Die Welt kehrte in Bruchstücken zu ihm zurück. Zuerst hörte er Geräusche, dann sah er seine Umgebung verschwommen, wie durch verschmiertes Glas. Er wusste nicht, wie viel Zeit verging, ob er bewusstlos wurde oder nur schlief. Sein Kopf fühlte sich dumpf und schwer an. Der Rest seines Körpers taub.
Erinnerungsfetzen trieben an ihm vorbei wie Treibgut. Diane. Diane mit vor Ärger verzerrtem Gesicht, Diane auf dem Boden.
Dann nichts mehr.
»… lange noch?«
James runzelte die Stirn, oder zumindest fühlte es sich so an. Zum ersten Mal drang eine Stimme mit klaren Worten zu ihm durch.
»Schwer zu sagen«, antwortete jemand in seiner Nähe. »Die Nachfolgen seiner Gehirnerschütterung dürften weitgehend ausgeheilt sein, und wir haben ihn so weit stabilisiert, dass wir die Schmerzmitteldosis senken können. Ob er für die Prozedur bereit ist, können wir allerdings erst feststellen, wenn wir die Sedierung ganz aufheben.«
»Dann tun Sie das.«
James versuchte vergeblich, die Augen zu öffnen. Ein pochender Schmerz kroch seinen Hinterkopf hinauf und breitete sich hinter seinen Schläfen aus.
Er spürte, wie er erneut das Bewusstsein verlor. Dafür war er dankbar.
Er lebte noch. Das war das einzig Positive, was er zu seiner Situation sagen konnte.
James lag auf einer Liege, die aussah wie eine moderne Version des Barbierstuhls von Sweeney Todd. Seit zwei Tagen war er genug bei Sinnen, um sich seiner Umgebung – und seiner beschissenen Lage – bewusst zu sein.
Sie hatten ihn erwischt. Am Ende hatte ihn der Orden des Ersten Tages verschleppt, genauso, wie Diane es immer befürchtet hatte.
Diane.
James schloss die Augen, als die Trauer über ihn hereinbrach. Der Schmerz hielt jedoch nicht lange vor, denn die Wut, die in ihm brodelte, löschte jede andere Emotion binnen Sekunden aus.
Eine Frau in weißem Laborkittel stand am Fußende seiner Liege und betrachtete den Monitor, auf dem scheinbar seine Vitalwerte aufgezeichnet wurden. Elektroden klebten auf seiner Haut, Katheter steckten in seiner Armbeuge, und Schläuche verbanden ihn mit Infusionsbeuteln. Sie hatten ihn mit gepolsterten Manschetten an den Stuhl gefesselt.
James presste die Lippen aufeinander. Seine Kehle war schmerzhaft trocken, aber er würde den Teufel tun und um Wasser bitten. Er wusste, dass er Angst haben sollte. Ein Blick auf den bewusstlosen Mann auf der nächsten Liege sollte ausreichen, um ihn in Panik zu versetzen. Stattdessen spürte er nichts als beißenden, bitteren Hass.
Er sah zu der zweiten Frau, die neben seinem Monitor stand. Josephine Morley. Er kannte sie von einem Foto in Dianes Arbeitszimmer. Auf dem Bild waren die beiden jünger, trugen Tweed und prosteten der Kamera mit Emailletassen zu. Der Schnappschuss war an irgendeinem Uniwochenende aufgenommen worden. So lange kannten sich die beiden bereits.
Wann hatte Josephine beschlossen, Diane in den Rücken zu fallen? Hatte sie ihr ihre Freundschaft vorgegaukelt und die ganze Zeit auf der Lauer gelegen? James starrte auf Josephines gelassene, interessierte Miene und spürte, wie sich die Dunkelheit in ihm regte.
»Wir sind sehr zufrieden«, sagte die Frau im Laborkittel. Josephine nannte sie Dr. Wilson. Dr. Tod hätte besser gepasst. »Sein Körper nimmt die Infusionen gut an. Morgen können wir ihm die Münze auflegen, und dann beginnen wir mit der Extraktion.«
»Wunderbar«, antwortete Josephine. »Das läuft ja wie am Schnürchen.«
Er wollte sie ertränken. In Dunkelheit ersticken.
Der Wunsch dieser Frau, dieser Mörderin, weh zu tun, war so stark, dass ihm schwindelig wurde. Wieder spürte er die Dunkelheit hochschwappen, doch er konnte sie nicht greifen, nicht aus sich herausholen. Was auch immer sie ihm mit den Infusionen verabreichten, verhinderte, dass er sein Talent einsetzte. Die Hilflosigkeit, die sie ihm aufzwangen, erstickte ihn wie eine Decke aus Blei. Er wollte schreien, an seinen Fesseln zerren, aber diese Genugtuung würde er ihnen nicht geben.
