Als Nyx aufwachte, war es noch dunkel im Zimmer. Unten in der Bucht krachte die Brandung mit einem dumpfen Donnern an den Strand. Durch das offene Fenster wehte der Geruch von Holunder und Meer.
Birdie lag neben ihr, kaum mehr als eine Armeslänge entfernt. Ihr Gesicht hatte sie halb in einem Kissen vergraben. Sie trug ein ärmelloses Top, und eine Galaxie an dunklen Sommersprossen zeichnete sich auf ihrer hellen Haut ab.
Sie schlief, oder zumindest waren ihre Augen geschlossen. Eine einzelne Haarsträhne ringelte sich über ihre Wange, und Nyx wollte sie zurück hinter Birdies Ohr schieben. Es war absurd, aber der Wunsch, Birdie zu berühren, war so stark, dass es ihr die Kehle zuschnürte.
Gerade jetzt. Warum fühlte sie gerade jetzt so, wenn sie sich mehr denn je zusammenreißen musste? Wenn sie drohte sich aufzulösen, wenn sie eine verdammte Gefahr für andere war?
Sie dachte an das Tagebuch der anonymen Trägerin, das sie einst so erschreckt hatte. Daran, wie sie das Gesicht ihres Liebhabers beschrieben hatte.
Es ist nicht mehr da, nur Rauch, nur Sterne.
Nyx schlang die Arme um ihre Mitte und zog die Knie enger an die Brust.
Als die Matratze knarzte, öffnete Birdie die Augen. »Hey«, sagte sie leise.
Sie fragte nicht: Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung? Seit sie vom Strand zurückgekehrt waren, hatte sie das kein einziges Mal gefragt. Stattdessen half sie Nyx dabei, ihre nassen Sachen auszuziehen, drehte sich weg, während sie in T-Shirt und Shorts schlüpfte, und schlug derweil die Bettdecke für Nyx zurück.
Als Nyx am Ende ihrer Kräfte dagestanden hatte, die Stirn an Birdies Schulter gelehnt, hatte Birdie sie festgehalten. Nyx wusste nie, wie sie andere nach einer Umarmung fragen sollte. Die meiste Zeit vermisste sie körperliche Nähe nicht, oder sie dachte zumindest nicht darüber nach. Aber manchmal, in Momenten, die sie weder vorhersehen noch abpuffern konnte, sehnte sie sich so sehr nach einer liebevollen Berührung, dass es weh tat. In solchen Momenten ahnte sie, dass diese Sehnsucht sie mitreißen würde, wenn sie jemand in den Arm nahm. Dann würde sie die andere Person zu fest halten. Sie würde Angst davor haben, loszulassen. Würde zu viel von sich preisgeben.
Also blieb sie vorsichtig. Durch ihre Zurückhaltung wirkte sie auf andere verschlossen, das wusste sie. Die meisten Leute gingen im Kontakt mit ihr entweder irritiert oder respektvoll auf Abstand.
Aber Birdie?
Birdie war geblieben, ohne dass Nyx sie darum hatte bitten müssen. Egal, was Nyx tat, egal, wie sichtbar sie einbrach oder die Welt zum Bröckeln brachte, Birdie hatte keine Berührungsängste. Nyx sollte sie warnen. Sie sollte von hier verschwinden und Birdie nicht länger in Gefahr bringen. Aber sie brachte es nicht über sich.
Birdie hatte keine Angst vor ihr.
»Was ich unten gesagt habe, habe ich so gemeint«, sagte Birdie. »Du bist in Sicherheit.«
»Was hast du gesehen?«, fragte Nyx, ihre Stimme kaum mehr als ein Krächzen. »Am Strand.«
»Sie war da«, antwortete Birdie ohne Umschweife. »Die Gestalt aus Sternen, genau so, wie du sie beschrieben hast.«
Nyx drehte sich auf den Rücken und spürte, wie sich ihre Kehle noch enger zusammenschnürte. Das beantwortete zumindest die Frage, ob ihr Verstand ihr etwas vorgaukelte. Es bedeutete jedoch auch, dass die Wahre Nacht tatsächlich in diese Sphäre durchgebrochen war, und das war eine Katastrophe.
»Da war noch mehr, oder?«, fragte Birdie zögernd. »Zwischen dem Meer und dir. Ich konnte es nicht richtig erkennen. Ich wollte hinsehen, aber es war, als ob … nicht, als ob mich etwas blendet, eher das Gegenteil. Als ob da etwas ausgeblendet würde? Es war wie eine Lücke, etwas, das nicht dort sein konnte. Was war das?«
»Die Nacht«, antwortete Nyx. Mit einem Mal war ihr speiübel. Alle Quellen, die sie kannte, besagten dasselbe: Normale Menschen starben, wenn sie versuchten, die Sphäre der Wahren Nacht unverschleiert anzusehen. Sie ›zerfaserten‹, ›vergaßen ihre Form‹, ›verloren ihre Existenz‹. Um Nyx zu helfen, musste Birdie direkt auf jenen Riss in ihrer Realität zugerannt sein. Hätte sie einen richtigen Blick auf das abbekommen, was Nyx in diese Welt eingelassen hatte, dann wäre sie jetzt nicht mehr hier.
