… krachten auf den Boden des Glaszimmers.
Nyx’ Herz dröhnte wie ein Gong, dann fühlte sich ihre Brust plötzlich hohl und geprellt an. Wie betäubt sah sie sich um. Da war die Sitzbank am Fenster, dort die Kissen, die sie und die Jungs auf dem Boden ausgebreitet hatten. Waren sie wirklich zurück in Wildridge Hall? Alles fühlte sich so falsch, so unwirklich an.
Nyx blinzelte, dann rutschte die wahre Welt zurück an ihren Platz.
»Nein, oh bitte, nein. Leon!«
Sie richtete sich auf. James kniete eine Armeslänge von ihr entfernt. Er beugte sich über Leon, hielt ihn in seinen Armen und flehte ihn an. »Komm schon, komm schon. Wach auf. Bitte!«
Grauen stieg in ihr auf wie brackiges Wasser. Es schwappte in ihrer Brust, in ihrem ganzen Körper. Nyx stemmte sich auf die Knie, schaffte es jedoch nicht, aufzustehen. Wie gelähmt sah sie mit an, wie James’ Hände über Leons Körper flogen, wie sie seinen Puls suchten, seine Wange berührten, ihn schüttelten.
Leon bewegte sich nicht. Seine viel zu blassen Lippen blieben leicht geöffnet, und seine Augen waren seltsam leer und grau. Ein Netz aus verglimmenden Linien zeichnete sich unter seiner Haut ab. Er sah aus wie eine zerbrochene Porzellanpuppe.
James schluchzte, ein kehliger, rauer Laut, der sich durch Nyx hindurchbohrte. Kurz durchzuckte sie der Gedanke, dass hier etwas nicht stimmte. James hätte ein schlaksiger Siebzehnjähriger sein sollen. Doch der James, der hier um Leon trauerte, war erwachsen. Die Erkenntnis rutschte ihr jedoch sofort aus dem Kopf, und an ihren Platz rückte eine erstickende Mischung aus Schuld und Angst.
»Komm zurück«, flehte James, kaum hörbar. »Komm zurück.«
Nyx sollte zu ihm gehen, doch stattdessen wich sie zurück. Da war immer noch dieses schwappende Gurgeln in ihrer Brust. Es stieg hinauf in ihre Kehle, schnürte ihr die Luft ab. Ihr Blick glitt hinüber zur Mondtür, und zu ihrem Schrecken sah sie, dass die Tür noch offen stand. Nicht nur das: Die Wahre Nacht quoll aus dem Türrahmen hervor. Risse sprangen im Holz und in der Wand auf. Dort, wo Nyx und Leon die Tapete mit indigoblauer Farbe bemalt hatten, löste sich das Haus auf und gab den Blick frei auf die endlose Tiefe eines unerbittlichen Universums. Weiter und weiter wanderten die Risse, wie gierige Finger.
Dann flog die Tür zum Glaszimmer auf, und Diane stürmte herein. Sie warf einen Blick auf Leon, und ihr Gesicht schien in sich zusammenzufallen. Unmittelbar darauf bemerkte sie die offene Mondtür, und ihre Miene gefror zu Stein. Sie rannte an Nyx vorbei und schlug die Tür zu. Ein Donnerschlag erschütterte das Haus, die Fensterscheiben klirrten, und Nyx taumelte. Sie hatte sich kaum gefangen, da packte Diane sie so brutal am Arm, dass sie vor Schmerz keuchte.
»Was hast du getan?«, zischte Diane. »Was zum Teufel hast du getan?«
Ihre Anklage versank in Nyx’ Herz wie ein Splitter aus Eis. Dianes Finger gruben sich in ihren Arm, und die Zeit blieb stehen.
Nyx sah Diane an, sah ihren wutentbrannten Blick, der sie von da an in ihren Albträumen verfolgen sollte. Später, nachdem der erste Schock verflogen war, würde Diane Nyx ausfragen, bis sie ihr alles gebeichtet hatte. Ja, sie konnte Türen zur Wahren Nacht öffnen. Nein, sie hatte nicht darüber nachgedacht, welchen Schaden sie damit anrichten konnte.
Diane sprach es nie direkt aus. Sie sagte nie: Deinetwegen kam Leon mit zu viel roher Chaoskraft in Berührung. Deinetwegen hat er sich von ihrem Ruf hinreißen lassen und sich für sie geöffnet. Diese Worte kamen ihr nie über die Lippen, aber Nyx hörte sie in ihrem eigenen Kopf, und dort sollten sie bleiben.
Und diese Schuld hatte alles unter sich zerdrückt, oder nicht? Nyx konnte nicht trauern, konnte sich nicht lösen aus diesem Moment, in dem alles in ihr vor Schock und Verzweiflung erstarrt war. Ein Teil von ihr stand immer noch in diesem Raum, gefangen in dem Wissen, dass Leon tot war und die Familie, die sie in ihr Herz geschlossen hatte, in Scherben lag.
