Nyx

… wachte auf. Sie beide wachten auf. Nyx und James knieten auf dem Boden neben Leons Bett und hielten einander fest. Die undurchdringliche Schwärze von James’ Dunkelheit war verflogen, aber das Zimmer lag weiterhin im Dunkeln. Nur die Lichtkörnchen, die Nyx in ihrem Traum gesehen hatte, leuchteten um sie herum. Sie sprenkelten alles: die Monitore am Kopfende des Bettes, die Ränder der Schränke, die Lehne des Stuhls, den Boden.

Nyx seufzte leise und lehnte ihre Wange an James’ Schulter. Sie fühlte sich immer noch leer, aber dieses Mal war es eine leichte Leere. Als hätte sie lange genug geweint. Als wäre ein Damm gebrochen.

James’ Arme schlossen sich noch enger um sie.

»Es war meine Schuld«, murmelte er.

»Was?« Überrascht rückte Nyx ein Stück von ihm ab.

»Ich hätte schneller bei ihm sein müssen«, sagte er. »Ich hätte ihn festhalten müssen.«

Bestürzt starrte Nyx ihn an.

»Es hätte keinen Unterschied gemacht«, sagte sie, und plötzlich wusste sie, tief in sich, dass sie damit recht hatte. Keiner von ihnen hätte aufhalten können, was Leon widerfahren war. Sie erinnerte sich an Birdies Worte, und eine letzte Träne rann über ihre Wange.

Chaosträger zu werden ist keine Charakterschwäche. Es ist einfach nur Pech. »Ich dachte immer, dass es meine Schuld war«, gestand sie.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe für Leon eine Tür zur Nacht geöffnet, immer wieder. Was in diesem Lichterwald passiert ist, war vielleicht der letzte Auslöser, der ihn für das Chaos geöffnet hat. Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre er nie dort gewesen.«

»Nyx«, sagte James. »Leon hat immer seine eigenen Entscheidungen getroffen. Wenn er deine Tür nicht gehabt hätte, hätte er andere Wege gefunden, um das Chaos stärker zu spüren.«

Sie schluckte, hatte nicht geahnt, wie dringend sie das hören musste.

»Nyx«, sagte James. »Es tut mir so leid. Wenn ich das gewusst hätte … Ich hätte mit dir reden sollen, schon viel früher.«

Sie schniefte und setzte ein schiefes Lächeln auf. »Ich hätte mit dir reden sollen«, konterte sie. »Ich hätte dich fragen sollen, wie es dir geht.«

»Ich hab dir ja kaum eine Gelegenheit gegeben«, sagte James. »Ich habe alles falsch gemacht, oder? Nach Leons Tod? Ich hätte für dich da sein sollen, und stattdessen bin ich abgehauen.«

»Du standest unter Schock«, sagte Nyx. »Das tust du immer noch. Das ist okay, hörst du? Du musst mich nicht –«

»–beschützen?«, vervollständigte er ihren Satz mit bitterem Tonfall.

Nyx schüttelte den Kopf. »Du musst mich nicht vor dem beschützen, was dich belastet«, korrigierte sie. »Es stimmt, oder? Du hast deinen Schmerz vor mir versteckt, weil du ihn mir nicht aufbürden wolltest.«

Ertappt wich James ihrem Blick aus.

Sie hob ihre Hand, zögerte, dann legte sie sie an seine

Es gab so viel, was sie ihm sagen wollte. Was er verstehen musste. Wie wichtig er für sie war, für sie und Leon. Sie hatte gedacht, James wüsste das. Glaubte er wirklich, er hätte sie im Stich gelassen? Dass er nicht genug für sie gegeben, nicht genug auf sie aufgepasst hatte?

James betrachtete sie mit einem gequälten Blick. »Nyx.«

»Ich kann’s nicht richtig in Worte fassen«, gestand sie.

Da löste sich seine Miene, und er nahm sie in den Arm. »Doch«, sagte er leise. »Doch das kannst du.«

Nyx überließ sich seiner Umarmung, wie sie es als kleines Kind getan hatte. Sie fühlte sich warm und geborgen und war gleichzeitig froh, dass er sich auch an ihr festhalten konnte.

»Danke«, murmelte James. Er gab ihr einen Kuss auf den Scheitel, dann seufzte er lange und traurig.

In stillem Einvernehmen lösten sie sich voneinander. Um sie herum funkelte das Zimmer immer noch unter einer dünnen Schicht aus Sternenstaub.