Ihr Herz schlug schneller. Noch nie hatte sich die Nacht einfach so um sie herum geöffnet. Sie verlor die Beherrschung. Hatte sie wirklich geglaubt, dass sie ihre Kräfte erfolgreich unterdrückt hatte? Sie war die Chaosträgerin, sie …
Sie durfte nicht aus der Fassung geraten, nicht schon wieder.
Birdie berührte sie an der Schulter. Nyx zuckte zusammen, blieb jedoch liegen. Birdies Fingerspitzen ruhten ganz leicht auf ihrem Arm.
»In Ordnung?«, fragte Birdie.
Nyx starrte an die Decke, ihr Herzschlag flatterte immer noch, dann nickte sie.
Lass nicht los.
Behutsam legte Birdie ihre Hand auf Nyx’ Arm. Ihre Haut war weich, ihre Berührung ein Ruhepol. Dankbar schloss Nyx die Augen. Mehrere Sekunden lang liefen all die Gründe, warum sie Birdies Berührung nicht annehmen sollte, in ihrem Kopf Sturm. Dann gab sie nach. Sie war zu müde, zu erschöpft, zu alles.
»Sag’s mir noch einmal«, bat sie leise.
Birdie strich sanft mit dem Daumen über ihren Arm. »Du bist in Sicherheit.«
Nyx wandte den Kopf, so dass ihr Atem über Birdies Fingerknöchel streifte. Nach und nach spürte sie wieder die Nachtluft auf ihrer klammen Haut, die aufgewärmten Laken unter ihrem Rücken und Birdies Hand, warm und schwer auf ihrer Schulter.
»Erzähl mir von deinem Tattoo«, bat Birdie nach einer Weile.
»Was?« Überrascht sah Nyx zu ihr.
Birdie stupste Nyx’ Wade sacht mit den Zehen an. Die Tätowierung, die Nyx dort trug, war um einiges größer als die kleine Eule hinter ihrem Ohr. Es war ein Baku, ein Chimärenwesen mit dem Kopf eines Elefanten, einer Mähne aus Eulenfedern, den Tatzen eines Tigers und dem Körper eines Bären. Die Tätowiererin hatte den Yōkai in Grün und Rot auf Nyx’ Haut verewigt und ihn aus einem Bett aus Ringelblumen aufsteigen lassen.
»Baku sind Schutzgeister, die Albträume verschlingen«, erklärte Nyx.
»Oh«, sagte Birdie. »Oh, verstehe.«
Nyx hätte es dabei belassen können, aber mit einem Mal drängten die Worte nach draußen. »Meine Mutter hat an sie geglaubt«, sagte sie. »Anscheinend. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Nach ihrem Tod bin ich bei meinem Großvater väterlicherseits aufgewachsen. Er hat mir erzählt, dass meine Mutter jeden Abend einen Baku gemalt und neben mein Kopfkissen gelegt hat.«
»Wusste sie, dass du selbst Albträume auflösen kannst?«
»Kann sein. Diane meinte, meine Mutter wäre auch eine Nachtbotin gewesen. Deshalb ist Diane auf mich aufmerksam geworden.«
In ihren Teenagerjahren hatte Nyx versucht, mehr über ihre Geburtsfamilie herauszufinden. Diane hatte ihr geholfen, ein paar entfernte Verwandte in der Nähe von Kyoto aufzuspüren.
»Ich war noch nie in Japan«, sagte Birdie, als Nyx ihr das erzählte. »Ich habe darüber nachgedacht, aber bisher hat mein Geld nur für Interrail-Tickets gereicht.«
Ihr Daumen strich über Nyx’ Schulter. Nyx blickte zur Decke.
»Ich dachte, ich würde nach meinem Schulabschluss dorthin gehen«, sagte sie. »Wir haben Pläne geschmiedet. James, Leon und ich.« Die Erinnerung daran schmerzte, aber Nyx wollte sie nicht mehr zurückhalten. Sie dachte daran, wie sie den Japanreiseführer durchgeblättert hatte, wieder und wieder. James hatte die Orte, die er besuchen wollte, mit grünen Post-its markiert, Leon seine Favoriten mit Pink.
Nyx markierte nichts, aber jedes Mal, wenn sie an die Reise dachte, breitete sich eine vorfreudige Wärme in ihr aus. Sie stellte sich vor, wie ihre beiden Familien aufeinandertrafen, und dachte an Puzzleteile, die sich zusammenfügen.
»Leon war total aufgeregt deswegen«, erzählte Nyx. »Er wollte unbedingt weg aus Wildridge, das war das eine. Aber er … er freute sich auch für mich. Dass ich Familie hatte, die ich aufsuchen konnte.«
Wieder schnürte sich ihre Brust zusammen. Birdie schob ihre Hand über Nyx’ Schlüsselbein und ließ sie dort ruhen.
