Surrey | Zehn Jahre zuvor
Das Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich in den Fenstern des Krankenhauses. Erin saß im Auto ihrer Mutter, den Blick auf den Haupteingang des Gebäudes gerichtet. Ein Teil von ihr hoffte immer noch, dass ihre Mum jeden Moment zurückkommen würde. Aber im Grunde genommen wusste sie, dass es bereits zu spät war. Das Konzert würde in einer Viertelstunde beginnen, und sie parkte irgendwo draußen in Surrey. Selbst wenn ihre Mutter in der nächsten Sekunde aus dem Gebäude gesprintet käme, würden sie es niemals rechtzeitig zum Konzerthaus schaffen.
Erin presste die Lippen aufeinander, dann ließ sie sich gegen die Lehne des Beifahrersitzes fallen. Ihren Geigenkasten hielt sie auf dem Schoß.
Die Enttäuschung lag ihr wie ein Stein im Magen. Es wäre ihr erstes Solo vor einem größeren Publikum gewesen. Kein Auftritt in der Albert Hall, nur ein musikalischer Abend auf der Bühne einer Tanz- und Theaterschule. Aber Erin hatte sich darauf gefreut. Sogar ihre Mum schien aufgeregt zu sein. Sie hatte sich eins ihrer schicksten roten Kleider angezogen und eine Tapas-Bar herausgesucht, in der sie den Abend nach dem Konzert ausklingen lassen konnten.
Erin fuhr mit dem Daumen über die Schließe des Kastens. Sie hatten den Veranstaltungsort schon fast erreicht, als Diane Harling anrief und Josephine um Hilfe bat. Es ging um Nachtboten, natürlich. Scheinbar hatte einer von denen ein Mädchen in ein Koma versetzt. Josephine hatte versprochen, sofort hinzufahren. Sie hatte sich bei Erin entschuldigt, während sie das Auto wendete. Aber sie hatte auch keine Sekunde lang gezögert.
Erin war nicht überrascht. Wenn es um Angelegenheiten des Ordens ging, spielte sie die zweite Geige, haha.
Trotzdem, dachte sie. Ein Abend. Ein Abend, an dem es um sie ging, um die Musik, die sie liebte, und die rein gar nichts mit dem monumentalen Dauerkonflikt zwischen Tag und Nacht zu tun hatte. War das zu viel verlangt?
»Story of my life«, murmelte sie. Noch einmal wanderte ihr Blick zum Eingang des Krankenhauses, und plötzlich wollte sie keine Minute länger in diesem Auto sitzen.
Sie stieg aus, nahm ihren Geigenkasten und ging hinüber in den kleinen Park, der neben dem Hauptgebäude lag. Sie zupfte den Rock zurecht, auf dem ihre Mutter bestanden hatte, dann trat sie auf einen der Schotterpfade, der vom Parkplatz wegführte.
Schon vor ihrer Geburt hatte Erins Mutter große Pläne für sie geschmiedet. Josephine war Ordensmitglied aus tiefster Überzeugung. Sie glaubte fest an die Ziele des Ersten Tages.
Für sie fielen soziale Bindungen, die nicht über den Ersten Tag definiert wurden, unter die Kategorie ›Ablenkung‹. An einer Ehe war sie nie interessiert gewesen, aber ein Kind wünschte sie sich sehr. Zumindest hatte sie es Erin so erzählt. Was Erin sich aus anderen Informationen zusammenreimte, war Folgendes:
Josephine Morley wollte der Welt und dem Orden ein taggeborenes Kind schenken. Sie selbst besaß keine übernatürlichen Talente. Sie behauptete, damit hätte sie sich schon lange abgefunden. Die Tatsache, dass sie immer wieder erwähnte, dass es in ihrer Ahnenreihe bereits mehrere Tagboten gegeben hatte, regte in Erin jedoch den Verdacht, dass ihre Mutter nie ganz mit dem Thema abgeschlossen hatte.
