Sami traf sie am Ausgang der Holborn Station in Camden. Nyx lief auf ihn zu, und sie fielen einander wortlos in die Arme.
»Verdammte Scheiße, Nyx«, murmelte er.
»Allerdings«, gab sie zurück.
Sie ließen einander los, und Sami nickte Birdie knapp zu.
Seit die Kerze auf Birdies Tisch explodiert war, fühlte sich Nyx, als ob sie auf einem Karussell saß, das urplötzlich die Richtung geändert hatte. Zuerst der Sturm und die panischen Vögel, die als böse Omen nicht hätten deutlicher sein können. Dann der Anruf von Sami, der so lange bei Birdie Sturm geklingelt hatte, bis sie abnahm.
Bitte sag mir, dass du weißt, wo Nyx ist. Kein Hallo, keine Erklärung, nur Samis panikerfüllte Stimme. Der Erste Tag hat James verschleppt.
Drei Stunden und eine halsbrecherische Autofahrt später waren Birdie und Nyx zurück in London. Der Sturm war ihnen vorausgeeilt und dräute als schiefergraue Wolkenmasse über der Stadt. Von den Vogelschwärmen fehlte allerdings jede Spur.
»Warst du schon beim Ordenshaus?«, fragte Nyx.
Sami schüttelte den Kopf. »Ich habe auf euch gewartet, wie du’s wolltest.«
Nyx musterte ihn besorgt. Irgendetwas an ihrer Miene musste ihm verraten, was sie als Nächstes fragen wollte.
»Wenn du mir vorschlagen willst, nicht mitzukommen, spar es dir«, sagte er.
Nyx presste die Lippen aufeinander, aber sie nickte. Sie hatte nichts anderes erwartet. »Gehen wir.«
Sami ging voraus, das Handy in der Hand. Laut Navigationsapp war die Adresse, die Erin ihm genannt hatte, nur dreihundert Meter weit entfernt.
Die Adresse des Ordenshauses. Der Orden des Ersten Tages hatte einen Sitz in London. Diese Neuigkeiten verdaute Nyx immer noch. Bisher waren sie alle davon ausgegangen, dass der Erste Tag von Oxford aus operierte. Was hatten sie sonst noch übersehen?
»Hat Erin noch irgendetwas anderes gesagt?«, fragte Nyx.
»Nein, nichts«, antwortete Sami. »Sie sagte nur, dass der Orden James hier festhält und dass er in Gefahr ist. Ich glaube, sie wollte weiterreden, aber unser Anruf wurde unterbrochen. Auf ihrer Seite war die Hölle los. Da plärrte irgendein Alarm, und sie … sie klang panisch.«
»Hast du …«
»… versucht, sie zurückzurufen? Ja. Mehrmals. Sie geht nicht ran.«
Seine Stimme klang gepresst vor Sorge. Nyx wusste, wie er sich fühlte. Fragen über Fragen drängten sich in ihren Kopf. Was war passiert? Wann hatte der Orden James und Erin erwischt? Und was war mit Diane? Auf der Fahrt nach London hatte Nyx verzweifelt versucht, sie zu erreichen. Sie ging nicht ans Handy, und auch auf dem Festanschluss in Wildridge Hall meldete sich niemand.
Böse Vorahnungen rumorten in Nyx’ Magengrube. Immer wieder huschte ihr Blick nach oben. Über London erschien die düstere Wolkendecke wie die normale Vorhut von schlechtem Wetter. Nyx wurde jedoch das Gefühl nicht los, dass sich die Qualität der Luft verändert hatte. Als wäre sie aufgeladen, angespannt.
Hinter einem Supermarkt bogen sie rechts ab. Nyx wurde beinahe von einem Mann umgerannt, der gedankenverloren in die entgegengesetzte Richtung eilte.
»Was machen wir, wenn wir dort sind?«, fragte Birdie.
»Wir befreien James«, antwortete Sami ohne Umschweife.
»Schon klar, aber wie stellen wir das an?«
»Wir improvisieren«, antwortete Nyx. Was ein lausiger Plan war, das wusste sie sehr genau. Jetzt zu zögern, kam jedoch nicht in Frage.
Das hier war die Katastrophe, vor der sich Nyx und James jahrelang gefürchtet hatten. Nyx hatte endlose Albträume über diverse Entführungsszenarien gehabt: gesichtslose Häscher, die ihr schwarze Hauben über den Kopf stülpten, die durch die Tür ihrer Londoner WG krachten, die James mitnahmen und Nyx ohne Anhaltspunkt zurückließen, wo sie nach ihm suchen sollte.