»Wie war er so?«, fragte Birdie. »Leon?«
Nyx stieß ein halb ersticktes Lachen aus. »Anstrengend«, sagte sie. »Wundervoll. Er sprudelte immer mit irgendwas über. Er war neugierig, hat tausend Fragen gestellt, wollte immer mehr lernen und ausprobieren. Wenn Diane sagte: ›Das geht nicht, das ist zu riskant‹, dann wollte er es noch mehr.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Er war für James und mich da, egal, was wir brauchten.«
»Klingt, als hättet ihr drei euch sehr nah gestanden.«
»Ja«, sagte Nyx, und etwas presste sich an ihr Herz, drückte es zusammen wie ein Seil voller Knoten. »Ja.«
Sie schluckte, und eine weitere Träne rann über ihre Wange. »Er ließ sich phantastische Dinge einfallen«, sagte sie leise. »Ich kann Träume von außen manipulieren, aber Leon konnte Träume besuchen. Er konnte in sie eintauchen und Bilder erschaffen, die in den Köpfen der Träumenden zuvor nicht da waren. Das war eins seiner Talente. Er erschuf unmögliche Dinge aus dem Nichts, nur aus seiner Vorstellungskraft.«
Die letzten Jahre über hatte Nyx jede Erinnerung an Leon abgeblockt, auch die guten. Jetzt leuchteten sie auf, wie Windlichter auf einer Fensterbank.
Diane hatte Leon gesagt, dass er das Traumwandeln unterlassen sollte. Er wäre zu ungestüm, zu unvorsichtig, um in den Geist anderer Menschen einzugreifen. Mit anderen Worten: Er wäre zu chaotisch.
Aber für Nyx hatte sich Leons Chaos nie bedrohlich angefühlt. Im Glaszimmer klatschte Leon Farbe an die Wand, anstatt sie einfach mit dem Pinsel aufzumalen, und die Wirbel aus unterschiedlichen Blautönen ließen Nyx’ Herz höherschlagen. In der Küche drehte er spontan Musik auf, und sie tanzten wild herum, während das Gemüse darauf wartete, fertig geschnitten zu werden. Er stiftete sie und James an, die Schule zu schwänzen. Zu dritt streiften sie durch die Gegend, immer der Nase nach, auf der Suche nach Alltagsabenteuern. Nyx hatte sich nie wieder so frei oder beflügelt gefühlt wie in der Zeit, in der Leon ihr Leben durcheinanderwirbelte.
»Mit zwölf oder dreizehn bekam ich Albträume«, sagte sie. »Einer davon kam immer wieder. Ich stand in einem grauen, leeren Raum, und irgendwo neben mir stand mein Großvater. Ich konnte mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern, und im Traum konnte ich mich nicht zu ihm umdrehen. Ich wusste, da waren noch andere, meine Mutter, mein Vater, aber egal, wie sehr ich mich anstrengte, ich schaffte es nicht, mich in ihre Richtung zu drehen.«
»Leon hat dafür gesorgt, dass du sie wiedergesehen hast?«, fragte Birdie.
Nyx lächelte. »Nein. Aber er hat mir einen anderen Traum geschenkt. Er hat mir einen Moment zurückgegeben, den ich schon fast vergessen hatte.«
Leon hatte ihr wie E. T. einen Finger auf die Stirn gelegt, und als sie eingeschlafen war, träumte sie von dem Aquariumsbesuch, der sie als Fünfjährige so sehr beeindruckt hatte. Pappoú war bei ihr, und obwohl sie ihn immer noch nicht sehen konnte, spürte sie seine große, schwielige Hand, die sie so sanft festhielt. Sie sah hoch zu den Scheiben, hinter denen die bunten Fische schwammen. In ihrem Traum glitzerten sie, zogen Schweife aus Sternenstaub hinter sich her, dann wuchsen sie und verwandelten sich in riesige, glitzernde Wale. Die Glaswände lösten sich auf, und die Wale glitten und tollten um Nyx herum, füllten ihr ganzes Wesen mit Liebe und Staunen aus.
»Er wusste, das angenehme Träume für mich die Form von Fischen annahmen«, sagte Nyx. »Also hat er für mich die größten Fische erschaffen, die er sich ausdenken konnte.«
»Hat er je herausgefunden, dass Wale Säugetiere sind?«, fragte Birdie.
»Ich glaube nicht«, antwortete Nyx mit heiserer Stimme. »Er hatte es nicht so mit Recherche.«
Erinnerungen drangen aus allen Ritzen, hell, warm, wärmer, als sie es für möglich gehalten hatte. Sie verschmierte blaue Farbe mit beiden Händen, während Leon begeistert grinste. Sie lag auf einer Picknickdecke und lachte, als Leon und James sich links und rechts neben ihr auf den Rücken fallen ließen. Sie döste mit dem Kopf an James’ Schulter, während sie im Bus zur Schule fuhren. Sie stand in der Wahren Nacht und sah zu, wie Leon Buckelwale aus Sternen über ihren Köpfen vorüberziehen ließ.
Leon war fort, und auch James hatte sie verloren.
Nyx weinte, still, ohne einen Laut von sich zu geben. Irgendwann drehte sie sich auf die Seite, in Birdies Richtung, und sie nahm sie in ihre Arme. Nyx kauerte sich in die Kuhle von Birdies Körper, als wollte sie darin verschwinden.