an ihrem Unterarm schienen sie jedoch nichts zuzuführen, sondern eine Flüssigkeit abzuziehen.
Nein, keine Flüssigkeit. Ein violett-blau schimmernder Nebel wand sich entlang der Drähte nach oben. Überrascht sog Erin die Luft ein. Das, was da an den Drähten entlangglitt, sah aus, wie die Energiewellen, die Luke für sie sichtbar gemacht hatte.
Ihre Mutter fing ihren Blick auf und nickte ermutigend.
Erin fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. »Ist das …«
»Nachtenergie«, vervollständigte Josephine. »Noch.«
»Wie bitte?«, fragte Bhaskar.
Josephine lächelte. »Sehen Sie nach oben.«
Erin hob ihren Blick. An der Decke über den Liegen waren mehrere runde Steinscheiben angebracht. Sie konnte es nicht genau erkennen, aber es schien, als wären ihre Oberflächen mit Symbolen in geometrischer Anordnung verziert.
Zwischen den Scheiben verliefen weitere goldene Drähte. Erin ließ ihren Blick an ihnen entlangwandern und sah, dass sie alle zu der Säule aus Sandstein zurückführten. Säulen wie diese kannte sie gut. Sie hatte sie in unzähligen Fotografien von Ausgrabungsstätten im heutigen Irak gesehen. Diese hier schien kein authentisches Stück zu sein, sondern ein Nachbau, aber … Ja, als Erin näher trat, erkannte sie, dass sie über und über mit Keilschrift bedeckt war.
Ihre Mutter trat dicht an ihre Schulter. »Beeindruckend, nicht wahr?«, fragte sie. »Ich wollte bis zu deinem ersten Symposium warten, bevor ich dir das alles zeige, aber jetzt ist es so. Überraschung gelüftet. Erkennst du den Ursprung der Schrift?«
»Sumerisch?«, mutmaßte Erin.
»Nah dran«, sagte ihre Mutter. »Babylonisch.« Sie drehte sich zu Bhaskar um. »Sagt ihnen der Name Šamaš etwas?«
»Ich fürchte, nein«, antwortete er.
»Erin?«, forderte ihre Mutter sie auf.
Erin räusperte sich. »Šamaš war ein Sonnengott innerhalb des babylonischen Pantheons.«
Ihre Mutter nickte stolz. »So ist es.« Zu Bhaskar sagte sie: »Erin schreibt ihre Doktorarbeit in Altorientalistik und Vorderasiatischen Studien. Sobald sie ihren Abschluss hat, wird sie hier bei uns mitarbeiten.«
Erin schauderte, sie konnte nicht anders. Ja. Das war der Plan gewesen, nicht wahr? Ein praktischer, vernünftiger Plan.
Erin sah zurück zu der alten Frau, die mehr einem Gespenst als einem Menschen glich. Ein paar Fingerbreit unter ihrer Kehle lag etwas, das Erin zunächst für den Anhänger einer Kette hielt, es dann jedoch als Münze erkannte.
»Bewundernswert«, sagte Bhaskar. »Und was genau hat ein babylonischer Gott mit Ihrem Projekt zu tun?«
Erins Mutter lachte. »Keine Sorge, wir sind nicht unter die Kultisten gegangen. Ich nehme an, bei Šamaš handelt es sich um eine Gallionsfigur oder eine Metapher, wie in den meisten Religionen. Oder er war ein Tagbote, was sicherlich vieles erklären würde. Ah.« Sie warf einen Blick auf einen nahen Monitor, auf dem eine Messlinie plötzlich Wellen schlug. Wieder lächelte sie. »Bevor ich weiter erkläre, wie wäre es mit einer Kostprobe? Show don’t tell, Sie verstehen schon.«
Erin, die mittlerweile dicht an der Säule stand, spürte eine Art Puls, schwach nur, wie ein zögerlicher Trommelschlag. Unwillkürlich wich sie zurück. Dabei fiel ihr Blick wieder auf die bewusstlose Nachtbotin. Der Nachtnebel, der aus ihren Armen drang, schimmerte jetzt intensiver. Auch schien mehr Energie über die Drähte zu wandern: Waren es vorher nur dünne Rauchfäden gewesen, hüllten nun dichte, violette Schlieren das Gold ein. Der Nebel schlängelte sich an den Drähten entlang und verschwand in der Säule.
