Birdie

Die Wolken trieben wie Zugvögel über das Meer. Birdie schaute aus dem offenen Autofenster und bewunderte die Farbschichten, die so typisch für die Küste von Dorset waren: hellgrüne Weiden, gelber Stechginster, ein Streifen blauer Himmel und darüber die Wolken.

Der Fahrtwind strich an ihrer Wange entlang und wehte ihr die losen Haare ums Gesicht. Sie schob sich eine Strähne hinters Ohr, legte die Hand wieder in den Schoß und blickte hinunter auf den Ring, den Nan so lange getragen hatte. Ganz kurz hatte Birdie vor Augen, wie sie mit hochgekrempelten Ärmeln in der Küche stand und Koriandersamen in einem Mörser zerdrückte.

Das Auto machte einen abrupten Schlenker nach links, und das Bild verpuffte.

»’tschuldige«, sagte Rhea. »Die Schlaglöcher werden mit jedem Winter tiefer.«

»In Neuseeland gibt’s einen Typen, der zotige Gerüchte über die Stadtverwaltung neben die Schlaglöcher sprüht«, sagte Birdie. »Soll die Verantwortlichen dazu motivieren, die Straßen auszubessern.«

Rhea schnaubte. »Einen Versuch wär’s wert!« Sie hatte die Sonnenblende heruntergeklappt, und ihre Augen lagen im Schatten. Die Falten an ihren Mundwinkeln waren jedoch deutlich zu sehen. Die beste Freundin von Birdies Großmutter war älter geworden. Natürlich war sie das. Die letzten fünf Jahre waren für Birdie wie im Flug vergangen, aber die Zeit

Rhea kratzte sich am Nacken, direkt über dem Kragen ihrer Strickjacke. Die Jacke war schwarz. Auf der Beerdigung hatte nur Birdie Farbe getragen. Einen blauen Pullover mit gelben Streifen. Nans Lieblingsfarben.

Das Auto passierte einen Hagebuttenstrauch, und Birdies Herz machte einen Sprung. Sie erkannte den nächsten Streckenabschnitt. Die Straße stieg an, überwand eine Kuppe und gab den Blick auf das Meer frei.

Birdie beugte sich nach vorn. An einem Hang über der Bucht wucherten hohe Hecken, und dazwischen blitzten die weißen Wände eines Hauses auf.

Rhea warf ihr einen Seitenblick zu. »Du musst nicht hier schlafen«, sagte sie. »Ich habe noch ein freies Zimmer, und die nächsten Gäste kommen erst am Wochenende.«

»Danke«, erwiderte Birdie und lehnte sich im Sitz zurück, »aber das passt schon.«

»Sicher?«, fragte Rhea zweifelnd.

Birdie warf noch einen letzten Blick auf das Haus, dann lächelte sie Rhea zu. »Ganz sicher.«

Rhea setzte sie vor dem Gartentor ab. Birdie winkte, bis Rheas kleiner Renault wieder auf die Straße bog und hinter der Hecke verschwand. Nans Haus sah noch genauso aus wie an dem Tag, als Birdie bei ihr eingezogen war. Die geweißten Wände schienen von innen heraus zu leuchten, an der vorderen Ecke des Schieferdachs fehlten zwei Schindeln, und die Wolken spiegelten sich in den Fenstern.

Ein Holunderbaum wucherte neben dem Gartentor, und der herbsüße Duft der Blüten stieg ihr in die Nase. Plötzlich traten Tränen in ihre Augen. Sie legte eine Hand auf den oberen

Nan wird nie mehr ans Tor kommen, um mich zu begrüßen. Der Gedanke bohrte sich in Birdies Herz. Sie blickte auf, und ganz kurz sah sie ein kleines Mädchen, das an der Hand seiner Großmutter über den sandigen Pfad zum Haus ging.

Mit einem Seufzen atmete sie aus. »Ach, Nan«, sagte sie. »Ich war zu lange weg.«

Sie wusste, was Nan dazu gesagt hätte. Entscheidungen zu bereuen ist so sinnvoll, wie Zahnpasta zurück in die Tube zu stopfen. Lass gut sein, Mädchen. Birdie lächelte, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und öffnete das Tor.

Im Innern des Hauses war die Luft kühl und durchzogen von dem kalkigen Geruch der Wände. Birdie war kaum über die Schwelle getreten, als ein blauschwarzer Schatten den Flur entlanggelaufen kam.

»Nimby«, sagte sie überrascht. Sie sank auf ein Knie, und der kleine, schwarze Kater strich um sie herum.

»Hey, mein Schöner.« Birdie streichelte Nimbus’ glattes Fell, hob ihn hoch und stand auf. Der Kater drückte seinen Kopf unter Birdies Kinn. Er war schon immer anschmiegsam gewesen.

