Erin

Erin hatte die Schuhe ausgezogen und sich auf dem einzigen Stuhl im Zimmer zusammengefaltet. Aus ihrem neuen Handy klang die leise Melodie von Sibelius’ Violinkonzert in D-Moll, während draußen vor dem Ordenshaus vermutlich der erste Morgenschimmer über den Himmel wanderte.

Der Stuhl war alles andere als bequem, doch das machte nichts. Sie kam ohnehin nicht zur Ruhe. Seit den Ereignissen in Wildridge Hall konnte Erin nicht mehr schlafen. Wenn sie sich hinlegte, wälzte sie sich ruhelos herum. Ab und zu dämmerte sie ein, nur um von verwirrenden Träumen in einem dämmrigen Halbschlaf heimgesucht zu werden. Sie hörte Wortwechsel zwischen ihr, James, Sami, Luke. Sie hörte Gras flüstern und ein Knirschen, wie von trockener Erde, die auseinanderbrach.

Am Tag war alles wie immer. Autos rollten die Straßen der Londoner Innenstadt entlang. Menschen eilten mit Kaffeebechern aus einem der zahllosen Prets und Costa Cafés. Erin navigierte die Gehwege und hatte das Gefühl, gegen den Strom zu schwimmen. Ihre Umgebung fühlte sich unecht an. Als wäre die Welt, die sie bisher gekannt hatte, nichts weiter als Kulisse.

Sie brauchte keine Therapeutin, um zu verstehen, was das alles bedeutete. Die letzten Tage hatten ihr Verständnis von dem, was wahr und real war, erschüttert. Die Reaktion an sich überraschte sie nicht. Nein, was sie umtrieb, war die Erkenntnis, dass sie sich nicht zum ersten Mal so fühlte.

Sie war acht oder neun gewesen, als sich das eigenartige Störgefühl das erste Mal bemerkbar machte. Solange sie denken

›Weiße‹ und ›schwarze‹ Ritter. Dieser Vergleich war ihr spätestens als Jugendliche sauer aufgestoßen.

Josephine jedoch wankte nie in ihren Überzeugungen. Alles, was sie Erin zeigte, ließ sich in diese eindeutige Struktur aus entweder/oder, richtig/falsch, gut/böse einsortieren. Trotzdem hatte Erin immer wieder Momente, in denen die Erklärungen ihrer Mutter in ihrem Kopf aneinanderrieben wie quadratische Bauklötze, die durch ein rundes Loch gezwängt werden sollten.

Wenn wir die Welt hinter der Welt sehen, haben wir die Wahl, hatte Josephine einmal gesagt. Wir stellen uns entweder auf die Seite des Lichts oder auf die Seite der Finsternis.

Das hatte Erin nicht verstanden. Wenn man als Botin geboren wurde, landete man dann nicht automatisch auf der einen oder der anderen Seite?

Das stimmt, hatte Josephine bestätigt. Deshalb ist es ein großes Glück, wenn Kinder taggeboren werden. Denn dann ist das Licht ihre Bestimmung.

Erin hatte sich so sehr gewünscht, dass das auf sie zutreffen würde. Aber egal, wie angestrengt sie in sich hineinhörte, da war kein besonderes Band, kein Funke, der ihr sagte: Ich bin der Tag und du gehörst zu mir.

Doch nicht nur das. Zu Erins Schrecken fand sie die Nacht nicht scheußlich. Ja, sie fürchtete sich vor der Dunkelheit, aber der Anblick von Sonnenuntergängen bereitete ihr einen

Der Verdacht, dass sie all das ansprach, weil sie eine Nachtbotin war, hatte sich wie Dornen unter ihre Haut gegraben. Sie hatte nie über diese Ängste gesprochen, also waren sie zu Albträumen herangewachsen.

