Nyx

Laut Erin befand sich James im vierten Stock. Zumindest war er dort gewesen, als Erin ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen.

Nyx war so kurz davor, Erin zu packen und mehr Informationen aus ihr herauszuschütteln. Ihr war jedoch klar, dass das nichts bringen würde. Erin stand unter Schock. Außerdem beobachtete sie Nyx mit angstgeweiteten Augen, egal, wie oft Birdie ihr versicherte, dass von Nyx keine Gefahr ausging.

Das zumindest konnte Nyx ihr nicht verübeln.

Sie schafften es bis in den vierten Stock, bevor Erin schließlich zusammenbrach. Eben hatten sie eine Art Chemielabor betreten, als Erin auf die Knie fiel und anfing, zu klagen.

»Ich kann nicht«, flüsterte sie. »Ich kann nicht dorthin zurück. Es tut weh, da ist so viel Schmerz. Es ist zu laut.«

Mit einem Wimmern beugte sie sich vornüber. Sami kauerte sich neben sie und strich mit der Hand über ihren Rücken. Er redete beruhigend auf sie ein, aber Nyx ahnte, dass Erin vorerst nicht weitergehen würde.

Sie sah sich um. James musste seine Dunkelheit zum eigenen Schutz heraufbeschworen haben. Und wenn Erin zu dem Zeitpunkt in der Nähe gewesen war, hatte sie die volle Breitseite der Schmerzschwelle abbekommen. Sinnlos, ihr zu erklären, dass ihr die Emotionen, die den Rand von James’ Dunkelheit verdichteten, körperlich nichts anhaben konnten.

Zumindest war Nyx immer davon ausgegangen, dass es so war.

Scheinbar hatte sich auch hier mehr als nur Dunkelheit ausgebreitet.

Furcht ließ Nyx’ Herzschlag stolpern. Wie würde sie James vorfinden? Wusste er noch, wer er war, oder hatte ihn die Kraft des Chaos bereits völlig unter sich begraben?

Sie tastete nach der Tischkante neben sich. Atmen, sagte sie sich. Atme, verdammt.

Birdie berührte sie sacht am Rücken, und Nyx senkte dankbar den Kopf.

»Wenn er noch weiß, wer er ist, kannst du ihm dann helfen?«, fragte sie. Ihre eigene Stimme war ihr fremd. Sie klang viel zu jung.

»Ich werde alles versuchen«, versprach Birdie.

Nyx nickte und sagte sich, dass sie sich an diese Hoffnung klammern würde. Bis zum allerletzten Augenblick. Sie wollte zu Erin zurück, als Birdie sagte: »Es tut mir so leid.«

»Was meinst du?«, fragte Nyx.

»Es war mein Fehler«, sagte Birdie zerknirscht. »Ich hätte bemerken müssen, dass du nicht die Trägerin bist. Ingleby hat von einem Jungen gesprochen, und ich habe das zu schnell abgetan. Aber …« Sie sah zur Seite, bevor sie mit erstickter Stimme fortfuhr. »Ich war mir so sicher, dass du meine Hilfe brauchst.«

Wäre Nyx jemand anderes gewesen, hätte sie Birdie behutsam am Kinn gefasst und sie zu sich zurückgedreht. So streifte sie jedoch nur mit den Knöcheln über Birdies tätowierte Fingerrücken.

»Das habe ich«, sagte sie. »Das tue ich noch immer.«

Nyx schluckte, dann schob sie ihre Hand unter Birdies und verhakte ihre Finger ineinander. Sie dachte an die Nacht, als sie zusammen in Birdies Bett gelegen hatten, mit Seewind auf der Haut und dem rauen Rauschen des Meeres. In jenem Moment hatte sich Nyx nicht vor dem Geräusch gefürchtet.

Birdie hob Nyx’ Hand, küsste erst das Schutzarmband, dann ihren Handrücken. Nyx schloss kurz die Augen, dann ließen sie einander los und gingen zurück zu den anderen.

Erneut ging Nyx vor Erin in die Hocke, nur griff sie dieses Mal auch nach ihrem Arm. Erin wehrte sich, wollte sich aus ihrem Griff winden, aber Nyx hielt sie fest, bis sie ihrem Blick begegnete.

»Wo hast du James das letzte Mal gesehen?«

Kurz starrte Erin sie an wie ein Kaninchen die Schlange, dann nickte sie zu einer Tür auf der rechten Seite des Labors.

»Danke«, sagte Nyx und stand auf. Sami wollte sich ihr anschließen, aber sie hob abwehrend die Hand.

»Zu gefährlich.« Wenn James das Chaos nicht mehr im Griff hatte, wäre jeder Mensch, der ihm zu nahe kam, der Gefahr eines Verfalls ausgesetzt. Als Nachtbotin würde Nyx vielleicht ein paar Momente länger durchhalten.

Vielleicht.

»Nyx«, begann Sami.

»Vertrau mir«, unterbrach sie ihn.

Kurz sah es so aus, als wollte er widersprechen, dann sank er geschlagen zurück auf die Knie.

»Hol ihn zurück«, sagte Sami. »Bitte.«

Ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Sie nickte. Birdie trat neben sie, bereit, sie zu begleiten, doch Nyx wehrte sie ebenfalls ab.

»Ich kann James helfen«, widersprach Birdie.

Nyx lächelte matt. »Das hoffe ich. Aber das Chaos, das aus ihm ausbricht, hat die Menschen hier drin wie nasses Papier zerrissen.« Sie neigte den Kopf zu Birdies Fingern. »Wie lange können deine Schutzzeichen dich abschirmen, wenn du ihm jetzt gegenübertrittst?«

Birdie biss sich auf die Unterlippe, dann sagte sie: »Ich bin mir nicht sicher.«

Nyx drückte ihren Arm. »Er kennt mich«, sagte sie und hoffte inständig, dass das immer noch stimmte. Dass sein Bewusstsein noch intakt genug war, um seine Umgebung wahrzunehmen. »Ich kann ihn erden. Und dann hole ich dich nach, okay?«

Birdie zögerte, sichtlich hin und her gerissen.

»Bitte, Birdie«, sagte Nyx. Wenn sie zusehen musste, wie sie neben ihr auseinanderbrach, würde sie den Verstand verlieren.

Birdie presste die Lippen aufeinander, dann straffte sie die Schultern. »Ruf nach mir, sobald wie möglich.«

»Versprochen«, sagte Nyx. Sie trat vor, schaffte jedoch kaum zwei Schritte, bevor Birdie sie zurückhielt.

»Der Vogel«, sagte sie rasch. »Der Spatz unten auf der Straße. Er kann Opfer einer Chaoswelle sein, aber Vögel mit gebrochenen Hälsen sind auch Todesomen.«

Nyx versteifte sich.

»Du hast ihn gefunden«, sagte Birdie. »Und deine Vision war voller toter Vögel.« Ihre Finger krallten sich in Nyx’ Ärmel. »Sei vorsichtig.«

Nyx schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an, dann ging sie zu der Tür, auf die Erin gezeigt hatte.