Nyx

Ihr Puls hämmerte immer noch, aber zum Glück bauschte sich ihre Furcht dieses Mal nicht allzu heftig auf. Mittlerweile saß Nyx auf der Stufe vor der Haustür des Cottage und ging ihre Atemübungen durch. Sie hätte Birdie suchen können, wollte sie jedoch nicht ständig behelligen. Außerdem hatte Birdie ihr bereits ein paar Maßnahmen gezeigt, mit denen sie ihrer aufsteigenden Panik entgegenwirken konnte. Da war die Atemtechnik, die Nyx bereits kannte: einatmen und bis vier zählen. Atem anhalten, bis sechs zählen. Ausatmen. Bis acht zählen.

Momentan versuchte sich Nyx an einer Übung, bei der sie sich nacheinander Dinge bewusst machte, die sie sah, hörte, spürte, roch und schmeckte. Es war Abend, und der Vorgarten duftete nach Holunder. Nyx’ Spucke schmeckte sauer und schal, was kein angenehmer Geschmack war, aber immerhin durchbrach der Fokus auf ihre Sinne die drückende Gedankenwand in ihrem Kopf.

All das erdete sie. Trotzdem konnte sie so nicht ewig weitermachen. Sie musste ihren inneren Aufruhr in den Griff bekommen. Zu viel stand auf dem Spiel, zu viele Menschen, zu viele Leben. Ob sie Angst hatte, sollte keine Rolle spielen.

Unwillkürlich dachte sie an Diane und das Credo, das sie ihnen vorgebetet hatte. Ihr habt die Verantwortung für eure Talente, eure Fähigkeiten. Ob ihr anderen damit helft oder schadet, liegt allein bei euch.

Wieder holperte ihr Herzschlag, aber noch bevor Nyx sich

Als sie sich wieder beruhigt hatte, kehrte sie in das Cottage zurück, nahm eine Decke von der Couch und ging weiter in die Küche.

Kurze Zeit später betrat Nyx mit der Decke und einer Tasse dampfendem Tee den Garten auf der Westseite des Hauses. Die Sonne versank hinter dem Horizont, und die Temperatur war ordentlich abgekühlt. Die Aussicht blieb dennoch spektakulär. Langgezogene Wolken leuchteten in sattem Orange, und unten in der Bucht schimmerte das Meer wie Goldfolie.

Birdie saß auf einer Bank an der Hauswand. Sie blickte zum Himmel, vielleicht um die Wolken oder die Farbabstufungen des Sonnenuntergangs zu lesen. Wenn sie in der Küche werkelte, erzählte sie gerne, aber wenn sie die für Nyx verborgene Wettersprache entzifferte, vergaß sie alles um sich herum.

Nyx bewegte sich so langsam und leise wie möglich. Birdie bemerkte sie trotzdem.

»Hey«, sagte sie mit einer Stimme, die ein wenig eingerostet klang.

»Hey«, antwortete Nyx. »Was machen die Vorzeichen?«

»Lassen sich heute Abend nicht blicken.«

»Ist das gut?«

»Für den Moment, ja.«

Hundertprozentig glücklich schien Birdie mit dem Ergebnis nicht zu sein. Nyx spürte einen Hauch von Verunsicherung, gab sich jedoch damit zufrieden, dass Birdie keine Omen sah, die den unmittelbaren Weltuntergang prophezeiten.

Vielleicht reichte ihre Selbstbeherrschung tatsächlich aus,

Birdie klopfte auf die Bank neben sich. »Willst du dich setzen?«

Nyx war in Versuchung, schüttelte jedoch den Kopf. Sie mochte Birdie. Mochte sie sogar sehr, wenn sie ehrlich war. Aber sich so zu öffnen, wie sie es in den letzten Tagen getan hatte, fiel ihr schwer. Sie machte sich verletzlich, und das Gefühl konnte sie überwältigen, das wusste sie aus Erfahrung. Sie brauchte einen Rückzugsort, einen Moment, um sich mit den Gedanken auseinanderzusetzen, die sie noch nicht offenlegen wollte.

»Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich noch einen Spaziergang mache.«

Birdie musterte sie aufmerksam. »Soll ich mitkommen?«

»Brauchst du nicht, danke. Ich komme klar.« Bevor Birdie nachhaken konnte, legte Nyx die Decke auf der Bank ab und reichte ihr die Tasse. »Falls du noch eine Weile draußen bleiben möchtest.«

Birdie hob überrascht die Brauen, fing sich aber schnell. »Danke«, sagte sie. »Du hast nicht zufällig …«

Wortlos zog Nyx einen Schokoriegel aus der Tasche. Sie kannte niemanden, der so versessen auf Süßes war wie Birdie.

Deren Augen funkelten verschmitzt, als sie den Riegel entgegennahm. »Oh, dich kann man gebrauchen«, sagte sie. »Du kannst bleiben.«

Mit einem trockenen Lächeln tippte Nyx sich zum Salut an die Stirn, dann ging sie in Richtung Klippen davon.

Nyx folgte einem Pfad, der vom Haus hinunter in die Bucht führte. Als sie unten ankam, leuchtete nur noch ein roter Streifen Sonnenlicht am Horizont. Darüber spannte sich der

Der Strand krümmte sich wie eine Mondsichel. Auch hier folgte eine Schicht auf die nächste: zuerst Kieselsteine, dann Sand, dann ein Band aus Muscheln und angeschwemmten Algen. Dort, wo die Brandung über den Sand strich, kräuselte sich Meerschaum wie feine Spitze.

Das Flüstern der Wellen erfüllte Nyx mit Wehmut. Bisher hatte das Geräusch sie immer beruhigt. Würde sie dieses Gefühl wiederfinden? Oder würde das Murmeln des Wassers und das Knistern der Sandkörner sie nur noch an den Vortex erinnern?

Nyx vergrub die Hände in den Taschen ihrer Strickjacke und betrachtete den Himmel. Die Nacht senkte sich herab wie ein Vorhang, schwer und samtschwarz.

Sie war immer noch schön. Trotz allem. Nyx schluckte, dann schlüpfte sie aus ihren Schuhen und stellte sich barfuß auf den Strand.

Die Barriere, die sie davon abhielt, ihren eigenen Albträumen Farbe und Form zu verleihen, war zu hoch. Sie wusste, wie schnell sie beim Malen die Kontrolle über ihr Bewusstsein verlor. Aber vielleicht konnte sie mit etwas anfangen, das weniger einschüchternd war. Sie konnte sich erinnern. Das sollte ungefährlich genug sein.

Nyx trat näher an die Wasserlinie und hatte das Gefühl, als würde sie auf die hereinbrechende Nacht zugehen.

Du kannst das, sagte sie sich. Du musst.

Sie konzentrierte sich auf den kalten, feuchten Sand unter ihren Fußsohlen und hoffte, dass die Berührung sie im Hier und Jetzt verankern würde.

Wie hatte eine ihrer Lieblingsautorinnen einmal geschrieben? Ich fließe und bleibe dennoch verwurzelt. Oder so ähnlich.

Nyx atmete aus, dann rief sie sich die letzten Stunden, die sie mit Leon verbracht hatte, ins Gedächtnis.

Hatte sie etwas übersehen? Das hatte sich Nyx im Nachhinein oft gefragt. Hatte es eine Warnung gegeben, einen Hinweis? Oder hatten sie ihr Schicksal einmal zu oft herausgefordert?

Nyx grub die Zehen in den feuchten Sand. Sie …

… wanderte durch die Sphäre der Wahren Nacht. James ging neben ihr, die Hände in den Hosentaschen vergraben und ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht. Seinen Gips war er vor einer Woche losgeworden. Leon marschierte voraus und sprang über die Milchstraße, die durch den Himmelsboden mäanderte. Wenn seine bloßen Füße aufkamen, stoben helle Funken nach allen Seiten wie Sternschnuppen.

Nyx schmunzelte. Sie hatten die Tür, die zurück ins Glaszimmer führte, weit hinter sich gelassen. Vor dem Überfall hatten sie immer darauf geachtet, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Aber nach allem, was passiert war, gaben sie ihre Vorsicht auf. Warum sollten sie sich beschränken, wenn sie trotzdem gejagt wurden?