Von da an würde nichts mehr so sein wie zuvor. Diane würde auf Abstand gehen. Lu und Pablo würden Wildridge Hall verlassen. James und Nyx würden noch eine Weile aneinander festhalten, würden versuchen, die Nähe, die sie geteilt hatten, zu bewahren. Aber stets klaffte eine Lücke zwischen ihnen, und mit der Zeit drifteten sie auseinander und redeten nicht mehr über das, was zählte. Nyx spürte, wie James sich weiter von ihr entfernte, und zog sich als Antwort in sich selbst zurück. Sie wusste weder, wie sie diese Entfremdung aufhalten konnte, noch ob sie es überhaupt sollte. Vielleicht mussten sie das tun, was alle sagten: ihren Verlust überwinden, nach vorne schauen, weitermachen.
Nyx stand in ihrem eingefrorenen Albtraum und erkannte mit einer plötzlichen Klarheit, dass das so nicht funktionierte. Sie konnte ihren Verlust nicht abstreifen. Sie konnte ihn auch nicht abwälzen wie einen Stein. Sie wusste nicht, was der richtige Weg war, aber hier und jetzt konnte sie sich nicht mehr vor ihrer Angst und ihrem Kummer verschließen. Sie wollte sie nicht mehr wegdrücken.
Wieder sah sie zu Diane, und dieses Mal bemerkte sie denselben Schmerz in ihren dunklen Augen, der auch Nyx überwältigt hatte. Vorsichtig zog sie Dianes Hand von ihrem Arm, dann ging sie zu James und tat, was sie im echten Leben nie getan hatte. Sie sank neben Leon auf die Knie, nahm seine Hand in ihre und weinte. Tränen rannen ihre Wangen hinunter, als James seine Hand über ihre legte.
»Eulchen«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Bist du hier?«
Nyx sah auf. Um sie herum war immer noch alles eingefroren, doch James schien sich des Traums ebenso bewusst zu sein wie sie.
»Ja«, sagte Nyx. »Und du?«
»Ja.« Verwirrt sah er sich um. »Wir träumen, oder?«
Nyx rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Zusammen? Wie kann das sein?«
James’ Augen weiteten sich. »Leon«, sagte er leise.
Wie zur Antwort glommen überall um sie herum Lichter auf. Sie schwebten in der Luft wie funkelnde Staubkörnchen.
War das der Grund, warum die Sternengestalt sie heimgesucht hatte? Wollte das, was von Leon noch übrig war, sie in die Nacht zurückstoßen, in der er gestorben war? Mit pochendem Herzen sah Nyx auf Leon, aber er lag immer noch leblos in James’ Armen.
Nyx rieb mit dem Daumen über seine Finger. Bist du hier?
Ein Lichtkörnchen schwirrte über das Armband, das böse Geister abwehren sollte, und landete auf ihrem Handrücken. Sie spürte ein Kitzeln, und der Traum …
… veränderte sich.
Eine Sommerwiese breitete sich unter ihnen aus. Der Duft der Gräser und Butterblumen hing süß in der Luft. Am taubenblauen Abendhimmel hing ein winziger Sichelmond.
Leon lag mit dem Kopf auf James’ Bauch, und Nyx lag bäuchlings neben ihm. Sie zupfte einen fedrigen Grashalm auseinander, während Leon sich über eine von Dianes Lektionen ausließ.
»Ihre Sermone gehen mir auf den Geist«, murrte er.
»Mmh, echt?«, fragte James gelassen, während er mit der Hand durch Leons Haare fuhr. »Das ist ja ganz was Neues.«
Leon schnaubte, schnippte mit dem Finger gegen James und schmiegte sich dann wie ein Welpe in seine Berührung. Nyx grinste amüsiert in sich hinein.
Nach einer Weile fuhr Leon in ernsterem Ton fort. »Wir sind nicht nachtgeboren, um uns einzuschränken«, sagte er. »Wer wir sind, ist keine Strafe und verdammt nochmal kein Makel.«
»Wissen wir doch«, sagte Nyx und tippte ihre Stirn beschwichtigend an seine Schulter.
»Ich mein’s ernst«, beharrte Leon. »Wir sind völlig in Ordnung, so wie wir sind. Und es ist okay, es ist einfach nur normal, dass wir uns weiterentwickeln. Dass wir herausfinden wollen, wer wir noch sein können. Was wir noch geben können.«
Er sah Nyx in die Augen. »Deine Mum hat es gewusst«, sagte er. »Du bist wie der Baku. Du und deine Talente, ihr seid ein Talisman. Ein Geschenk für andere. Wir alle sind das.«
»Leon«, murmelte James und legte den Arm um ihn. Plötzlich klang seine Stimme älter, schwerer.
»Ich liebe euch«, sagte Leon. »Das wisst ihr, oder?«
Nyx spürte einen Kloß im Hals, drehte sich auf die Seite und kuschelte sich an Leon. Er hielt sie mit einem Arm fest, und kurz darauf spürte sie James’ Hand an ihrem Hinterkopf.
»Wir alle«, murmelte Leon.
Nyx atmete den Geruch von Sommergras ein, spürte die Wärme, die von ihren Brüdern ausging, und …