Jetzt
Sie machte es schlimmer. In ihrer Panik rief Nyx keine Tür. Sie zerfetzte die Realität, wie sie es am Strand von Dorset getan hatte, und plötzlich befand sie sich in der Wahren Nacht.
Bestürzt riss Nyx ihre Hände von der obsidiandunklen Fläche, die eben noch der Laborboden gewesen war. Vor ihren Augen drehte sich alles, und kurz hatte sie den Eindruck, sie würde mit dem Kopf nach unten an der Decke hängen. Dann drehte sich ihre Wahrnehmung in einem halsbrecherischen Schwung um die eigene Achse, und sie stürzte mit einem Aufschrei nach vorn.
Keuchend sog sie die Luft ein, dann traf sie der nächste Schock. Wie groß war das Loch, das sie gerissen hatte? Wer war mit ihr in die Wahre Nacht gestürzt? Hektisch sah sie sich um, blickte zurück über ihre Schulter und stieß einen erstickten Laut aus.
Birdie stand mehrere Meter hinter ihr. Sie schwankte und starrte mit weit aufgerissenen Augen nach oben. Anders als sonst war die Weite, die sich über dem Boden der Nacht wölbte, nicht schwarz. Sie war durchzogen von purpurnem Licht, das sich wie Stoffbahnen unter Wasser wellte. Blutrote Funken blitzten hinter den Schleiern, und sie alle fielen wie in Zeitlupe nach unten.
Das Universum brach ein, und Chaos sickerte durch die Fissuren. Es war ein Anblick, den nur Boten überleben konnten.
Ein dünner Klagelaut entrang sich Nyx’ Kehle, dann sprang sie auf die Füße, stolperte und rannte los.
»Mach die Augen zu«, rief sie, aber ihre Stimme war viel zu schwach. »Birdie, mach–«
Sogar aus dieser Entfernung sah sie, wie sich die Chaosfunken in Birdies Augen spiegelten, und ihr Herz sprang förmlich ihre Kehle hinauf. Dann tauchte James auf. Er stürzte von rechts auf Birdie zu, wirbelte sie zu sich herum und drückte ihr in derselben Bewegung die Hand vor die Augen.
Nyx dankte allen großen und kleinen Göttern, an die sie nicht glaubte, dann hatte sie Birdie und James erreicht. James zitterte, aber seine Hand wich nicht von Birdies Gesicht.
»Ist sie okay?«, fragte Nyx atemlos. »Birdie, bist du in Ordnung?«
Das entrückte Seufzen, das daraufhin über Birdies Lippen kam, drehte Nyx den Magen um. Hilfesuchend drehte sie sich zu James, der jedoch genauso erschüttert aussah, wie sie sich fühlte.
»Sie muss hier raus«, flehte Nyx. »Bring sie zurück, lass sie nicht los.«
Ein Rumoren, wie Nyx es hier noch nie gehört hatte, rauschte durch die Nacht. Sie drehte den Kopf, bis sie eine Gestalt sah, die langsam nach unten schwebte. Die Luft um sie herum schimmerte wie eine Fata Morgana, und an mehreren Stellen konnte sie Laborwände hinter den Schlieren erkennen. Brachen die Barrieren zwischen Sphären ein? Das war nicht gut, das sollte nicht passieren. Nyx hatte gedacht, dass die Trägerin nur zur Gefahr für Menschen würde, wenn sie sich in der irdischen Sphäre befand. Da hatte sie sich wohl getäuscht.
»Nyx«, setzte James an, aber sie packte ihn an der Schulter.
»Bitte, Jay.«
Er schluckte, nickte.
Sie streckte ihre freie Hand aus, während sie die Augen schloss und sich ein zweites Mal auf ihren Nachtsinn und das Bild einer Tür konzentrierte.
Bitte, flehte sie innerlich, als sie nur hallende Leere in sich spürte. Bitte, lass mich nicht im Stich.