Stattdessen zwang er sich, ruhig liegen zu bleiben und seinen Blick auf die letzte Person vor ihm zu richten.
Erin stand schräg hinter ihrer Mutter und starrte schweigend zur Seite. Weg war die Beanie, die sie getragen hatte, weg Samis Sweatshirt. Stattdessen trug sie ein hellblaues Hemd mit akkurat gebügeltem Kragen und einen roten Pullover.
Er hatte sie gemocht. Er hatte ihr vertraut.
Sieh mich an, dachte er. Sieh mich an, verdammt nochmal.
Sie rührte sich nicht.
James ballte die Fäuste, bis die Manschetten an seinen Handgelenken knirschten.
Josephine Morley musterte ihn kurz, dann führte sie ihr Gespräch mit Dr. Wilson fort.
Mit Mühe entkrampfte James seine Finger und schloss erneut die Augen.
Er sollte Angst haben. Er sollte trauern. Im Moment wollte er jedoch nur eins: die Wut in seinem Innern schüren, bis sie stark genug war, um ihn hier herauszubringen.
Die Zeit zog sich in die Länge wie Melasse, aber irgendwann leerte sich das Labor, und die Tagesbeleuchtung wurde ausgeschaltet. Lediglich ein paar Leuchthilfen am Boden strahlten weiter. Und natürlich blieb das mattviolette Leuchten, das durch die Drähte aus dem Körper von James’ Bettnachbarn nach oben wanderte.
James neigte den Kopf zur Seite. Der Junge auf der anderen Liege sah aus, als wäre er fünfzehn, höchstens sechzehn Jahre alt. Obwohl er bewusstlos war, floss Nachtenergie aus seinen Armen. Ununterbrochen. Unaufhaltsam.
Tränen brannten in James’ Augen. Niemand hatte ihm erklärt, warum er hier war. Aber er hatte das Labor beobachtet und sich ein paar Antworten zusammengereimt. Der Junge neben ihm war ein Nachtbote. James spürte ihn, wenn auch schwach. Er wusste nicht, ob seine Antennen durch Beruhigungsmittel gestört wurden oder ob die Aura seines Nachbarn verblasste. Eines begriff er jedoch: Dieses Labor existierte, um Boten wie ihm die Nacht aus den Adern zu ziehen. Die Steinplatten an der Decke sahen dem Sonnensiegel aus Alaca Höyuk nicht nur verdächtig ähnlich, die freigesetzte Nachtenergie schien auch von ihnen angezogen zu werden.
James wusste nicht, was der Orden damit bezweckte, zweifelte aber nicht daran, dass sie ihn bis aufs Mark aussaugen würden, wenn er blieb.
Er hatte nicht vor, zu bleiben.
James drehte den Kopf und starrte hoch zur Decke. Dorthin, wo die losen Enden goldener Drähte herabbaumelten und darauf warteten, unter seine Haut zu dringen. Er atmete durch die Nase aus, ließ alle Anspannung aus seinem Körper weichen und besann sich auf all das, was Diane ihm beigebracht hatte.
Zuerst blendete er seine Umgebung aus, dann schob er seine Benommenheit und das permanente Schwindelgefühl an den Rand seines Bewusstseins. Er sank tiefer, spürte seinen eigenen Herzschlag, spürte, wie sein Bauch sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Er stellte sich vor, wie er eine Schale in einen nachtschwarzen See tauchte.
Du weißt, was du tun musst, ermahnte das Echo von Dianes Stimme. Du hast eine besondere Kraft in dir, eine Kraft, die dich überrennen wird, wenn du es zulässt.
In seinen Gedanken schöpfte James Dunkelheit in seine Schale. Ja, Diane hatte vieles zu verantworten. Sie hatte ihn stets auf Armeslänge von sich ferngehalten, hatte ihm das Gefühl gegeben, dass er ihr etwas beweisen musste. Dass er sich ihr Vertrauen verdienen musste. Sie hatte ihn so darauf getrimmt, seine Neigungen zu kontrollieren, dass er sich immer noch fühlte, als würde er nie frei atmen können.
Aber sie hatte ihm auch beigebracht, seine Fähigkeiten gezielt einzusetzen.
Wenn du es richtig anstellst, hast du die Zügel in der Hand. Du hast mehr als genug Willensstärke, James. Und jetzt sieh zu, dass du das hinbekommst.
