Nyx

Eine Woche später

An der Rückseite von Birdies Cottage gab es einen kleinen Anbau, der als Schwelle zum Garten und als Abstellort für schmutzige Stiefel herhielt. Nach ihrer Ankunft hatten Birdie und Nyx den Schlammraum leer geräumt. Anstelle von Schuhregalen, Wischmop und Garderobe lehnten nun drei große Leinwände an der Wand. Daneben standen Dosen mit Acrylfarbe.

Nyx stand mit dem Rücken zum Fenster und starrte auf die unbenutzten Utensilien. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt. Sie hielt sich an ihren Ellbogen fest, als ob sie ihre Hände davon abhalten wollte, sich selbständig zu machen. Nicht, dass dafür ein Risiko bestand. Sie hatte nicht das leiseste Bedürfnis, die Pinsel anzufassen, die neben den Farbdosen lagen.

Es war schon komisch, aber wenn sie malte, nahm sie immer nur die Träume anderer als Motiv. Nie ihre eigenen.

Die Tatsache war ihr das erste Mal bei einem Spaziergang vor ein paar Tagen bewusst geworden. Zusammen mit Birdie war sie einem Pfad oberhalb der Klippen gefolgt, und irgendwann unterhielten sie sich über Nyx’ Talente. Als Birdie fragte, wie die Bilder von Nyx’ Träumen aussehen, hatte Nyx geantwortet, dass es solche Bilder nicht gab.

Mit einem Stirnrunzeln betrachtete Nyx die leeren Leinwände und ließ ihr Gespräch mit Birdie Revue passieren.

Nyx zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Es kam mir nie in den Sinn. Aber …« Sie brach ab, während sich ein paar Puzzleteilchen zusammenfügten. Es war kein angenehmes Gefühl. »Nachdem Leon starb, hatte ich viele Albträume«, gestand sie schließlich. »Ich kann meine eigenen Träume nicht verändern, also habe ich alles dafür getan, um sie zu unterdrücken. Um nicht über sie nachzudenken. Nach einer Weile hörten die Träume auf. Oder zumindest konnte ich mich nach dem Aufwachen nicht mehr an sie erinnern. Sie aufzumalen … hätte sie wieder an die Oberfläche gezerrt.«

Das war das Letzte, was sie gewollt hatte. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie ihre Träume abgeschnitten und zurückgelassen. Genauso wie ihre Vergangenheit in Wildridge Hall.

Nur, dass dieser Cut nicht wirklich funktioniert hatte.

Birdie schwieg. Sie wussten wohl beide, dass Nyx mit ihrer Verdrängungstaktik nicht mehr durchkommen würde, wenn sie den Tumult in ihrem Innern auflösen wollte.

Sie erkannte natürlich, woher ihre Blockade kam. Was der Stein war, der das Chaos in ihr zum Anschwellen brachte. Vielleicht ahnte sie es schon, als die Sternengestalt das erste Mal auf sie zugegangen war.

Leon war ihr Stein. Oder vielmehr, Leons Tod und ihr Anteil daran.

Allerdings verstand sie immer noch nicht, was genau passierte, wenn sie Leons Geist, sein Echo, sein Was-auch-immer sah. Wenn sie ihn spürte.

»Bilde ich ihn mir ein?«, fragte Nyx. »Oder ist das Ding, ich weiß nicht, eine Manifestation meiner Ängste? Meiner Albträume?«

Birdie drehte einen Grashalm zwischen den Fingern, den sie

»Seit London habe ich ihn nicht mehr gesehen«, sagte Nyx. Das Mantra, dass sie sich nach ihrer Flucht aus Wildridge aufsagte, funktionierte. Sie hatte ihre Fähigkeiten seit einer Woche nicht mehr angewandt. Derart enthaltsam zu sein, fühlte sich ungewohnt an. Zur Hölle, es fühlte sich beschissen an. Als wären sämtliche Muskeln in ihrem Körper dauerverkrampft. Und doch unterband Nyx ihre Verbindung zur Nacht mit einer Entschlossenheit, die sie so noch nicht gekannt hatte. Sie würde an ihrer Kontrolle festhalten, so lange, wie sie konnte. Sie würde sich von dem Vortex, der an ihrer Substanz zerrte, nicht in die Knie zwingen lassen.

Zugegeben, diese intensive Selbstüberwachung arbeitete direkt gegen Birdies Versuche, Nyx zum Entspannen zu bringen. Aber sie wusste nicht, wie sie sonst ihren Kopf über Wasser halten sollte.

»Meine Nan hatte eine Theorie«, sagte Birdie. »Sie ging davon aus, dass alles, was wir um uns herum wahrnehmen, aus Energie besteht. Sonnenlicht, Klänge, Gräser, Tiere, jeder einzelne Mensch. Wenn du’s naturwissenschaftlich betrachten willst, denk an Moleküle und Atome. Oder denk an Reiki, an Konzepte von spiritueller oder geistiger Lebensenergie. Denk an beides, wenn du willst, das eine schließt das andere nicht aus.«

»Okay«, sagte Nyx.

»Sagt dir der Begriff ›Energieerhaltungssatz‹ was?«

»Nein.«

»Im Grunde beschreibt er ein physikalisches Gesetz«, erklärte Birdie. »Es besagt, dass Energie nicht verschwindet. Sie nimmt nur unterschiedliche Formen an.«

»Was hat das mit meiner Heimsuchung zu tun?«, fragte Nyx.