Jetzt, wo dieser Fall tatsächlich eingetroffen war, pumpte Adrenalin durch Nyx’ Adern. Die Angst saß wie ein öliger Geschmack in ihrem Mund, aber trotzdem fühlte sie sich wacher und entschlossener als seit Tagen. Hier ging es nicht mehr um sie. Es ging um James.
Im Gegensatz zu ihr schien Birdie jedoch zum ersten Mal die Fassung zu verlieren.
»Alles okay bei dir?«, fragte Nyx, während sie an einem Restaurant vorbeigingen. »Wenn du lieber–«
»Nein«, unterbrach Birdie. »Ich komme mit.« Ihr Blick huschte zum Himmel. »Aber ich verstehe nicht, was hier los ist. Die Zeichen, die wir gesehen haben, waren Untergangszeichen. Ich bin mir fast sicher. Aber wenn du die Chaosträgerin bist, dann hätten sie sich um dich herum ballen müssen.«
Dieser Widerspruch hatte sie schon während der Fahrt gequält. Natürlich hatten sie auch über die naheliegendste Lösung des Rätsels gesprochen, aber bis jetzt hatte keine von ihnen sie akzeptieren wollen: Wenn Nyx nicht der Nukleus der Chaosomen war, dann war sie nicht die Trägerin.
»Was habe ich übersehen?«, fragte Birdie. »Ich kann doch nicht so falsch gelegen haben.«
Nyx blieb stehen. »Birdie.«
Birdie sah sich nach ihr um, doch Nyx starrte hinunter auf den toten Spatz vor ihren Füßen. Der kleine Kopf stand in unnatürlichem Winkel ab, der Hals war gebrochen.
Nyx krallte die Hände in den Saum ihres Hemdes, dann hob sie den Kopf. Vor ihr befand sich die Straße, die sie in der Vision in Inglebys Büro gesehen hatte.
Da waren die Platanen am Straßenrand, dort die Bäckerei mit blauer Fassade. Nyx erkannte die Bürohäuser mit den auf antik getrimmten Fassaden und das Haus mit den grünen Fliesen, vor dem sich die Straße teilte. Alles genau wie in ihrer Vision.
Noch klafften keine Risse im Himmel. Noch pflasterten keine Hundertscharen an Vogelleichen den Boden. Noch.
Birdie starrte auf den toten Spatz, und Nyx wusste, dass sie ihn als Unheilsboten erkannte. Sami jedoch ließ mit einem Stirnrunzeln seinen Blick über ihre Umgebung schweifen.
»Okay, das ist gruselig«, sagte er. »Wo sind alle?«
Nyx sah sich um, und jetzt bemerkte sie es auch. Sie befanden sich mitten in einem der geschäftigsten Bezirke der Stadt. Der Morgen war bereits vorangeschritten, die Gehwege sollten wimmeln vor Passantinnen und Passanten. Stattdessen war ihre Umgebung menschenleer, und auch in den Cafés und Restaurants schien sich niemand aufzuhalten.
Nyx schauderte.
»Twilight Zone«, murmelte Sami.
»›Vögel strömen der Auflösung zu, sie haben keine Wahl‹«, sagte Birdie in mattem Ton, als würde sie etwas zitieren. »›Menschen vermeiden ihre Nähe, solange sie können.‹«
Nyx sah noch einmal nach oben, wo die Wolkendecke noch tiefer zu hängen schien als zuvor. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Gebäude auf der anderen Seite der Straße. Es war sechs Stockwerke hoch, besaß moderne Fenster, die zwischen kantigen Säulen und Friesen aus Sandstein steckten.
»Das ist es, oder?«, fragte sie.
Sami warf einen Blick auf sein Handy. »Ja.«
Nyx’ Pulsschlag beschleunigte sich, dann trat sie hinaus auf die leere Straße.
Als sie nur noch ein paar Meter vom Ordenshaus trennten, fegte eine Windbö über die Straße. Sie brandete über Nyx hinweg, änderte abrupt die Richtung, schwappte gegen ihre Hüfte und fiel in sich zusammen.
Nyx setzte einen Fuß auf den Gehsteig. Der Boden fühlte sich dünn an, als wäre die Welt unter ihr plötzlich hohl. Kurz war sie davon überzeugt, dass sie durch die Kruste aus Asphalt brechen würde, aber am Ende trug sie ihr Gewicht.
Vor der Glastür am Eingang blieben sie stehen. Das tote Laub, das sich am Sockel des Gebäudes staute, raschelte, obwohl sich in dieser Sekunde kein Lüftchen regte.
»Hat sonst noch jemand Gänsehaut?«, fragte Sami.
Nyx sah zu Birdie, die blass wie ein Laken geworden war. »Siehst du hier irgendwelche Zeichen?«, fragte sie. »Hattest du recht mit deinem Verdacht?«
»Ja«, sagte Birdie.