»Du hast dich jedenfalls kein Stück verändert«, sagte Birdie, und er schnurrte tief in seiner Kehle, als wollte er das bestätigen. Mit Nimbus im Arm sah Birdie sich das erste Mal richtig um. Die Türen, die rechts und links vom Flur abgingen, standen offen, und ein Streifen Licht fiel über das Fußende der Treppe, die nach oben führte. Die Sträußchen aus getrockneten Kräutern, die sich sonst unter der ersten Stufe befanden, hatten sich aufgelöst, und Rosmarinnadeln lagen überall auf dem Boden verstreut. Birdie schaute nach rechts durch die offene

»Dann legen wir mal los«, sagte sie. Sie drückte Nimbus einen Kuss auf den Kopf, setzte ihn ab und machte sich daran, Nans Schutzzauber zu erneuern.

Am späten Nachmittag hatte sie das Haus gut durchgelüftet und die Überreste von Salz, Kräutern und den Staub, der sich in den Ecken gesammelt hatte, aufgesaugt. Sie hatte die Siegel an Nans Schränken überprüft und die Schutzzauber neu angebracht. Jetzt blieb nur noch eine Sache zu tun.

Birdie setzte sich auf die Kante von Nans Bett und stellte eine Vase mit Vergissmeinnicht auf den Nachttisch. Die zerkratzte Münze mit dem Affodill-Motiv, die Nan niemals weggeben wollte, lag immer noch neben der Nachttischlampe, und auch sonst sah das Zimmer aus, als hätte Nan es nur kurz verlassen.

Jemand hatte Kissen und Decke ordentlich hingelegt und Nans blauen Quilt über das Bett ausgebreitet. Birdie strich mit der Hand über den Stoff. Hier hatte Rhea Nan gefunden. Birdies Befürchtung, dass sich das Zimmer drückend anfühlen würde, war nicht eingetreten. Dieser Ort war friedlich. Hell und gemütlich, so wie zuvor. Dennoch wollte sie sichergehen, dass nichts zwischen den Wänden zurückblieb, was zur Weiterreise bestimmt war.

Birdie stand auf und ließ Nimbus zurück, der zusammengerollt auf dem Bett lag. Sie ging zum offenen Fenster und zog eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. Draußen kratzten die Äste des Vogelbeerbaums an der Hauswand, und die Hecken knisterten in der Brise, die aufs Meer hinaus wehte.

Birdie stellte eine Honigkerze auf den Sims, nahm ein Streichholz und schloss die Augen. Der Wind trieb den

»Nan«, sagte sie. »Du kannst gehen. Es ist alles gut, wir kommen hier klar. Ich komme klar. Du fehlst …« Sie schluckte und spürte die Tränen in ihrer Kehle brennen. »Du fehlst, aber du hast mir alles gegeben, was ich brauche. Ich liebe dich sehr, ich hoffe, das weißt du. Ich hoffe, ich habe es dir oft genug gezeigt.« Kummer schnürte ihr die Worte ab, aber gleichzeitig spürte sie die Berührung einer Hand auf ihrer Schulter. Birdie atmete zitternd aus, dann zündete sie das Streichholz an.

»Lass los, Nan«, flüsterte sie. »Geh mit dem Wind.« Sie setzte das Streichholz an den Docht, bis die Kerze brannte. Zufrieden zog sie die Hand zurück, als ein Lufthauch über ihren Nacken strich. Sie erstarrte. Wieder glitt etwas über ihren Rücken. Dieses Mal fühlte es sich an wie Sand, der über ihre Haut rieselte. Ruckartig richtete Birdie sich auf. Die tätowierten Rückseiten ihrer Finger kribbelten.

»Was zum …« Ein Blick über die Bucht, und sie verstummte. Der Horizont war verschwunden. Graue Wellen schwappten zu den Klippen, und in der Ferne versperrte eine schmutzig weiße Wand aus Regen die Sicht. Mit einem Schlag änderte sich die Windrichtung. Ein brüllendes Röhren hob an, und das Unwetter fegte mit rasender Geschwindigkeit auf die Küste zu. Die Kerze auf dem Sims flackerte.

Eisige Kälte kroch unter Birdies Haut, und ihre Brust zog sich schmerzhaft eng zusammen. Sie spürte, wie ihr Herz pochte. Und pochte. Es klang wie der dumpfe Schlag einer Trommel. Oder schlurfende Schritte.

»Jemand kommt«, murmelte sie. Ein Fauchen ließ sie herumfahren, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Nimbus unter dem Bett verschwand.

Der Wind heulte und blies Nans Kerze aus. Dann schlug etwas mit der Wucht eines Donnerschlags gegen die Haustür.