»Die Nacht weicht, der Tag bricht an«, intonierte Josephine, und die Härchen an Erins Nacken richteten sich auf.
Ein Summen vibrierte durch den Raum, dann ging ein Leuchten durch die eingemeißelte Keilschrift. Das Licht wanderte nach oben und wandelte sich im Verlauf von Violett zu einem satten, fast bernsteinfarbenen Gold. Dieses Licht verteilte sich auf die anderen Drähte, die sich wie dürre Äste vom Kopfende der Säule zu den Steinplatten in der Decke ausstreckten. Kaum berührte sie der goldene Schimmer, da gleißten auch schon die Symbole in den Steinkreisen auf, bis diese wie flache Sonnen strahlten.
Erin stand wie angewurzelt da, doch Bhaskar trat näher an die Säule heran. Sein Blick klebte an dem sonnig-warmen Licht, das sich nun an der Decke sammelte.
»Unmöglich«, murmelte er.
Erins Mutter verschränkte zufrieden ihre Arme. »Nein«, sagte sie. »Nur kompliziert.«
Bhaskar wandte sich ihr zu. »Ist es das, wonach es aussieht?«, fragte er. »Sie verwandeln Nacht- in Tagenergie?«
»Der Fachbegriff ist Transmutation«, berichtigte Josephine. »Aber ja, genau das tun wir.«
»Wie?«
»Das kann Ihnen gerne Dr. Wilson erklären, aber fürs Erste: Wir haben eine Methode entwickelt, die moderne Biochemie mit alchemistischen Präparationsverfahren und babylonischen Bannschriften verbindet.«
Während sie sprach, verblasste das Licht an der Decke, bis nur noch ein Glimmen wie von verglühenden Kohlen zurückblieb. Die Messlinie auf dem Monitor war wieder abgeflacht, und für den Moment floss keinerlei Nachtenergie aus den Venen der alten Frau.
Die Nachtbotin selbst lag weiter reglos da. Nur ihre Finger zitterten. Erins eigene Hände verkrampften sich, als sie das bemerkte.
»Verstehen Sie es jetzt?«, fragte Erins Mutter. »Warum dieses Projekt so wichtig ist? Unsere bisherigen Methoden haben den Vorstoß des Chaos in unsere Welt nur kurzfristig eingedämmt. Wir haben situationsbedingt reagiert, sind tätig geworden, sobald Nachtboten auffällig wurden oder ein Träger anfing, Schaden anzurichten. Aber damit waren wir lediglich in einem Zyklus gefangen. Unser Projekt hat das Potenzial, das Karussell anzuhalten. Wir säubern Nachtboten nicht nur von der Essenz, die sie korrumpiert, wir ersetzen Chaos durch eine Kraft, die heilt, die Ordnung stiftet. Auf lange Sicht gewinnen wir damit nicht nur den Kampf gegen das Chaos. Wir verändern die Welt.«
Zum Besseren. Sie sprach es nicht aus, aber was sie meinte, war eindeutig. Als Erins Mutter ihr das erste Mal von ihrem Passionsprojekt erzählt hatte, hatte sie fast genau dieselben Worte verwendet wie jetzt bei Bhaskar. Sie wollte allen Menschen helfen. Den Zivilisten, die nicht ahnten, welche Gefahren ihnen durch unverantwortliche Nachtboten und Chaoswellen drohten. Den Tagboten, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um die Welt zu beschützen.
Das Projekt sollte sogar das Leben von Nachtboten verbessern. Denn was wäre die Alternative? Dass sie vom Chaos in ihrem Innern überwältigt wurden? Dass Agenten wie Bhaskar Jagd auf sie machten? Durch Project Daylight hatten sie zumindest die Chance auf ein friedliches Leben.
Erin hatte verstanden, warum ihre Mutter tat, was sie tat. Project Daylight und der Gedanke dahinter waren ihr logisch erschienen.
Jetzt konnte sie den Blick nicht von der Hand der alten Frau abwenden.
»Wie lange ist sie schon hier?«, fragte Erin. Weitere Fragen drängten sich auf ihre Zunge. Wie heißt sie? Wer war sie, bevor sie hierher kam?
