Sami fühlte nach dem Puls des nachtgeborenen Teenagers, während James erst die Drähte und danach die Infusionsnadeln aus seinen Armen zog. Nyx und Birdie sahen indessen hinter einem Durchgang auf der rechten Seite des Raumes nach, ob dort noch weitere Opfer des Ordens aufgebahrt lagen.
James warf einen Blick auf den leeren Platz neben dem Jungen. Dort hatte er selbst gelegen. Eine Handfessel baumelte noch vom Geländer. Von den Leuten, die versucht hatten, ihn festzuketten, fehlte jede Spur. Allerdings lag ein Transfusionsständer umgestürzt am Boden, und Glasscherben knirschten unter Samis Schuhen. Dr. Tod und ihre Lakaien mussten Hals über Kopf geflohen sein. Vor James’ Dunkelheit? Oder vor dem Chaos, das aus Leons Zimmer in den Rest des Hauses gebrandet war?
»Er lebt noch«, sagte Sami. »Wie wecken wir ihn auf?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Erin, die verloren am Fuß der Liege stand. Leuchtstreifen durchzogen den Boden wie die Notfallwegweiser in Flugzeugen und verliehen ihrer Haut einen klinisch-bläulichen Ton.
James konnte sie kaum ansehen, ohne dass rote Punkte vor seinen Augen tanzten. Seine Dunkelheit rumorte immer noch in seinem Innern, aber nach allem, was passiert war, hatte er sie zum Glück wieder im Griff.
»Ich glaube, sie verabreichen den Nachtboten Betäubungsmittel«, sagte Erin. »Und irgendwelche anderen Präparate, damit …«
»… damit wir nicht aufwachen und wegrennen?«, unterbrach James.
»Khara«, murmelte Sami und hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund.
Fast wünschte sich James seine maßlose Wut zurück, denn ohne sie verfingen sich seine Gedanken in den Fragen, die ihn schon sein halbes Leben quälten. Er stützte sich auf die Kante der Liege. »Warum?«, fragte er. »Warum hasst ihr uns so? Wo ist eure Empathie, hm?« Er drehte den Kopf zu Erin. »Sieh ihn dir an«, forderte er sie auf. »Wir sind Menschen, gottverdammt. Wir sind Menschen, genau wie du.«
»Ich weiß!«, platzte es aus Erin heraus, dann wiederholte sie leiser: »Ich weiß.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas, dann fragte Sami: »Warum hast du mich angerufen?«
»Was?«, fragte James.
Sami nickte zu Erin. »Sie hat mir erzählt, was mit dir passiert ist. Dank ihr sind wir überhaupt hier.«
Erin sagte nichts, sondern nagte nur an ihrer Unterlippe. So geschwollen, wie sie aussah, tat sie das nicht das erste Mal.
»Erin?«, hakte Sami nach.
Als sie immer noch nicht antwortete, richtete James sich auf.
»Lass gut sein«, sagte er zu Sami. »Es spielt keine Rolle.«
Erins Kopf ruckte hoch, bevor sie seinem Blick erneut auswich. »Nein«, stimmte sie ihm zu. »Das tut es nicht.«
Mit einem Mal war James es leid, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Selbst wenn sie jetzt ihr Gewissen plagte, ihre Reue kam zu spät. Sie schaffte weder die Gräueltaten in diesem Labor aus der Welt, noch brachte sie Diane zurück.
James wandte sich dem Jungen auf der Liege zu. Er überlegte, wie sie ihn und die anderen hier herausschaffen sollten, als Nyx und Birdie zurückkamen. »Da hinten ist nichts«, sagte Nyx. »Wie viele andere Räume wie diesen hier gibt es?«
Wieder nahmen alle Erin aufs Korn.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich kam das erste Mal ins Labor, als sie James hergebracht haben.«
»Aber du wusstest, was deine Mutter und die anderen hier machen«, stellte Birdie fest.
»Ja.«
Birdie schüttelte den Kopf. »Wie kannst du nachts überhaupt schlafen?«
»Gar nicht«, antwortete Erin. Sie drehte sich um und ging zu der gläsernen Schiebetür, die diesen Bereich des Labors vom nächsten trennte.
