James

Er hatte keine Ahnung, wie lange er sich bereits in seiner Dunkelheit versteckte. Er wusste nicht einmal genau, wie er sie heraufbeschworen oder wie er sich befreit hatte. Menschen in Uniformkluft hatten versucht, ihn auf eine Liege zu schnallen. Jemand hatte sich mit einer Nadel genähert.

James hatte nur einen Gedanken gehabt. Er wollte zurück zu Leon.

Das Nächste, woran er sich erinnerte, war der Stern, der über seiner Handfläche aufleuchtete und zu Leons Bett hinüberwanderte.

Wieso war Leon hier? Wie konnte es sein, dass sein Körper scheinbar unversehrt auf diesem Bett lag?

James’ Fragen trafen nur auf Stille. Auf Stille und eine gähnende, aschgraue Hoffnungslosigkeit.

Er saß auf einem Stuhl neben dem Bett, so, als wäre dies ein ganz normaler Besuch in einer Klinik. Nur, dass James nicht wusste, wie er jemals wieder aufstehen sollte. All die Jahre. All die Jahre hatte er weitergemacht. Er hatte seine Trauer entweder weggeschoben oder ertragen, wenn sie durch seine Schutzwälle brach.

Schon ironisch, dass ihn am Ende die Hoffnung in Stücke riss.

Sein dummes Herz hatte ihn zurück in dieses Zimmer getrieben. Leon ist zurück, Leon ist am Leben. James hatte sich so verzweifelt gewünscht, dass es stimmte.

Zwei Monitore flankierten das Kopfende von Leons Bett.

Leon war hier und nicht hier. Seine Haut war glatt und kalt, und die Muskeln an seinen Armen fühlten sich zu weich und nachgiebig an. Er hätte eine gänzlich leblose Puppe sein können, wären da nicht die Drähte gewesen, die in seinen Armbeugen steckten.

Schimmernde Tagenergie troff an ihnen herab wie Honig. Das Licht drang unter seine Haut, schien dort ein paar Sekunden zu verweilen, dann quoll purpurgrauer Chaosdunst aus den Einstichstellen.

Der Anblick der Drähte nagte an James, aber er traute sich nicht, sie herauszuziehen. Vorhin hatte er schon die Hand nach ihnen ausgestreckt, aber dann packte ihn die Angst, Leons Körper könnte zu Staub zerfallen, sobald er die Drähte entfernte.

Was hatte der Orden Leon angetan?

Das Licht des Sterns glomm über Leons Brust, und es war so einfach, sich vorzustellen, wie er die Augen aufschlug. James schob seine Hand unter Leons schlaffe Finger, und seine Kehle schnürte sich so fest zu, dass er kaum noch schlucken konnte.

»James?«

Mühsam hob er den Kopf. Nyx stand am Fußende des Bettes, ihre Miene starr und schockiert. Kurz wirkte sie wie gelähmt, dann durchquerte sie den Raum und sank neben James auf die Knie. Sie zögerte, ergriff jedoch seinen Arm.

Er sackte in sich zusammen und lehnte sich vor, bis er seine Stirn auf ihren Kopf ablegen konnte. Ihre Finger schlossen sich

»Ich hab mir Riesensorgen um dich gemacht«, krächzte sie.

»Tut mir leid.« Er hob den Kopf, und sein Blick glitt zurück zu Leon. Nyx sah in dieselbe Richtung.

»Wie kann er hier sein?«, fragte sie. »Was ist mit ihm passiert, was machen sie mit ihm?«

James berührte wieder Leons Hand. »Ich weiß es nicht.«

Nyx kniete weiterhin auf dem Boden. »Ist er … ist er am Leben?«

Die Frage fühlte sich noch schlimmer an, wenn sie sie laut aussprach. James’ Blick glitt zu den Münzen auf Leons Augenlidern. Als er dieselbe Münze auf der Brust seines eigenen Liegennachbarn bemerkt hatte, hatte er sie zunächst nicht erkannt. Und auch bei Leon hatte es ein paar Minuten gedauert, bis er sich an die Fotos in Dianes Akten erinnerte.

Münzen, geprägt mit einer Blüte. Einem Weißen Affodill, um genau zu sein, jener Blume, die laut antiker Mythen die Wiesen der griechischen Unterwelt schmücken sollte. Die Münzen bestanden aus einer Metalllegierung, die mit Tag- und Nachtenergie versetzt war. Die Spur dieser Münzen hatte James zu Remzi und Ipek geführt. Sie waren bei einer Ausgrabung dabei gewesen, während der eine Amphore voller Münzen entdeckt wurde. Später war jener Fund auf unerklärliche Weise verschwunden, aber Ipek hatte herausgefunden, welchen Zweck die Münzen ursprünglich gehabt hatten.

Es sind Charonspfennige, hatte sie James erklärt. Du weißt schon, Münzen, mit denen die Toten den Fährmann für die Überfahrt in die Unterwelt bezahlen sollen.

Laut Ipek hatte ein Zusammenschluss aus Tag- und Nachtboten mit Metallurgie, Bannsprüchen und ihren eigenen Talenten herumexperimentiert, um den Tod abzuwenden. Dabei

Non moriar. ›Ich werde nicht sterben.‹

Meinst du, das hat je funktioniert?, hatte James Ipek gefragt.