Josephine hob überrascht die Brauen. »Oh, sie? Noch nicht so lange. Zwei Wochen, glaube ich.«
Erin dachte an Luke. An die Angst auf seinem Gesicht, als James’ sagte, der Erste Tag wäre hinter ihm und Erin her.
Für sie sind wir die Monster. Bei dem Gedanken kam ihr die Galle hoch.
Irgendwo in ihrer Nähe zischte eine Infusionspumpe. Ein Schauder schüttelte die Nachtbotin, dann kroch frischer Nachtnebel aus ihren Armen hinauf in die Drähte.
»Faszinierend«, bemerkte Bhaskar. »Fließt die Energie endlos weiter?«
»Nein, nein«, antwortete Erins Mutter. »Früher oder später brennen sie aus.«
Bei ihrer Wortwahl zuckte Erin zusammen. Ausbrennen.
Das hast du mir anders erklärt.
In der Vergangenheit hatte Erin durchaus gefragt, was mit den Nachtboten im Project Daylight passierte.
Das werden wir sehen, hatte ihre Mutter damals geantwortet. Bisher hat noch kein Nachtbote die Prozedur vollständig durchlaufen. Aber wir hoffen, es irgendwann so hinzubekommen, dass wir die reingewaschenen Teilnehmer wieder entlassen können. Unter Aufsicht, natürlich, aber wenn alles gut geht, könnten sie im Anschluss ein ganz normales Leben führen.
Gehörte dieses Ziel immer noch zum Projekt?
»Was passiert mit der Tagenergie, die Sie so gewinnen?«, wollte Bhaskar wissen. »Wie wird sie genutzt?«
Diese Frage schien Erins Mutter nicht zu gefallen. Ein Muskel an ihrem Kiefer zuckte, bevor sie antwortete: »Daran arbeiten wir noch«, sagte sie. »Das ist die nächste Herausforderung. Momentan können wir die Energie nur aufbewahren, aber wir hoffen, dass wir mit der Zeit eine Methode entwickeln können, um die Energie, nun, weiterzureichen.«
»An wen?«, hakte Bhaskar nach.
»Vielleicht an Tagboten wie Sie«, antwortete Josephine mit einem fast schelmischen Lächeln. »Unser Endziel ist allerdings noch ambitionierter. Wir sind kurz davor, einen Ordnungsträger zu erschaffen.«
Fassungslos fuhr Erin zu ihr herum. »Was?«
»Überraschung Nummer zwei«, sagte ihre Mutter, immer noch gut gelaunt.
Bhaskar jedoch schien zum ersten Mal zu stutzen. »Wovon reden Sie?«
Josephine stemmte eine Hand an die Hüfte. »Nun, Sie wissen bestimmt, dass sich ein Teil unserer internen Forschung mit der Frage beschäftigt, warum es Chaosträger gibt und wie sie entstehen. Genauso wichtig ist jedoch die Frage: Warum gibt es keine Ordnungsträger?«
»Weil nur Chaoskraft dazu ausgelegt ist, unsere Welt zu überfluten?«, vermutete Bhaskar. »Die Kraft der Ordnung benötigt keinen Träger, weil sie immer in geregelten Bahnen auf die Welt Einfluss nimmt.«
»Sind wir uns da wirklich sicher?«, konterte Josephine. »Oder gab es irgendwann einen Vorfall, eine bedauerliche Entwicklung, die dafür sorgte, dass keine Ordnungsträger mehr auf die Welt kamen?«
Erin starrte sie an. Mit jedem Wort, das sie hörte, wurde ihr kälter. Sie hatte gedacht, sie wüsste über die Arbeit ihrer Mutter Bescheid. Aber die Ziele, von denen sie jetzt so unverblümt erzählte, trafen sie wie Geschosse aus dem Hinterhalt.
»Natürlich würde die Präsenz eines Ordnungsträgers eine völlig andere Wirkung haben«, fuhr Josephine fort. »Er würde keine Woge der Zerstörung ausschicken, sondern einen Reichtum an allem, was wir mit der Ordnung verbinden. Klarheit. Harmonie. Vielleicht sogar Heilung.«
Woher weißt du das?, dachte Erin und befürchtete, dass ihre Mutter es nicht wusste. Sie glaubte es.