Als sich herausstellte, dass sie überhaupt keine Botin war, hatten sich die Ketten ihrer Furcht zum ersten Mal gelöst. Doch danach …

… danach hatte sie sich genauso verwirrt gefühlt wie zuvor. Nur war noch ein Gefühl der Leere hinzugekommen, ein wachsender Zustand der Sprachlosigkeit. Wenn sie weder eine Tag- noch eine Nachtbotin war, was war sie dann? Wohin gehörte sie? Und wieso fühlte sich die Weltansicht, die ihre Mutter so klar, so selbstsicher darlegte, für sie so brüchig an?

Erin schlang einen Arm um ihr Knie und sah auf den Jungen, der auf dem Bett vor ihr lag. Das blonde Haar fiel ihm schräg in die Stirn. Es war ordentlich gekämmt, doch Erin dachte, dass es wild sein würde, wenn man es nicht zähmte. Seine Gesichtszüge waren fein, seine Haut kalt und blass wie Marmor.

Sie kannte seinen Namen, auch wenn er hier nirgends verzeichnet war. Leon Harling. Ein Chaosträger, der sich selbst zerstört hatte. Neun Jahre war es her, seit Erins Mutter ihn als Testperson in ihr Projekt aufgenommen hatte.

Früher, als Leon noch in der kleinen Privatklinik in Oxford untergebracht war, hatte Erin ihn hin und wieder besucht: Ein Prinz in einem Turm, den kein Kuss aufwecken würde. Damals konnte sie sich selbst nicht erklären, warum sie seine Nähe suchte. Doch irgendetwas an ihm zog sie in seinen Orbit. Und obwohl es Unsinn war, glaubte ein kleiner Teil von ihr, dass er die Antworten auf die Fragen besaß, die sie umtrieben.

Erin hatte nie nachgehakt, aber jetzt fragte sie sich, was genau damals passiert war. Hatte Diane Josephine ihren Ziehsohn übergeben? Im Tausch für all die kleinen und großen Gefallen? Oder hatte Josephine Leon verschwinden und Diane glauben lassen, seine Asche befände sich in einer Urne auf irgendeinem Friedhof?

Noch vor ein paar Tagen hätte sie die zweite Option nicht einmal in Erwägung gezogen. Aber jetzt?

Mittlerweile hatte sie die Forschungsberichte von Project Daylight gelesen. Darin war haarklein dokumentiert, wie Dr. Wilson und die anderen an Leon herumexperimentierten. Wie sie versuchten, Leon das Chaos aus den Adern zu waschen und ihn mit Tagenergie zu füllen. Wie sie wiederholt daran scheiterten, ihn zu einem Ordnungsträger umzuprogrammieren, und dennoch weitermachten.

Experimente an Menschen. Forschung, die darauf abzielte, die Barrieren zwischen der irdischen Sphäre und der Quelle der Ordnungs-Urkraft einzureißen. Und Erins Mutter hatte nicht nur die Zügel in der Hand, sie war die treibende Kraft hinter Project Daylight.

Das war ihre Mum. Dieselbe Person, die mit Erin nach Italien in den Urlaub fuhr. Die ihr Himbeereis kaufte, nachdem ihre Kindergartenfreundin wegzog. Die im Auto mitsang, wenn ihre Playlist Nina Simone spielte.

Wer zur Hölle sind wir?, fragte Erin stumm. Was tun wir hier?

Ihr Blick streifte zu Leon und zu den Münzen, die auf seinen geschlossenen Augen lagen. Selbst wenn er sie hören könnte, würde er ihr keine Antworten geben. Wahrscheinlich würde er sie genauso hasserfüllt anstarren wie sein Bruder, der nur ein paar Räume entfernt von ihnen lag.

James wusste nichts von Leon. Er hatte wirklich gar nichts

Erin biss so heftig auf ihre Unterlippe, dass sie Blut schmeckte. Es war keine gute Idee, immer wieder in dieses Labor zurückzukehren. Ihr Auftrag war abgeschlossen. Hier weiter aufzutauchen, half weder ihr noch James.