Nein, ziemlich sicher hatte sie nicht damit abgeschlossen. Warum sonst hatte sie mit großer Sorgfalt einen Tagboten als Samenspender für ihr Baby ausgesucht? Josephine und die Wissenschaftler des Ordens behaupteten, dass die Affinität mit Tag oder Nacht biologisch weitergegeben wurde. Zwar hatte noch niemand ein Tag- oder Nachtgen identifizieren können, aber das änderte nichts an der Beliebtheit dieser Theorie.
Nach allem, was Erin bisher mitbekommen hatte, zweifelte sie daran, dass die Frage, wer als Bote oder Botin geboren wurde, so einfach zu beantworten war. Sicher, die Stammbücher, die im Archiv des Ordens aufbewahrt wurden, dokumentierten Blutlinien mit taggeborenen Mitgliedern. Aber Erins Meinung nach gab es zu viele Ausnahmen, um die Theorie der genetischen Vererbung zu beweisen. Ahnenlinien, die Tagbotinnen und Tagboten hervorbrachten, versandeten irgendwann. Gleichzeitig wurden Kinder mit Tag- oder Nachtaffinität in allen möglichen Familien geboren, Familien, in denen niemand zuvor ein übernatürliches Talent hatte erkennen lassen.
Erin fand die Vorstellung, dass die Affinität arbiträr auftrat, tröstlich. Das würde ihre eigene Talentlosigkeit erklären. Aber natürlich könnte sie auch schlicht ein Blindgänger sein. Ein misslungenes Experiment, sozusagen.
Egal, wie hoffnungsvoll ihre Mutter sie beobachtete und ermutigte: Erin hatte keine besonderen Talente abbekommen. Ein paar Jahre lang beharrte ihre Mutter darauf, dass sich ihre tagaffinen Fähigkeiten noch zeigen würden, aber je älter Erin wurde, umso weniger ließ sich verleugnen, dass sie nur eines war: gewöhnlich.
Nach ihrem zwölften Geburtstag wurde Erin wie alle anderen Ordensmitglieder auf Spuren von Tag- oder Nachtenergie getestet. Das Ergebnis fiel in beide Richtungen negativ aus. Und da die aus Urkräften gespeisten Energien spätestens in der Pubertät ihre Wirkung entfalteten, zerstörte das Ergebnis die Hoffnungen, die Erins Mutter für sie gehabt hatte.
Erin erinnerte sich daran, wie ihre Mutter die Schultern gestrafft und dann ihre Hand getätschelt hatte.
Nicht zu ändern, hatte sie gesagt. Wir machen das Beste draus.
Sie hatte sich bemüht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Doch Erin bemerkte die resignierten Blicke, die ihre Mutter ihr immer noch heimlich zuwarf. Sie erkannte die falsche Fröhlichkeit in ihrer Stimme, wenn sie Erin versicherte, dass es natürlich in Ordnung war, wenn sie erst einmal studieren ging, bevor sie sich entschied, ob sie dem Orden beitreten würde.
Erin hätte ihrer Mutter gerne gegeben, was sie sich so offensichtlich von ihr wünschte. Stattdessen konnte sie sie nur nach besten Kräften unterstützen. Und wenn das hieß, dass sie ihr eigenes Konzert verpasste, dann war es so.
Sie ging weiter, bis sie außer Sichtweite des Parkplatzes war. Im Schatten eines Busches hielt sie an. Die Sonne war hinter das Krankenhaus gesunken, aber ein apricotfarbener Schimmer erhellte immer noch den Himmel. Die Schatten der Büsche und Hecken waren lang, die Pfade und Bänke im Park verlassen. Erin war allein.
Sie warf einen letzten, prüfenden Blick über ihre Schulter, dann schlüpfte sie aus ihren Ballerinas und trat auf den Rasen. Mit einem Seufzen atmete sie aus. Zu Hause war sie immer froh, wenn sie die Gelegenheit bekam, morgens oder abends unbeobachtet in den Garten zu gehen. Sie liebte es, barfuß über taunasses oder von der Sonne gewärmtes Gras zu laufen. Wenn sie ganz alleine war, wenn ihre Mutter arbeitete oder noch schlief, dann nahm sie ihre Geige mit. Sie konnte nicht sagen, warum, aber im Freien zu spielen – außer Reichweite von Lehrern, Partituren und Notenständern – befriedigte eine Sehnsucht in ihr, die sie nicht in Worte fassen konnte.