»Natürlich testen wir all unsere Theorien durch praktische Experimente in einem abgeschirmten Raum«, versicherte Josephine. »Aber Sie sehen das Potenzial, nicht wahr?«
Bhaskar beäugte sie jedoch skeptisch, wenn nicht sogar argwöhnisch. »Und wie genau wollen Sie das bewerkstelligen? Einen Ordnungsträger ›erschaffen‹, wie Sie es nennen?«
Josephine neigte nachsichtig den Kopf in seine Richtung. »Keine Sorge«, sagte sie. »Der Vertrag, den Ihresgleichen mit dem Orden abgeschlossen hat, bleibt bestehen. Wir experimentieren nicht an Tagboten. Es würde auch nichts bringen, denn wir haben leider immer noch nicht herausgefunden, welche Bedingungen ein Körper erfüllen muss, um die Funktion eines Trägers zu übernehmen. Die Nachtboten und Chaosträger, die wir in der Vergangenheit untersucht haben, wiesen keinerlei Anomalien in ihrer Anatomie auf. Oder zumindest keine, in der wir einen gemeinsamen Nenner erkennen konnten.«
»Mum«, hakte Erin mit brüchiger Stimme ein, aber Josephine sprach unbeirrt weiter.
»Nein, unser Weg ist pragmatisch. Wir wissen, dass nachtgeborene Träger das Potenzial haben, Urkraft zu kanalisieren.« Wieder lächelte sie. »Wir müssen nur dafür sorgen, dass sie an eine andere Quelle angeschlossen werden.«
»Unmöglich«, wiederholte Bhaskar. »Nachtboten haben keinen Zugriff auf die Quelle der Ordnung.«
Josephine zwinkerte. »Was wäre, wenn wir einen Chaosträger erst von Nachtenergie reinigen und ihn dann mit Infusionen von Tagenergie ausfüllen?«
»Das …«
»… funktioniert besser, als Sie denken«, unterbrach Josephine. »Nach unserem derzeitigen Wissensstand sollte es durchaus möglich sein, einen Nachtboten umzupolen. Das Einzige, was wir brauchen, um die nächste Phase unseres Projekts einzuläuten, ist ein Träger, der vital genug ist, um die Prozedur durchzustehen. Tja, oder in unserem Fall, eine Trägerin.« Sie legte Bhaskar eine Hand auf die Schulter. »Stellen Sie sich das vor. Wenn wir Erfolg haben, können wir jeden Chaosträger von einem Werkzeug der Zerstörung in einen Hüter der Beständigkeit verwandeln. Wir könnten dafür sorgen, dass die Ordnung in unserer Welt endgültig die Oberhand gewinnt.«
Erin wandte sich ab, sie konnte nicht anders. Deshalb wollte ihre Mutter, dass man ihr Nyx lebendig brachte. Sie wollte die Trägerin nicht aufhalten. Sie wollte sie benutzen. Josephine schien ihr Entsetzen nicht zu bemerken. Stattdessen rief sie munter aus: »Ah, unser Neuzugang.«
Erschrocken sah Erin sich um, bis sie die beiden Männer bemerkte, die eine Liege durch den Raum schoben.
Ihr Atem stockte. Auf dem blauen Polster der Liege lag James. Er war bewusstlos und trug die gleichen weißen Klinikkleider wie die anderen Nachtboten im Labor.
Erin machte automatisch einen Schritt in seine Richtung, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte.
Das ist falsch, klagte eine Stimme in ihr. Was hier passiert, ist falsch!
Wieder erinnerte sich Erin daran, wie sie nur eine Handbreit entfernt neben ihm gelegen und sein Gesicht in dem mattsilbernen Grau betrachtet hatte, das nicht ganz Licht und nicht ganz Dunkelheit gewesen war.
Owl Leet. Eulenlicht.
Am Ende des Saals öffnete sich eine Schiebetür aus Milchglas und gab den Blick frei auf eine weitere, mit Drähten behangene Säule. Die beiden Männer schoben James darauf zu.
»Es wird interessant zu sehen, wie viel Tagenergie wir aus ihm gewinnen können«, sagte Erins Mutter. »Und wenn wir erst die Chaosträgerin haben … Wer weiß, vielleicht können wir dann tatsächlich eine neue Ära einläuten.«