Nyx

Langsam tasteten sie sich durch das verdunkelte Gebäude. Nyx übernahm die Führung und lotste die anderen die Treppe hinauf. Sie sprachen nicht, halfen sich jedoch gegenseitig, wenn einer von ihnen strauchelte. Auf einem Treppenabsatz sank Sami plötzlich in sich zusammen, verschränkte die Hände im Nacken und weinte unkontrollierbar. Nyx und Birdie ließen sich zu beiden Seiten von ihm nieder und hielten ihn im Arm, bis er sich beruhigte. Birdie klammerte sich an Nyx’ Ärmel, während Nyx eine abgrundtiefe Trauer verspürte. In Gedanken stand sie vor einem Spiegel und trug das schwarze Samtkleid, das Diane ihr für Leons Beerdigung ausgesucht hatte. Sie hasste dieses Kleid. Sie spürte wieder das Kratzen des Kragens an ihrem Hals, wollte schreien, wegrennen, zwang sich jedoch, die Treppe weiter nach oben zu steigen.

Als sie das zweite Stockwerk erreichten, schienen sie den äußeren Ring der Dunkelheit passiert zu haben, und die abschreckenden Gefühle verblassten. Nyx hörte, wie Sami erleichtert ausatmete.

»Wenn du willst, kannst du die Taschenlampe an deinem Handy einschalten«, sagte Nyx. »Ab jetzt sollte sie auch hier drin funktionieren.«

»Immerhin etwas«, murmelte Sami. Kurz darauf flammte eine kleine Lampe in seiner Hand auf und beleuchtete das Treppenhaus. Sie hatten es beinahe in den ersten Stock geschafft.

»Wohin?«, fragte Sami.

Nyx drehte sich zu Birdie um. »Kannst du James spüren?«

Besorgt trat Nyx näher an sie heran. »Was ist los?«

Birdies Hand schloss sich fester um das Geländer. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte sie.

»Dämpft die Dunkelheit deine Antennen?«

Birdie stieß ein trockenes Lachen aus. »Nein. Nein, das ist es nicht. Ich spüre zu viel

Sie hob den Kopf, und im kalten Licht von Samis Handy wirkte ihr Gesicht fahl und verkniffen. »Dieses Haus ist voll von Energie, Nyx. Es ist aufgebläht wie eine Zecke.«

»Chaoskraft?«

»Mmh, nein, es ist mehr wie … es ist hell. Zu hell. Es fühlt sich an, als würde ich direkt unter einem Scheinwerfer stehen.«

Nyx schluckte. Wie viele Tagboten mussten sich in diesem Gebäude aufhalten, dass sie eine solche Wirkung auf Birdie hatten? Und wie zur Hölle sollten sie zu dritt gegen eine solche Überzahl ankommen?

»Kannst du weitergehen?«, fragte Nyx.

Birdie biss sichtlich die Zähne zusammen, aber sie nickte.

»Wenn Birdie James nicht aufspüren kann …«, setzte Sami an.

»Dann durchsuchen wir jedes Stockwerk«, vervollständigte Nyx und nickte zu der Tür, die auf dem Treppenabsatz über ihnen wartete.

Sie betraten einen Raum, der vermutlich als Lounge oder Cafeteria genutzt wurde. Das Licht von Samis Handy glitt über Sitzecken mit Sofas und niedrigen Tischen, über Topfpflanzen und große Glühbirnen, die von der Decke baumelten.

Nyx war in Habachtstellung, aber außer ihnen schien sich niemand hier drin aufzuhalten. Vorsichtig gingen sie weiter, bis

»Kannst du dich abschirmen?«, fragte sie.

»Hab ich schon«, sagte Birdie. »Was auch immer hier in der Luft hängt, dringt trotzdem durch. Fuck. Auf das hier war ich nicht vorbereitet.«

»Mach dich nicht verrückt«, sagte Nyx. »Was hier passiert, erwischt uns alle kalt.«

Bevor Birdie etwas erwidern konnte, rief Sami nach Nyx. Die hielt Birdie fester, aber sie wedelte sie mit der Hand weg. »Geh.«

Widerwillig ließ Nyx sie los und lief dorthin, wo Sami stand. Noch bevor sie fragen konnte, was los war, schaltete Sami das Licht an seinem Handy aus. Was sie dann sah, jagte ihr eine frische Welle an Gänsehaut die Arme hinauf.

Mehrere Meter vor ihnen hing ein violettes Licht in der Dunkelheit. Nyx konnte die Quelle nicht erkennen, aber die langgezogene, halb zerfaserte Form des Leuchtens ließ sie ahnen, was dort auf sie wartete.

Birdie schloss zu ihnen auf. »Was ist das?«, fragte sie.

Anstatt zu antworten, trat Nyx nach vorn. »Bleibt hinter mir«, warnte sie und ging auf das Licht zu.