Also erkundeten sie die Sphäre, in der …

… sie sich sicher fühlten. In der ihnen nie etwas Böses widerfahren war. Die Landschaft der Nacht war ihnen vertraut. Da war das Firmament, das sich flach wie ein Wattenmeer hinter der Schwelle ausbreitete. Diese Gestade erschienen Nyx genauso endlos wie die Dunkelheit, die sich über ihnen wölbte. Bei jener letzten Erkundung waren sie jedoch weiter vorgedrungen, als je zuvor, und sie fanden sich am Rand eines Waldes wieder. Zu sehen …

… dass sich dieser Ort ändern konnte, war ein Schock. Nyx stand noch am Rand des Waldes, während Leon bereits zwischen die Bäume trat.

»Es ist nicht gefährlich«, kam prompt Leons Antwort. »Wow, schaut euch das an!«

Nyx und James wechselten einen Blick und betraten den Wald.

Ein Wald … war das wirklich die richtige Beschreibung? Die schlanken Pfeiler und verästelten Kronen ähnelten Bäumen, aber je genauer Nyx hinsah, umso unsicherer wurde sie. Vielleicht war ›Baum‹ einfach der Begriff, den ihr Verstand als Erstes an diese Form geheftet hatte.

Sie umrundete einen glitzernden Stamm, sah daran hinauf und hinunter. Was in der regulären Welt ein Stamm aus Rinde und Holz gewesen wäre, war hier ein Bündel aus Fasern, die aus Sternenstaub zu bestehen schienen. Nein, nicht Fasern. Nyx lehnte sich näher heran. Die leuchtenden Bahnen erinnerten sie an Adern, und die winzigen Lichter, die sie transportierten, bewegten sich. Fasziniert sah sie zu, wie der glitzernde Staub pulsierte, auseinanderstob, sich zu einem Strang verdichtete und nach oben strebte. Es sah aus, als würden sich die Adern, die die Säulen bildeten, ständig auflösen und wieder neu formen. Ihr Blick wanderte nach oben. Der Baldachin aus funkelnden Verästelungen war genauso im Fluss wie alles andere hier.

Es war wunderschön. Nyx spürte eine Freude, die von ihrem Bauch nach oben stieg wie der Sternenstaub zu den flackernden Baumkronen. Instinktiv wusste sie, dass nichts in der regulären Welt an dieses Spektakel herankommen konnte. Nichts würde sich für sie je so wundervoll anfühlen. Sie begriff noch nicht einmal genau, was sie vor sich sah, aber hier zu stehen fühlte sich plötzlich zutiefst richtig an. Als wäre sie kurz davor, eine Verbindung zu genau dem Platz im Kosmos zu finden, an den sie gehörte. Nyx streckte die Hand nach den Sternenadern aus. Eine Sehnsucht, für die ihr die Worte fehlten, ließ ihr Herz schneller schlagen.

Das Rascheln erklang, kurz bevor ihre Fingerspitzen das wandernde Licht berührten. Sie zuckte zusammen und erstarrte. Das

… die Härchen auf ihrem Nacken aufrichteten. Nyx hörte das Rauschen der Wellen, und ihr Murmeln vermischte sich …

… mit dem Knistern der fließenden Bäume. Sie sah nach oben, dorthin, wo die Äste vor der Dunkelheit auseinanderdrifteten. Keine Äste, dachte sie. Die verzweigten, mäandernden Lichtbahnen sahen eher aus wie Rinnsale. Wie Flüsse, die über das Feld der Nacht rannen. Eins war jedoch seltsam. Die Bahnen aus Sternensand flossen in alle Himmelsrichtungen. In ihrer Mitte klaffte jedoch ein Fleck aus vollkommener Finsternis.

Sie runzelte die Stirn. Je länger sie zu dieser Leere hinaufstarrte, umso mulmiger wurde ihr. Da war etwas … etwas, das sie weder hören noch sehen, wohl aber spüren konnte. Die Dunkelheit über ihrem Kopf pulsierte, sie …

… atmete. Wasser spülte über Nyx’ Zehen, und …

… kalte Angst schloss sich wie eine Faust um ihr Herz. Gedämpft hörte sie James, der immer eindringlicher auf Leon einredete. Dennoch konnte sie den Blick nicht abwenden. Licht strömte nach oben, strömte am Rand der Leere entlang in

… kreisenden Bewegungen. Wellen umspülten ihre Knöchel, Sand glitt unter ihren Füßen davon. Sie begriff …

… dass sie zu einem Abgrund hinaufstarrte. Plötzlich erschien es ihr unmöglich, dass sie auf dem Boden stehen blieb. Sie würde nach oben fallen, sie würde jeden Halt verlieren!