»Er war wirklich bei uns, oder?«, fragte James. »Leon war in unserem Traum?«

Nyx wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Ich glaube schon. Ich glaube, er wollte, dass wir …« Sie verstummte, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. »Er wollte, dass wir nach Hause kommen.«

James runzelte die Stirn. »Nach Wildridge?«

Nyx stieß ein brüchiges Lachen aus. »Nein. Nein, er wollte, dass wir den Weg zurück zueinander finden.«

»Hm«, machte James überrascht, dann lächelte er. »Oh, das

»Ja«, antwortete Nyx. Sie schüttelte den Kopf, dann stand sie auf und trat an Leons Bett. »Hättest du das nicht hinbekommen, ohne mir eine Scheißangst zu machen?«, fragte sie und spürte, wie neue Tränen in ihren Augen aufstiegen.

James rappelte sich ebenfalls hoch. »Er hat was gemacht?«

»Erkläre ich dir später.« Nyx drückte kurz Leons Hand, dann musterte sie die Drähte, die aus seinen Armen ragten. Ein leuchtender Nebel in der Farbe reifer Pflaumen kroch in regelmäßigen Pulsschlägen an ihnen empor und verschluckte das goldene Schimmern, das von den Drähten selbst ausging. Eine bittere Gewissheit überkam sie. »Nachtenergie?«, fragte sie James.

»Und Chaoskraft«, bestätigte James.

»Diese Scheißkerle«, fluchte Nyx. »Sie bluten ihn aus, oder? Entziehen ihm seine Energie?«

»Nicht nur ihm.«

Nyx ballte die Fäuste. »Wozu?«

»Das finden wir noch heraus«, versprach James. Er berührte Leons Unterarm und strich mit dem Daumen über seine Haut, knapp unter der Einstichstelle des linken Drahtes.

Nyx hatte wieder einen Kloß im Hals. »Er liegt nicht im Koma, oder?«

James presste die Lippen aufeinander, dann nickte er zu einem der Monitore. »EEG«, erklärte er knapp. »Misst die Aktivität des Gehirns.«

Der Monitor verzeichnete vier Linien. Keine davon zeigte auch nur ein leichtes Kräuseln an. »Er ist wirklich tot«, murmelte Nyx, und obwohl sie es eigentlich längst gewusst hatte, tat es nicht weniger weh. »Wieso? Wieso strömt immer noch Energie aus ihm heraus?«

»Die Pfennige.« James wies auf die hässlichen Münzen, die

»… eine offene Schleuse«, flüsterte Nyx. Sie betrachtete den mit Chaoskraft durchsetzten Dunst, der die Drähte hinaufglitt. »Er ist es«, platzte es aus ihr heraus. »Er ist der Chaosträger. Er war’s die ganze Zeit.« Verdammt, jetzt ergab es auch Sinn, warum Ingleby von einem Jungen gesprochen hatte. Einem Jungen mit hellen Haaren.

Diese Mistkerle. Diese bornierten Mistkerle, die sich an Toten vergriffen, um beschissene Experimente durchzuführen. Sie hatten einen Plan gehabt. Eine genaue Vorstellung, zu was dieser Tabubruch gut sein konnte, daran zweifelte Nyx keine Sekunde lang. Sie hatten gedacht, sie hätten alles im Griff. Jetzt lagen sie in ihrem hochmodernen Bonzenbau mit aufgelösten Innereien, und wenn niemand etwas unternahm, würde es dem Rest der Stadt bald genauso ergehen.

Wut brodelte in ihr, und sie musste ein paarmal durchatmen, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Schließlich setzte sie sich auf den Rand des Bettes und legte ihre Hand ebenfalls auf Leons Arm.

»Wir müssen ihn gehen lassen«, sagte sie. »Das hier würde er nicht wollen.«

»Ich weiß«, sagte James. Er legte seine Hand über die von Nyx, und für einen Moment saßen sie schweigend da. Dann, einer nach dem anderen, erhoben sich die Sternenpartikel von allen Oberflächen und strömten auf das Bett zu. Wie eifrige Glühwürmchen wirbelten sie um die goldenen Drähte herum.

James ließ den Kopf hängen. »Ja, ja«, sagte er. »Hör auf zu schubsen.«

Nyx drückte seine Hand, dann ging sie zur anderen Seite des Bettes. Sie wechselten kein Wort mehr, sahen sich nur noch einmal an, dann zogen sie behutsam die Drähte aus Leons

Als es getan war, kehrte Nyx zu James zurück. Schulter an Schulter sahen sie zu, wie die Sterne sich auf Leons Körper herabsenkten, wie sie ihn von Kopf bis Fuß bedeckten und dann langsam, ganz langsam erloschen.