Im Park hinter dem Krankenhaus hob Erin ihre Geige aus dem Kasten. In der Tanz- und Theaterschule würden die anderen jetzt ihre Instrumente stimmen. Die letzten Leute aus dem Publikum würden sich ihre Plätze suchen.
Erin setzte ihre Geige an, hob ihren Bogen und schloss die Augen. Für ein paar Sekunden verharrte sie so und lauschte auf die entfernten Geräusche des Parkplatzes, auf das Brummen von Motoren und die Brise, die die Hecken um sie herum leise rascheln ließ.
Sie begann zu spielen. Zuerst fand sie sich in das Stück, das sie heute Abend aufgeführt hätte. Die Töne fühlten sich warm und vertraut an. Sicher. Erin lächelte, genoss die Kontrolle … und ließ los. Sie ließ die Musik über die vorgegebenen Noten hinausfließen, wob Varianten in ihr Spiel ein, folgte spontanen Eingebungen und ließ die Musik zu etwas anderem, etwas Neuem wachsen.
Sie war kein musikalisches Genie, kein Mozart oder dergleichen. Aber irgendetwas an dem Akt, frei Musik zu spielen – sich von einer unbekannten, noch ungeordneten Melodie tragen zu lassen, einer Melodie, die eben erst im Werden begriffen war –, irgendetwas daran fühlte sich unbeschreiblich befreiend an. Erin hörte die Musik nicht nur, sie spürte sie. Wie ein Wind, der durch sie hindurch und aus ihr herauswehte. Tränen sammelten sich hinter ihren Augenlidern, ihr Lächeln wurde weicher, ihr Herz auch.
Irgendwann ließ sie den letzten Ton ausklingen, hielt die Augen jedoch geschlossen. Sie fühlte etwas, tief in ihrer Magengrube, wie ein zartes Flattern. Erin öffnete die Augen und hielt überrascht die Luft an. Auf dem gewundenen Kopf ihrer Geige saß ein rosiger, durchscheinender Nachtfalter.
Erin wagte kaum, zu blinzeln, doch der Klang einer Stimme ließ sie zusammenzucken.
»Wow.«
Erschrocken fuhr sie herum und sah einen Jungen auf dem Rasen stehen. Er war schlank, nicht größer als sie, und das helle Haar hing ihm wirr in die Stirn. Sein linkes Auge war zugeschwollen, und ein erschreckend dunkler Bluterguss zog sich von seinem unteren Lid bis zu seiner Schläfe.
Bevor Erin noch richtig darüber nachdachte, riss sie die Geige von der Schulter und stöhnte enttäuscht, weil der Falter davontrudelte.
Beinahe wäre ihr ein ›Geh nicht‹ über die Lippen gerutscht. Wie absurd. Wie peinlich. Ihr Blick huschte von ihren nackten Zehen zu ihren achtlos hingeworfenen Schuhen und zurück zu dem fremden Jungen.
Was …
Der Falter war nicht geflüchtet, sondern flog gelassen auf den Jungen zu. Als der die Hand hob, landete er auf seinen Fingerspitzen. Der Junge drehte seine Hand, um den Falter zu bewundern, dann schloss er die Augen und seufzte. Keine Sekunde später verwandelte sich der Falter in glitzernden, rotgoldenen Staub. Der Staub wirbelte um die Finger des Jungen, trudelte in das Zwielicht des Abends hinauf und verschwand.
Erin starrte ihn hilflos an, während der Junge auf sie zukam. Von nahem konnte sie die Tränenspuren auf seinem Gesicht sehen. Er legte die Hand an ihre Wange, dieselbe Hand, auf der der Falter gesessen hatte.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte er. »Lass dir das von niemandem wegnehmen.«
Er strich sacht über die Rundung ihrer Wange, dann drehte er sich um und ging in Richtung des Krankenhauses davon.