Birdie murmelte etwas, das James nicht verstand, dann sah sie zu dem bewusstlosen Jungen. »Er wacht nicht von alleine auf, oder?«
»Wahrscheinlich nicht in den nächsten paar Minuten«, sagte Sami. »Er braucht ein richtiges Krankenhaus.«
Besorgt runzelte Birdie die Stirn. »Wie bekommen wir ihn dorthin?« Sie stöhnte. »Ihn und wen wir sonst noch hier finden?«
»Das habe ich mich auch gerade gefragt«, sagte James. »Irgendwelche Ideen? Nyx?«
Beunruhigt stellte er fest, dass sie abseits der Gruppe stand und scheinbar gedankenverloren ins Leere starrte. Erst als er ihren Namen ein zweites Mal sagte, drehte sie sich zu ihnen um.
»Hm?«, fragte sie.
»Alles okay?«, fragte James.
»Ja.« Nyx schüttelte sich leicht, dann trat sie näher an die Liege heran. »Ich habe nur so ein komisches Gefühl hier drin. Als ob der Boden dünner wird.« Sie sah zu Birdie. »Kann das eine Nachwehe von Leons letzter Chaoswelle sein?«
»Möglich«, antwortete Birdie. Sie klang jedoch alles andere als überzeugt. Plötzlich wollte James nur noch eins: So schnell wie möglich raus aus diesem Horrorkabinett.
»Gehen wir.«
Er beschloss, den Jungen zu tragen und sich um den Rest Gedanken zu machen, wenn es so weit war. Als er sich jedoch der Liege zuwandte, hob Sami den Nachtboten bereits auf seine Arme. Er tat es so selbstverständlich und behutsam, als ob er seine eigene kleine Schwester tragen würde.
Ein Gedanke, ein Wunsch zuckte durch James’ Kopf. Wenn Sami ihn zurück in sein Leben ließ, würde er bei ihm Wurzeln schlagen. »Du kannst sie nicht alle hier raustragen«, sagte er.
»Nein«, stimmte Sami ihm zu. »Aber einer ist ein Anfang.« Er lächelte. »Den Nächsten kannst du übernehmen.«
»Deal«, sagte James. Mit einem letzten Blick auf die verhassten Liegen wandte er sich ab und ging zum Ausgang des Laborraums.
Erin wartete an der halb offenen Schiebetür.
James betrat den Raum auf der anderen Seite als Erster und blieb abrupt stehen.
Nur wenige Meter hinter der Tür lag eine Leiche. Der hingestreckte Körper war von der Schulter bis zum Kreuz aufgerissen. Eine gewöhnliche Wunde war es jedoch nicht. James sah weder Blut noch Haut- und Stofffetzen. Stattdessen war ein Teil des Rückens schlicht auseinandergeklappt und zu Asche zerfallen.
James Mund war schlagartig trocken. Erst als er in die Hocke ging, erkannte er seinen Irrtum. Das war keine Asche, es war eine Art schwarzer Sand. Wie die feingeriebenen Überreste eines Meteors, dachte er und schauderte.
James berührte den Toten, noch bevor er richtig darüber nachdachte. Er wusste, was er vorfinden würde, wenn er den Mann auf den Rücken drehte: leere Augen und ein von Chaosadern durchzogenes Gesicht. Er musste die Leiche des Mannes jedoch nicht bewegen. Er erkannte ihn auch so. Rohan Bhaskar trug sein Sakko immer noch mit hochgerollten Ärmeln.
James’ Hand ruhte auf dem unversehrten Oberarm des Tagboten. Er empfand keinerlei Genugtuung. Stattdessen spürte er die niederdrückende Erkenntnis, wie sinnlos diese ganze Zerstörung war. Dutzende Menschenleben ausgelöscht, und für was?
James stand auf, hatte sich jedoch kaum aufgerichtet, als plötzlich ein goldenes Licht aufblitzte. Er sah sich um. In der Mitte des Raums stand eine weitere Säule, umringt von acht Liegen. Auf jeder von ihnen lag ein Mensch. Nachtenergie schimmerte an den Drähten in den Armen der Nachtboten, doch die Säule strahlte wie eine aufgehende Sonne. Das Licht wanderte nach oben, floss über die Decke und flutete runde Steinscheiben, die die Säule umkreisten wie Planeten auf einer Sternenkarte.