James goss die Dunkelheit in sein Herz und spürte ihre seidige Schwere. Was auch immer der Orden durch seinen Blutkreislauf pumpte, hemmte ihn, sorgte dafür, dass ihm die Dunkelheit fast wieder entglitt. James sog tief den Atem ein, rief sich Josephines zufriedenes Gesicht vor Augen und hob die Dunkelheit weiter an, bis er sie unter seinem Brustbein fühlen konnte.
James atmete aus und schickte die Dunkelheit zu seinen Fuß- und Handgelenken. Schweiß perlte auf seiner Stirn, und ein drückender Schmerz bohrte sich in seinen Schädel, aber er machte weiter. Die Dunkelheit sammelte sich in seinen Pulsadern, direkt unter seiner Haut.
Was er jetzt versuchte, hatte er noch nie zuvor getan. Aber er wusste, dass er nur diese eine Chance hatte. Er würde es schaffen. Er würde verdammt nochmal nicht auf diesem Stuhl krepieren.
Die Wut kochte in seinem Innern. Er bündelte sie zusammen mit der Dunkelheit, ließ sie anschwellen, hielt sie gerade noch im Zaum, bis er drohte zu bersten. Dann entließ er die Dunkelheit mit einem Schlag, und die Fesseln barsten mit einem lauten Krachen.
James keuchte auf und hob die Arme. Ein blauschwarzer Nimbus schwebte um seine Hände wie stoffgewordene Nacht. Das war neu.
Er blinzelte, schüttelte seine Glieder, und die lokalisierte Dunkelheit verflog. Mit zitternden Fingern riss er das Pflaster von der Kanüle, zog die Nadel des Katheters aus dem Arm und setzte sich auf. Sofort überkam ihn Schwindel. Mit Mühe unterdrückte er den Drang, sich zu übergeben, schob sich vom Rand der Liege und stand auf.
Schwankend sah er sich um. Wohin sollte er gehen? Dr. Wilson und die anderen hatten das Labor durch die breite Milchglastür verlassen, aber ihnen nachzugehen erschien ihm zu riskant. Der Pfleger, der die letzten beiden Nächte seine Runden gedreht hatte, war stets von dort gekommen, also stand die Chance, dass da draußen jemand Wache hielt, hoch.
James’ Blick fiel auf einen Durchgang am anderen Ende des Labors, hinter dem lediglich ein dunkler Raum zu warten schien.
»Okay«, murmelte er. »Okay.«
Er fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen, dann drehte er sich zu den Liegen um. Es waren acht, wie er jetzt feststellte, doch nur eine von ihnen war belegt.
James schluckte gegen den sauren Geschmack in seinem Mund an und schleppte sich zu dem Nachtboten, neben dem er gelegen hatte. Höchstens sechzehn. Wahrscheinlich jünger, auch wenn sein graues, ausgemergeltes Gesicht ihn viel zu alt wirken ließ. Eine kleine Falte hatte sich zwischen seine Augenbrauen gegraben, und James verspürte den Drang, sie mit seinem Daumen zu glätten.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. Er könnte versuchen, den anderen Boten hier herauszutragen. In seinem geschwächten Zustand käme er jedoch keine fünf Meter weit. Wenn er hier irgendetwas bewirken wollte, musste er entkommen und Hilfe holen. Es war die logische Entscheidung, und sie zerriss James das Herz.
Eine Kupfermünze lag auf der Brust des Jungen, auf der blanken Haut im Ausschnitt seines Hemdes. Das eingestanzte Motiv war grob zerschnitten worden, doch James konnte noch das Abbild einer lilienähnlichen Blüte erkennen. Er berührte den Arm des Jungen, dann bewegte er den Daumen zu dem Draht, der ihm die Nachtenergie entzog. James wollte ihn herausreißen, wollte alles in diesem Labor zerschlagen.
Dunkelheit pulsierte in ihm, ungefragt und ungerufen. James keuchte erschrocken und stützte sich auf dem Kopfteil der Liege ab. Er drängte die Dunkelheit zurück, doch die Wut, die nun mit ihr verwoben war, schmerzte bei ihrem Rückzug wie die Schnitte von Rasierklingen.
Für ihn hatte die Dunkelheit immer Schutz bedeutet. Sie war zärtlich gewesen, eine Umarmung, ein Geschenk für sich selbst und für andere.
Auch das hatten sie ihm weggenommen.
»Ihr verdammten Scheißkerle«, murmelte er.
Vorsichtig drückte er die Schulter des bewusstlosen Nachtboten, dann drehte er sich um und ging auf den Ausgang zu.