Nyx schloss die Augen. Sie sollte erleichtert sein. Stattdessen spürte sie nur einen dumpfen Hall in ihrer Magengrube, als hätte irgendwo eine Glocke geläutet.
»Ja was?«, fragte Sami.
»Wir dachten, dass Nyx die Chaosträgerin ist«, sagte Birdie. »Aber das, was hier passiert, unsere Gänsehaut, der tote Vogel, dieses Gefühl, als würde die Luft stehen und sich ein riesiges Unwetter anbahnen – das alles deutet darauf hin, dass sich hier das Epizentrum einer Chaoswelle befindet. Wer auch immer die Welle ausgelöst hat, befindet sich in diesem Gebäude.«
»Wer auch immer?«, wiederholte Sami.
Nyx sah ihn an. Seine Augen weiteten sich, dann verhärtete sich seine Miene.
»James.«
Nyx schloss die Hand um den Griff der Eingangstür. Es musste nicht stimmen. Jemand anderes konnte der Chaosträger sein. Aber sobald Birdie den Verdacht geäußert hatte, dass Nyx doch nicht die Trägerin war, dass die Zeichen wieder nach London zeigten, da hatte ihre Furcht sofort James’ Namen hochgespült. Sie spürte die bittere Ironie bis in ihre Knochen. Noch vor ein paar Stunden hätte sie alles dafür gegeben, um dem Schicksal als Trägerin zu entkommen. Jetzt wünschte sie sich, sie wäre es doch.
»Nyx?«, fragte Birdie.
Wortlos zog Nyx die Tür auf und betrat das Haus des Ersten Tages.
Im Foyer herrschte Totenstille, und auch hier ließ sich niemand blicken. An der Wand über der Rezeption hing ein monumentales Marmorrelief, das einen Wagen zeigte, der von vier Pferden gezogen wurde. Eine strahlenbekränzte Gestalt hielt die Zügel. Der Sonnengott Helios, wenn Nyx nicht alles täuschte.
»Oh«, murmelte Sami, als er neben Nyx trat. Nyx verstand, was ihn beunruhigte. Am hinteren Ende des Foyers wartete Dunkelheit. Sie quoll aus den Ritzen der geschlossenen Fahrstuhltür und breitete sich wie Rauch über dem Boden aus.
»Platzt unsere Wirklichkeit auf?«, fragte Birdie besorgt. »Ist das Nacht?«
»Nein«, antwortete Nyx. »Das ist James’ Schutzmantel.«
Mit festem Schritt ging sie darauf zu. Es war Jahre her, dass sie sich auf dieser Seite von James’ Dunkelheit befunden hatte. Sie wusste jedoch noch, wie es sich anfühlte, und als sie nun näher kam, spürte sie die Barriere aus Emotionen, die jeden stoppen sollte, den James nicht in seinen Radius einlassen wollte.
Als Erstes fiel ihr auf, dass die Beschaffenheit der Gefühlsbarriere sich geändert hatte. Früher hatte sie lediglich abgelenkt: Menschen, die James nicht in seiner Dunkelheit haben wollte, fiel plötzlich etwas Wichtiges ein, das sie woanders zu erledigen hatten. Oder sie freuten sich unbändig darauf, sich irgendwo einen Kaffee oder ein Stück Kuchen zu holen. In jedem Fall war man einfach nur zufrieden mit sich, wenn man sich abwandte und vergaß, dass es die Dunkelheit gab.
Nun war das anders. James’ Dunkelheit war nicht nur weithin sichtbar, ihre bloße Nähe versetzte Nyx in Alarmbereitschaft.
Zuerst fühlte sie Angst. Ein Zittern glitt über ihre Haut, und die Knie wurden weich. Als Nächstes wurde ihr übel, und sie überkam das dringende Bedürfnis, auf dem Fuß kehrtzumachen. Dann kam der Kummer, der sich wie eine Hand um ihr Herz legte und zudrückte.
»James«, flüsterte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Die Dunkelheit erfand nichts. Sie gab nur weiter, was ihr Urheber in sich trug.
Nyx hatte es bis kurz vor die Tür geschafft, die ein Schild als Eingang zum Treppenhaus kennzeichnete. Dunkelheit kräuselte sich wie Rauch um ihre Fußgelenke. Sie sah sich nach Birdie und Sami um, die ein paar Schritte zurückgeblieben waren. Beide waren sichtlich erschüttert.
»Ich glaube nicht, dass wir weitergehen sollten«, sagte Birdie mit zittriger Stimme, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Samis Brust bebte mit schnellen Atemzügen, aber er drückte den Rücken durch und trat an Nyx’ Seite.
»James würde uns niemals weh tun«, sagte er, dann ging er voraus in die Dunkelheit.