Je näher sie kamen, umso mehr verschwand alles andere aus Nyx’ Bewusstsein. Sie trat auf die Scherben einer zerbrochenen Tasse, ging weiter, immer weiter, bis ihre Füße anhielten und keinen Schritt mehr gehen wollten.

»Heilige Scheiße«, flüsterte Sami.

Zwischen Esstischen und umgestürzten Stühlen schwebte ein halb aufgelöster Mensch. Der Mann – oder das, was von ihm übrig war – hing gute zwei Meter über dem Boden in der Luft. Seine Zehen zeigten nach unten, die Arme hielt er vom Körper abgespreizt. Sein Kopf war verschwunden, aufgelöst in einer Wolke aus träge wirbelndem, blaurotem Nebel. Winzige

Mehrere Sekunden lang sagte niemand ein Wort. Dann beugte Birdie sich zur Seite und übergab sich geräuschvoll. Nyx war als Erste an ihrer Seite, dann trat auch Sami zu ihr, und gemeinsam halfen sie Birdie, sich wieder aufzurichten. Nyx fing Samis Blick auf, aber der schüttelte nur den Kopf.

»Erklär’s mir nicht«, bat er. »Nicht jetzt.«

Nyx konnte den Wunsch nachvollziehen.

»Weiter«, sagte sie. »Aber passt auf, dass ihr ihm nicht zu nahe kommt.«

In weitem Bogen führte sie Birdie und Sami um den schwebenden Toten herum. Sie wollte nicht wissen, was passierte, falls einer von ihnen mit den winzigen Sternen in Berührung kam, die wie Sporen aus den Bruchlinien seines Körpers trieben. Der beißende Geruch von Ozon lag in der Luft, und Nyx musste sich zusammenreißen, um den Inhalt ihres Magens nicht ebenfalls hochzuwürgen.

Als sie weitergingen, schaltete Sami die Lampe seines Handys wieder an. Kurz darauf ließ er das Telefon beinahe fallen.

Nyx’ Blick glitt über den Boden hinter den Tischen. Scheint so, als müssten wir uns wegen einer Überzahl an Ordensmitgliedern doch keine Sorgen machen, dachte sie und schluckte die Galle hinunter, die ihren Hals hinaufdrängte.

Im hinteren Bereich der Cafeteria lagen mindestens sechs Menschen. Sie alle waren zu Boden gestürzt und lagen mit verrenkten Gliedern und geöffneten Mündern auf dem Linoleum. Wenn sie das Licht von Samis Lampe streifte, leuchteten

Sie beugte sich nicht hinunter.

Birdie klammerte sich an ihren Arm, bis sie es nicht mehr aushielt und sich neben eine der Leichen kauern wollte.

»Nicht«, warnte Nyx und zog sie mit sich. »Wir können nichts mehr für sie tun.«

Birdie schauderte. »Was ist mit ihnen passiert? Warum hängen sie nicht in der Luft, wie …«

»Ihre Körper haben aufgegeben, bevor sie das zweite Stadium des Chaosverfalls erreicht haben«, sagte Nyx. War das eine Gnade? Nicht mehr mitzubekommen, wie der eigene Körper auseinanderfiel, wie die eigenen Augen …

»Da!«, rief Sami und lief los.

»Shit«, fluchte Nyx. Birdie grub die Finger in ihren Arm, dann rannten sie ihm hinterher.

Es schien, als hätten sie endlich das Ende der Cafeteria erreicht. Dort, am Fuß der Wand, kauerte eine kleine Gestalt. Sie war am Leben, hatte die Stirn fest auf die Knie gedrückt und hielt ihre Beine umklammert. Nyx wusste zuerst nicht, wen sie vor sich hatte, aber Sami hatte sie bereits erkannt.

»Erin«, redete er ihr gut zu. »Hey, Erin, ich bin es, Sami.«

Erin zuckte zusammen und hob vorsichtig den Kopf. Als sie ihn erkannte, löste sie ihre Arme. Dann bemerkte sie Nyx und fuhr zurück, als ob Nyx eine Waffe auf sie richtete.

»Fass mich nicht an!«, keuchte sie.

Verstört wechselte Sami einen Blick mit Nyx, dann wandte er sich wieder an Erin. »Erin«, wiederholte er. »Beruhig dich, okay? Niemand will dir weh tun.«

Sami griff nach ihr, aber sie schlug seine Hand beiseite.

»Du warst das!«, fauchte sie Nyx an. »Du hast sie umgebracht!«

»Nein, hat sie nicht«, sagte Birdie. »Nyx ist nicht die Trägerin. Wir haben uns geirrt. Es ist jemand hier im Haus.«

»Was?«, fragte Erin verständnislos.

Nyx trat vor. »Wo ist James?«

Erin starrte sie an, schien ihre Frage jedoch nicht verstanden zu haben. »Sie sind einfach auseinandergebrochen. Sie–«

»Erin«, unterbrach Nyx und ging vor ihr in die Hocke. Erin wollte wieder Reißaus nehmen, aber Nyx hielt ihren Blick fest. »Wo ist James?«