Aber war es das, was sie wollte? Ihm helfen?

Erin schloss die Augen. Noch hatten sie ihn nicht ins Koma versetzt wie die anderen Nachtboten. Die Erleichterung, die sie verspürte, wenn sie das Labor betrat und noch keine Drähte in James’ Armen steckten, erschütterte sie, und ihre Unruhe wuchs mit jedem Tag.

Sie hatte versucht, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Oder zumindest dafür zu sorgen, dass seine Mutter mehr in ihm sah als nur einen weiteren Nachtboten.

Er hat mir das Leben gerettet.

Ihre Mutter hatte von ihrem Tablet aufgesehen. Darling. Ich bin so froh, dass er das getan hat. Und es tut mir leid, dass es nötig war. Aber jetzt helfen wir ihm, nicht wahr?

Für Josephine stand außer Frage, dass sie James einen Gefallen taten, wenn sie ihm seine Nachtenergie entzogen.

Darüber, dass sie ihm eine Prozedur aufzwang, die seinen Körper und Geist ausbrennen konnte, sprach sie nicht. Erin wusste – sie wusste –, dass sie ihre Mutter konfrontieren musste. Sie konnte nicht einfach hinnehmen, was hier passierte, nicht dieses Mal. Nicht mehr. Und doch bereitete ihr allein die Vorstellung eines Streits mit Josephine Übelkeit.

Mum, was wir hier tun, ist nicht richtig.

Es war erbärmlich, aber sie fürchtete sich davor, diese Worte auszusprechen. Sie wusste: In dem Moment, wo sie ihre Zweifel laut aussprach, würde die Maske, die sie so lange getragen hatte, fallen. Alle Unsicherheiten, alle Fragen und Gefühle, die sie nicht haben sollte, würden aus ihr herausbrechen.

Er hat einen Nachtfalter aus dem Nichts heraufbeschworen, dachte sie. Für mich. Zehn Jahre lang hatte Erin diese Begegnung für sich behalten.

Was würde Josephine tun? Wie würde sie Erin ansehen, wenn sie hinter ihre Fassade blickte? Und wie würde Erin mit sich selbst leben können, wenn sie sich eingestand, dass sie ihr Leben lang bei einem Spiel mitgespielt hatte, das bis in seinen Kern verdorben war?

Erin stieß die Luft aus, nahm ihr Handy und rief Samis Nummer auf. Er hatte sie ihr aufgeschrieben, bevor sie auseinandergegangen waren.

Wenn du Hilfe brauchst oder einfach nur reden willst, melde dich.

Ihr Daumen verharrte über dem Anrufsymbol.

Ruf ihn an, drängte eine Stimme in ihr. Sag ihm, was mit James passiert ist. Wenn du es schon nicht hinkriegst, ihm zu helfen, dann können Sami und Nyx ihn vielleicht retten.

Aber wenn sie Nyx warnte und sie dadurch Bhaskar entkam? Egal, was Erin von den Methoden des Ordens hielt, wenn Nyx frei blieb, würden noch viel mehr Menschen sterben.

Erin starrte auf Samis Namen, bis der gellende Schrei einer Sirene sie aus ihrer Gedankenspirale riss. Sie reckte den Kopf, aber natürlich konnte sie nicht sehen, was den Alarm draußen ausgelöst hatte. Was sie sah, war die Nachtenergie an den Drähten, die in Leons Armen steckten. Sonst blieb sie beinahe farblos, ein dünner, grauer Rauch, der sich an goldenen Fäden hinaufschleppte. Nun jedoch flackerten stecknadelkopfkleine Lichter im Rauch auf. Und nicht nur das: Die Energie pulsierte. Sie schwoll an und flachte ab, als würde sie sich dem Rhythmus eines atmenden Körpers anpassen. Erins Herz schlug schneller.

Nervös setzte sie die Füße auf den Boden, dann öffnete sich die Zimmertür, und James kam herein.