Die Lichtflüsse strömten nun über den Rand des Abgrunds, rauschten an seinen Wänden entlang wie Wasserfälle. Nyx spürte den Sog, spürte das Ziehen direkt unter ihren Rippen. Als sie die Hand hob, schien das Licht durch ihre Finger. Sie holte Luft, fühlte, wie leicht sie wurde, dann warf James’ Schrei sie zurück auf den Boden.

NYX. Wie ein Flehen, wie ein …

… Stich durch ihr Herz. Etwas Schreckliches passierte. Sie wusste es, noch bevor sie hinsah, bevor ihr …

»Nyx, oh Gott, hilf mir!«

Sie riss die Augen auf, noch halb verfangen in ihrer Erinnerung. Für einen schrecklichen Moment wusste sie nicht, wo sie war, dann rückte das Meer in den Fokus, und die Wellen leuchteten. Sternenlicht glitzerte direkt unter der Wasseroberfläche, gleißte flackernd über jeden Wellenkamm, der zum Strand rollte.

Ihr Atem stockte. Das Licht glitt auf sie zu wie ein Schwarm Fische, dann erhob sich etwas aus den Untiefen, erst die Schultern, dann der gebeugte Kopf.

Entsetzt wich Nyx zurück, doch ihre Füße steckten im Sand. Sie keuchte, stolperte, stürzte rücklings ins seichte Wasser.

Das Sternenwesen kroch auf sie zu, und Nyx wimmerte. Sie krabbelte rückwärts, aber bei jeder Bewegung brach der Sand unter ihr weg. Sie hatte es fast aus der Brandung herausgeschafft, da sah sie, was tatsächlich passierte: Der Strand wurde nicht nur von den Wellen weggespült, er löste sich auf. Sand zerbröckelte, sackte nach unten und stürzte in eine gähnende, schwarze Leere, die sich wie ein Riss quer über den Strand zog.

Die Nacht … die Nacht war hier, und es gab keine Tür, die sie zurückhielt, keine Schranke. Nyx schrie und krabbelte weiter, schnitt sich die Hände am Muschelgranulat auf.

Breiter und breiter klaffte die Nacht zwischen ihr und dem Meer, bis die leuchtenden Wellen in den Abgrund strömten.

Das Sternenwesen stürzte mit ihnen hinab, nur um kurz darauf am anderen Rand der Leere aufzutauchen. Es zog sich nach oben, hangelte sich über den Strand und streckte die Hand nach Nyx’ Zehen aus. Sie wusste, wenn es sie berührte, würde sie den Verstand verlieren.

Sie stieß ein verzweifeltes Ächzen aus und warf sich herum, doch ihr Körper war zu schwer, der Sog zu stark, sie würde …

Birdie schrie ihren Namen, dann war sie bei ihr. Sie packte Nyx unter den Achseln und zog sie den Strand hinauf. Sie rannten, stolperten, bis sie vor den Klippen zusammenbrachen.

Birdie schloss beide Arme um sie und hielt sie fest. »Du bist hier, du bist okay. Es ist alles okay. Shit. Nyx

Rauschen dröhnte in ihren Ohren, und sie spürte James’ Schreie, wieder und wieder, wie Wellen, unter denen ihr Magen sich verkrampfte.

Stopp, dachte Nyx verzweifelt. Stopp stopp stopp.

»Nyx«, wiederholte Birdie. »Nyx, es ist okay. Du bist in Sicherheit.«

Nyx klammerte sich an Birdie. Als sie sich umsah, war der Strand wieder unversehrt. Die Nacht war verschwunden, und das einzige Licht, das hier nicht hergehörte, war Birdies Taschenlampe, die in den seichten Wellen hin und her rollte.