James’ Blick streifte Erin, dann wandte er sich dem Bett zu, und die Zeit blieb stehen. Draußen heulten Sirenen, und weiter hinten im Labor gingen die Lichter an.
James jedoch starrte auf Leon. Langsam, wie in Zeitlupe, entglitten ihm die Gesichtszüge. Erin öffnete den Mund, wollte etwas sagen, musste etwas sagen, aber da stürmten bereits zwei Sicherheitsleute von hinten auf James zu. Einer von ihnen zückte etwas, das wie eine Waffe aussah, und Erin sprang entsetzt auf. James schaffte es noch, sich halb umzudrehen, da schoss ihm der Sicherheitsmann mit einem Taser in den Rücken. Er stöhnte, zuckte und krachte zu Boden.
Erin lief auf ihn zu, doch der Sicherheitsmann beugte sich bereits über James und streckte ihr abwehrend die Hand entgegen.
»Zurückbleiben, Miss«, befahl er, und Erin, die daran gewohnt war, auf Spur zu bleiben, gehorchte.
Eine Frau mit blondem Pferdeschwanz eilte zu ihrem Kollegen. »Ist er außer Gefecht?«, fragte sie.
Der Mann nickte.
Die Frau tippte an ein Funkgerät, das an ihrer Schulter befestigt war. »Wir haben ihn.« Dann, zu ihrem Kollegen: »Wir bringen ihn zurück.«
Mit weit aufgerissenen Augen sah Erin zu, wie sie James hochhievten und ihn aus dem Zimmer schleiften. Genauso hatten sie ihn in Wildridge Hall gepackt.
Mit einem Mal konnte sie sich nicht mehr zurückhalten.
»Fuck!«, zischte sie und lief dem Sicherheitsteam hinterher. Als hätte sie nur auf diese Sekunde gewartet, brüllte ihre innere Stimme: Zu spät, zu spät, du bist verdammt nochmal zu spät!
Die Deckenbeleuchtung flammte auf, als Erin durch den Arbeitsraum vor Leons Zimmer rannte. Sie stieß mit ihrem Schenkel gegen einen Labortisch und stürzte. Die Sirenen schlugen immer noch Alarm, und ihr Heulen bohrte sich in Erins Ohren. Kurz schien es, als würde die Umgebung um sie herum zersplittern, dann sah sie wieder klar.
Sie stolperte durch die nächste Tür in den Hauptbereich des Labors und sah, dass die Sicherheitsleute James zurück zu seiner leeren Liege trugen. Dr. Wilson war bereits dort und bediente hastig ein Touchpad in der Nähe der gefälschten babylonischen Säule.
Erin wurde eiskalt. Sie lief auf James zu und wurde dabei beinahe von einem Laborassistenten umgerannt. Verwirrt registrierte sie die Hektik im Raum. Drei weitere Sicherheitsleute in schwarzer Kluft nahmen James in Empfang, während sich Dr. Wilson und ein weiterer Wissenschaftler an den Geräten rund um die Liegen zu schaffen machten. Wo kamen alle diese Leute plötzlich her? Und wieso stellte niemand die verdammten Sirenen ab?
James ächzte. Er schien seine Benommenheit abzuschütteln, trat mit den Beinen um sich, und im selben Moment bebte der Raum, so dass sämtliche Gerätschaften klirrten.
»Wir müssen ihn anschließen, sofort«, rief Dr. Wilson. »Stellen Sie ihn ruhig!«
Die Sicherheitskräfte hoben James auf die Liege, und der Laborassistent riss die Verpackung einer Spritze auf. Erin packte sein Handgelenk. »Nicht!«
Er starrte sie irritiert an, und sein Gesicht verzerrte sich – vor was? Vor Ärger? Vor Angst? Grob stieß er Erin beiseite und hastete hinein in den Tumult rund um James. Erin wollte ihm nach, wurde jedoch von der Sicherheitsfrau mit dem Pferdeschwanz zurückgehalten.
Erin wehrte sich gegen ihren Griff, aber die Frau zerrte sie weg von der Liege. »Raus«, blaffte sie. »Hier ist es nicht sicher!«
Verständnislos starrte Erin sie an. Ihr Herz schlug so wild, dass ihre Rippen schmerzten. »Was?«
»Wo bleibt die verdammte Infusion?«, schrie Dr. Wilson. Ein Schauer ging durch die goldenen Kabel, die über James’ Liege hingen, und die Keilschrift auf der Säule begann zu leuchten.
James kämpfte voller Zorn und Verzweiflung. Erin versuchte, zu ihm zu gelangen, doch die Sicherheitsfrau packte nur noch fester zu.
»Ich sagte: Raus!«
Irgendwo links von ihnen schrie jemand, doch noch während Erin zu dem Klang herumfuhr, schleifte die Sicherheitsfrau sie zu einem der Notausgänge. Über ihrer Schulter sah Erin, wie sie James auf der Liege fixierten. Der Laborassistent versuchte, für eine Injektion an ihn heranzukommen, aber James wand sich und bäumte sich auf.
Das konnte nicht stimmen, das konnte nicht die richtige Vorgehensweise sein, dachte Erin. Eine Kakophonie an Geräuschen, Panik und Verwirrung wirbelte durch ihren Kopf, doch in der nächsten Sekunde war ihr klar:
Nichts, was hier passierte, war richtig.
Etwas knackte und knirschte, dann drang eine Stimme aus dem Funkgerät der Sicherheitsfrau. »Fuck, ist er eingedämmt, Deirdre?«
»Sind dabei«, antwortete die Sicherheitsfrau knapp, dann riss sie die Notausgangstür auf.
»Was ist hier los?«, sprudelte es aus Erin heraus. »Was ist passiert, warum …?«
»Zum Ausgang«, unterbrach die Sicherheitsfrau. »So schnell Sie können.«
Ohne ein weiteres Wort stieß sie Erin aus dem Labor. Die Sicherheitstür fiel hinter ihr ins Schloss, während sie noch über ihre eigenen Füße stolperte. Rotes Warnlicht flackerte über die Stufen vor ihr.
»Verdammt«, krächzte Erin und zerrte ihr Handy aus der Tasche. Sie wählte Samis Nummer und hörte den Freiton, als hinter ihr ein Donnerschlag explodierte, den sie bis in die Zähne spürte.
»Hallo?«, fragte Samis Stimme an ihrem Ohr.
Erin hielt den Atem an, dann erloschen alle Lichter im Treppenhaus.