Daraufhin zuckte Ipek mit den Schultern. Wenn ich die Quellen richtig deute, dann nein. Zumindest nicht so, wie sie sich das damals gewünscht hätten. Die Münzen haben zwar den Körper der Sterbenden am Leben gehalten, aber ihr Bewusstsein, ihr Geist, ihre Seele, wie auch immer du es nennen willst, das ist erloschen. Egal, wie viele Münzen man auf ihnen verteilte.

Die Münzen erklärten, warum der Nachtbote im anderen Labor weder einen Beatmungsschlauch noch eine Magensonde brauchte. James vermutete, dass sein Körper weiterarbeiten würde, solange der manipulierte Charonspfennig auf seiner Haut lag.

Der Junge im Labor lag in einem künstlichen Koma, aber er war noch am Leben. Leon jedoch atmete nicht, noch schien er zu altern. Und als James die Finger an seine Pulsschlagader gedrückt hatte, hatte er zwar einen Herzschlag gespürt, doch das monotone, träge Pochen hatte nichts mit dem Rhythmus eines lebendigen menschlichen Herzens gemein.

Ist er am Leben?

James schüttelte den Kopf.

Leons Stern flackerte, und eine neue Woge aus Dunkelheit schwappte aus James hinaus, getränkt mit dem Schmerz, der sich wie eine Klinge in seiner Brust drehte. Nyx keuchte, und James zerrte schuldbewusst seine Gefühle zurück. So ganz gelang es ihm nicht, das spürte er, und die Anstrengung ließ ihn schaudern.

Nyx nestelte an ihrem Handgelenk herum. James erkannte diese nervöse Angewohnheit von ihr wieder. Nur, dass Nyx

»Ich kann die Dunkelheit nicht mehr lenken«, gestand er. »Ich kann sie nicht im Zaum halten, ich kann nicht–«

Er verstummte und spürte, wie sich die Dunkelheit unter seinem Brustbein ballte. Verzweifelt presste er die Hände an seine Brust, um den nächsten Ausbruch zurückzuhalten. Obwohl Nyx ihn festhielt, drohte er in seinem Schmerz versinken. Der Geschmack von verbrannter Holzkohle füllte seinen Mund.

»James.«

Die Dunkelheit glitt ihm durch die Finger, genauso, wie ihm Leon durch die Finger geglitten war. Er war gefangen. Gefangen in einer Zeitschlaufe, in der er immer wieder versuchte, die Menschen, die er liebte, festzuhalten. Leon, Diane, Nyx, Sami. Sie alle wurden ihm aus den Händen gerissen, und er konnte nichts tun, rein gar nichts, um das zu verhindern.

»Sie haben Diane getötet«, brachte er heraus.

Stille. Dann sagte Nyx: »James. Schau mich an.« Warme Hände legten sich zurück auf seine Knie. »Schau mich an, okay?«

Er öffnete die Augen. Wann hatte er sie geschlossen?

Nyx verstärkte den Druck ihrer Hände. »Ich bin hier«, sagte sie. »Du bist nicht allein.«

»Ich kann nicht.«

»Ich weiß«, beruhigte sie. »Es ist in Ordnung. Wir sind zusammen. Versuch … versuch mit mir zu atmen.«

Sein Kopf schwirrte. Die Dunkelheit drückte gegen seinen Brustkorb, aber Nyx hielt Augenkontakt, während sie gut sichtbar ein- und ausatmete.

James nahm einen Atemzug, und Nyx nickte ermutigend. Es funktionierte. Nach zwei, drei Atemzügen löste sich der Druck in James’ Brust.

Dichte, schwarze Dunkelheit hüllte sie beide ein wie ein

Noch während er seine Sinne ausstreckte, weiteten sich Nyx’ Augen, und das Leuchten, das sich in ihnen spiegelte, wurde heller.

Hell wie eine Sonnenfackel, dachte James und spürte, wie seine Nackenhaare sich aufrichteten.

»Shit«, zischte Nyx und streckte abwehrend die Hand mit dem gräsernen Armband vor sich aus.

James drehte sich um. Er wappnete sich gegen einen Angriff, doch zu seinem Erstaunen war es nicht Bhaskar, der sich durch die Dunkelheit näherte.

Ein paar Meter hinter Leons Bett, dort, wo die Wand des Zimmers sein sollte, schälte sich eine schimmernde Gestalt aus den zähen Schatten von James’ Dunkelheit.

»Was zum …«, murmelte er, aber da schritt die Gestalt bereits auf ihn und Nyx zu. Der Stern über Leons Bett schwebte, wuchs und pulsierte, bevor er an den Rändern wie Zuckerwatte auseinanderfaserte. Leuchtende Schlieren trieben durch das Zimmer auf die funkelnde Gestalt zu, als würden sie von ihr angezogen.

James stand auf, und kurz darauf tat Nyx es ihm nach. Sie stand so dicht an seiner Seite, dass er spüren konnte, wie sie zitterte. Sie zog an seinem Arm, aber James rührte sich nicht. Er hatte keine Angst, nicht, während die Gestalt auf ihn zukam, und auch nicht, als sie die Hände nach ihm und Nyx ausstreckte.

Erst als die Gestalt eine glitzernde Fingerspitze an seine Stirn drückte, schlug die Furcht wie eine brechende Welle über ihm zusammen.