James ging bereits auf die gefesselten Nachtboten zu, als etwas durch die Luft zuckte. Es fühlte sich an wie ein Tremor, das Vibrieren eines straff gespannten Segels beim Einschlag einer Windbö. Die feinen Haare auf seinen Unterarmen richteten sich auf, dann spürte er den Hauch einer Aura wie die Fühler von Nachtfaltern auf seiner Haut. Er kannte diese Signatur. Er hatte sie in Samis Küche gespürt, als er neben frisch gewürfelten Tomaten Erins Hand gehalten hatte. James’ Herz setzte einen Schlag aus, und im selben Moment sagte Birdie: »Oh. Oh nein.«
»Erin?«, rief Sami.
James fuhr herum. Erin stand einige Meter von ihnen entfernt, stockstarr, den Blick nach vorne gerichtet. Hinter ihr konnte James mehrere hingestreckte Menschen ausmachen. Einige trugen weiße Laborkittel, andere –
»Mum.«
In der Stille des Labors hörten sie alle Erins Flüstern. Ein Beben ging durch den Raum, ließ den Boden knirschen und Metall klirren. Dann stieß Erin ein kehliges Stöhnen aus und rannte zu den Leichen.
James lief ihr hinterher, taumelte jedoch zurück, als er von einer Explosion an Energie getroffen wurde, die wie eine Stahlbürste über seine Haut schliff.
»Was …«, setzte Nyx an, aber da erschütterte ein erneutes Beben den Raum, so stark, dass eine der Deckenplatten mit lautem Knall auf den Boden krachte und irgendwo Glas splitterte.
»In Deckung!«, warnte Sami, aber hier gab es nichts, was sie schützen konnte.
Die nächste Druckwelle fegte über James hinweg, und er fiel mit einem erstickten Schrei auf die Knie. Hastig suchte er den Blickkontakt zu Nyx.
»Erin!«, keuchte er und stand auf. »Wir müssen zu Erin!«
Nyx begriff, und ihre Miene wandelte sich von Unverständnis zu Entsetzen. Ohne ein weiteres Wort sprinteten sie los.
Am anderen Ende des Labors kauerte Erin über einer der Leichen und wiegte sich vor und zurück.
Sie kann es nicht sein, protestierte eine Stimme in James’ Kopf. Sie ist keine Botin! Doch noch während er das dachte, glomm eine dunkelviolette Aura um Erins Körper auf.
»Nein«, zischte Nyx.
Erins Wimmern drang zu ihnen herüber, dann ertönte ein Schrei so voller Schmerz und Verzweiflung, dass James der Atem wegblieb. Sie waren zu weit entfernt, um irgendetwas auszurichten, und zu nah dran, um das, was als Nächstes passieren würde, zu überleben.
Mit einem Ruck erhob sich Erins gekrümmter Körper in die Luft.
Nyx wollte weiterrennen, aber James packte sie am Rücken ihres Shirts und riss sie zurück. Birdie, die neben Nyx gerannt war, stolperte, fiel hin und rappelte sich sofort wieder hoch.
»Nicht«, warnte James und sah sich panisch um. Sami, der erst den Jungen abgelegt hatte, war zurückgefallen, würde sie jedoch in wenigen Sekunden eingeholt haben. James zögerte keine Sekunde lang, rief die Dunkelheit in seine Hand und schleuderte sie gegen Sami. Er sah noch, wie der zurückgeworfen wurde – weg von Erin, oh bitte, weg aus ihrem Radius –, dann warf er seine Dunkelheit wie einen Schutzschirm über Erin, Nyx, Birdie und sich selbst.
Das wird niemanden retten, dachte er verzweifelt, aber er wusste einfach nicht, was er sonst tun sollte.
Erin hing bereits mehrere Meter über dem Boden. Ihre Aura, die nun unverkennbar mit Chaos durchtränkt war, pulsierte, und mit jedem Pulsschlag strahlte sie weiter hinaus.
Voller Entsetzen begriff James, dass er beobachtete, wie sich eine Chaoswelle aufbaute.
Wir sind geliefert.
Nyx klammerte sich an seinen Arm, und beim Anblick ihres vor Angst verzerrten Gesichts kam ihm eine letzte, schreckliche Idee.
»Eine Tür«, platzte es aus ihm heraus. Nyx’ Augen weiteten sich.
Erins Aura pochte, und dieses Mal ertönte ein Krachen wie von nahem Gewitter. Chaosfunken trieben aus Erins geöffnetem Mund, winzig und todbringend. Nyx fiel auf die Knie und presste die Hände auf den Boden, bis die Materie unter ihren Füßen aufriss.