»Du sprichst von der Seele«, sagte Nyx.

Birdies Mundwinkel zuckte. »Das wird dir wieder zu New Agey, oder?«, neckte sie sie. »Es ist nur eine Theorie.«

Nyx war sich nicht sicher, was sie von dieser ›Theorie‹ halten sollte. Die Möglichkeit, dass ihr Verstand bereits porös genug war, dass sie sich die Sternengestalt einbildete, war beängstigend. Aber die Vorstellung, dass Leon in dieser Sphäre überdauerte, nur um sie zu verfolgen, war niederschmetternd. Wie wütend musste er gewesen sein, dass sich das, was von ihm übrig geblieben war, so an sie heftete?

»Ich muss rausfinden, warum er hier ist, oder?«, fragte Nyx mit einem sinkenden Gefühl im Magen. »Oder zumindest, warum ich denke, dass er mich verfolgt?«

»Gut möglich«, antwortete Birdie.

»Ich will das nicht.«

»Kann ich gut verstehen.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher, während der Seewind durch das Gras um sie herum kämmte.

»Irgendwelche Ideen, Meister Yoda?«, fragte Nyx schließlich.

Birdie gab ein schnaubendes Lachen von sich. »Jede Menge.«

»Aber?«

Birdie drehte das Gesicht in den Wind. »Ich habe einen ganzen Koffer voller Hilfsmittel, die gut für dich sein könnten«, sagte sie. »Also, einen metaphorischen Koffer. Ich kann dir Kerzen gießen, die dich beruhigen, die deine Erinnerungen aufschließen oder unterdrückte Gefühle an die Oberfläche

Nyx hob die Brauen. »Im Ernst?«

Birdie grinste. »Klar. Das wäre zwar nicht die Verabreichungsform, die meine Nan gewählt hätte, aber in Gorenjska gibt es ein paar Wald- und Wiesenhexen, die verdammt gute Mischungen zum Rauchen herstellen.«

»Warum denke ich jetzt an eine Kommune aus Althippies, die bei Vollmond Yellow Submarine trällern?«

»So weit liegst du gar nicht daneben«, gestand Birdie. »Was ich damit sagen will: Ich kenne eine Menge Methoden, die dich dabei unterstützen könnten, deine innere Balance wiederzufinden. Was du brauchst, ist die goldene Mitte zwischen go with the flow und Kontrolle über deine Midi-Chlorianer.«

»Oh, bitte nicht«, stöhnte Nyx.

Birdie lachte. »Schon begriffen, dann eben die goldene Mitte zwischen Instinkt und Absicht. Aber was genau dir dabei hilft, das müssen wir erst herausfinden.«

Nyx dachte darüber nach.

Birdie gab ihr ein paar Minuten, dann fragte sie: »Ist dir das alles zu ungewiss?«

Nyx schob sich die Haare aus dem Gesicht. »Um ganz ehrlich zu sein, ich glaube, wir haben alle immer nur auf gut Glück herumexperimentiert. Auch Diane, selbst wenn sie das nie zugeben würde.« Sie warf Birdie einen Seitenblick zu. »Ein magischer Kräutertrip klingt auch nicht abwegiger als antike Artefakte, die dir, wenn’s gut läuft, die Chaospartikel aus den Poren ziehen.«

»Ha«, machte Birdie. »So gesehen hast du natürlich recht.« Nachdenklich sah sie in die Ferne. Vielleicht sollte ihr Zögern Nyx nervöser machen. Aber Birdies Offenheit, ihr Eingeständnis, dass auch sie nicht alle Antworten hatte, beruhigte sie eher.

Bei dem Vorschlag sträubte sich alles in Nyx, doch ihr fiel auch kein Grund ein, warum sie die Idee von vornherein ablehnen sollte. »Ich kann’s versuchen.«

Birdie grinste, und plötzlich wusste Nyx ganz genau, was sie als Nächstes sagen würde.

»Tue es oder tue es nicht. Es gibt kein Versuchen.«

Die Erinnerung an den Spaziergang ließ Nyx schmunzeln. Birdie machte diese ganze Sackgasse von einer Situation wenigstens ansatzweise erträglich.

Mit verkniffenen Augen starrte Nyx auf die Leinwände, als könnte sie dadurch ihren Kopf zwingen, die Hemmung zu durchbrechen, die sie davon abhielt, einen der Pinsel zu nehmen. Sie hätte Birdie wirklich gerne den Gefallen getan und ihren Vorschlag ausprobiert. Doch ein Teil von ihr ahnte, dass die Idee nur zu gut funktionieren würde. Dass Malen eine Tür aufstoßen würde, die Nyx nicht öffnen wollte.

Eine Tür mit drei Monden, ergänzte ihre innere Stimme wenig hilfreich.

Allein der Gedanke an diese spezielle Tür zur Nacht ließ Nyx’ Herz schneller schlagen. Obwohl sie es nicht wollte, dachte sie daran, wie sie und Leon die Tür im Glaszimmer gestrichen hatten. Sie hatte den Geruch der Farbe in der Nase, ölig und mandelbitter. Sie erinnerte sich an die Farbkleckse auf ihren Händen, daran, wie unbeschwert sie gewesen waren. Wie arglos.

Gegen ihren Willen glitt Nyx’ Blick zu der Tür, die in den Garten hinausführte. Sie könnte sie anmalen. Im Geist sah sie, wie sie das Holz mit einem breiten Pinsel bestrich, wie

Nyx fröstelte und verließ den Raum.