Ein Aufwallen unter ihren Rippenbögen, wie ein Vorhang, der sich im Wind blähte, dann hörte sie ein Knarzen und spürte kaltes Glas an ihrer Handfläche. Als sie die Augen öffnete, befand sich die halbgeöffnete Schiebetür aus dem Labor direkt vor ihr. Sobald Nyx ihre Hand entfernte, bebte die Tür, und ein gezackter Sprung schoss mit einem Knacken durch das Glas. Lange würde diese Tür nicht Bestand haben.
»Geh«, sagte sie. »Schnell.«
Ohne die Hand von ihren Augen zu nehmen, drehte James Birdie, so dass sie vor ihm stand. »Was ist mit Erin?«, fragte er.
»Ich kümmere mich um sie«, versprach Nyx. »Ich halte sie auf.«
Immer noch zögerte James. Erst als Birdie an seinen Fingern zupfte, straffte er die Schultern.
»Komm zurück, wenn du es erledigt hast.« Er ergriff ihre Hand, und kurz spürte Nyx ein Prickeln wie von elektrischen Funken zwischen ihren Handflächen. »Versprich es mir.«
Bevor sie antworten konnte, knackte und klirrte die Tür, und das Glas bekam weitere Risse. Nyx presste erneut ihre Hand gegen die Tür, spürte jedoch, dass sie sie nicht halten konnte.
»Beeil dich«, drängte sie. »Pass auf euch auf, okay?«
James nickte grimmig, dann führte er Birdie an Nyx vorbei und quetschte sich mit ihr durch den schmalen Spalt. Die beiden hatten die Schwelle kaum passiert, da löste sich sowohl die Tür als auch der Übergang in Rauch auf.
Zurück blieben nur Nyx und das Mädchen, das wie eine Galaxie in der Wahren Nacht leuchtete.
Ich werde sie aufhalten.
Große Worte. Dumm nur, dass Nyx keine Ahnung hatte, wie sie das anstellen sollte.
Sie ging auf Erin zu, merkte, dass ihre Schritte sich verlangsamten, und streckte den Rücken durch. Keine Zeit, zu hadern.
Das Firmament trudelte unruhig unter ihren Füßen dahin, und die Sterne strömten alle auf Erin zu. Bei ihr angekommen, wirbelten sie im Kreis. Erin sah aus wie ein Monolith, der über der Mitte eines glitzernden Wasserstrudels schwebte.
Ein Stein und ein Vortex. Nyx entging die Ironie nicht. Die Furcht saß ihr tief in den Knochen. Trotzdem ging sie weiter, bis sie den Rand des Strudels erreichte.
Ein vorsichtiger Test mit ihrer Fußspitze bestätigte, was sie bereits vermutet hatte. Ab hier verlor der Boden seine Form und verwandelte sich in einen reißenden Strom. Nyx wog ab, ob sie nach Erin rufen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. So entrückt, wie Erin in der Luft hing, würde sie ohnehin nicht reagieren.
Unschlüssig sah Nyx zu Erin hinauf. Was sollte sie tun? Sie hatte keine Hilfsmittel, kein mystisches Artefakt oder auch nur eine Idee, wie sie Erin aufhalten sollte. Sie hob ihren Blick noch höher und sah, wie die glühenden Funken aus den Chaoslichtern senkrecht nach unten fielen. Sie zogen schnurgerade Lichtschweife hinter sich her, die nicht verblassten. In wenigen Sekunden würden sie Erin erreichen.
Ihre Ratlosigkeit trieb ihr die Hitze ins Gesicht, dann fiel ihr Birdie ein. Ihr Rat wäre wahrscheinlich: Sorg dafür, dass Erin sich sicher fühlt. Hilf ihr, sich so weit zu beruhigen, dass das Chaos sich nicht an der Barriere ihrer Furcht aufstauen kann.
Gut und schön, aber wie sollte Nyx das anstellen? Wie hatte Birdie es bei ihr hinbekommen?
Sie hatte mit ihr geatmet, hatte sie berührt und sie damit geerdet.
»Ach, verdammt«, murmelte Nyx. Dann ging sie in die Hocke und stieg vorsichtig in den Strudel.
Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass sich unter den wirbelnden Sternen noch immer ein fester Grund befand. Sie hatte keine Ahnung, ob man durch ein verflüssigtes Firmament schwimmen konnte. In die Sterne hineinzutauchen fühlte sich schon seltsam genug an.
Nyx biss die Zähne zusammen und watete voran. Der Sternenstrom reichte ihr bis zu den Oberschenkeln, und sein Sog zerrte an ihren Beinen. Wieder hörte sie das Rauschen, das sie in ihren Träumen verfolgt hatte. Nur wusste sie dieses Mal genau, woher es kam. Sie ging weiter und zuckte zusammen, als der erste Funken Chaos in den Strudel tropfte. Die Einschlagsstelle glomm lila und schwarz und verbreiterte sich zu einem spiralförmigen Wirbel innerhalb des Mahlstroms. Nyx wich dieser neuen Anomalie so weit aus, wie sie konnte, und erreichte schließlich Erin.
Zum Glück schwebte sie nicht allzu weit in der Luft. Ihre Füße hingen lediglich in der Höhe von Nyx’ Schultern.
»Erin«, rief Nyx gegen das Rauschen an. »Kannst du mich hören?«
Keine Reaktion.
»Ich fasse dich jetzt an, okay?«, warnte Nyx. »Nicht erschrecken.«
Sie streckte ihren Arm hoch und umfasste Erins Knöchel. Sie versuchte nicht, Erin nach unten zu ziehen, sondern drückte nur sanft zu.
»Ich weiß, du steckst in deinem Kopf, und da drin herrscht gerade die Hölle.« Überrascht hielt sie inne. Sie hatte gedacht, dass sie sich verstellen müsste, aber tatsächlich empfand sie Mitgefühl für Erin. Sie hatte James und Diane verraten und wer weiß was noch auf dem Kerbholz, aber der Schrei, den sie beim Anblick ihrer toten Mutter ausgestoßen hatte, hatte eine sehr vertraute Saite in Nyx angeschlagen. Sie kannte Verlust. Sie kannte das Gefühl, wenn man nicht wahrhaben wollte, dass jemand aus dem Leben gerissen wurde, und man nichts tun konnte, um das rückgängig zu machen.
Nyx streckte auch ihre zweite Hand nach oben und hielt Erin an beiden Beinen fest. »Wahrscheinlich rasen deine Gedanken wie der Strudel hier unten«, rief sie. »Aber du kannst aus ihnen heraustreten, hörst du? Du musst nicht in ihnen versinken. Hör auf meine Stimme. Konzentrier dich auf meine Hände.« Wieder drückte sie zu, aber Erin gab kein Anzeichen von sich, dass auch nur irgendetwas von Nyx’ Versuchen zu ihr durchdrang.
Immer mehr Chaosfunken stürzten in den Sternenstrudel. Einer schlug direkt hinter Nyx auf, und ihr Rücken kribbelte vor Unbehagen. Verzweifelt versuchte sie, Erins Gesicht zu sehen, aber sie hatte den Kopf zu weit in den Nacken gelegt.
Nyx’ Finger krallten sich in Erins Hosenbeine. Wie sollte sie Erin aus ihrem Dämmerzustand herausholen? Wie konnte sie ihr ein Gefühl von Sicherheit vermitteln? Nyx kannte Erin nicht, sie hatte keinerlei Beziehung zu ihr. Die einzige Verbindung, die sie bisher geteilt hatten, war der Traum, den Nyx für Erin manipuliert hatte.
Der Gedanke war kaum aufgeblitzt, da kam Nyx eine Idee. Wenn es Erin auch nur ansatzweise so ging, wie es Nyx an Birdies Strand gegangen war, ertrank sie in quälenden Erinnerungen. Und während die ihr ganzes Bewusstsein überschwemmten, träumte Erin mit offenen Augen.
Einen Versuch war es wert.
Nyx entspannte ihre Hände, legte sie nur noch ganz leicht an Erins Schienbeine. Dann weckte sie den Teil ihres Nachtsinns, der Träume manifestierte. Chaostropfen regneten mit klaren, metallischen »Pling«-Tönen um sie herab, doch Nyx ignorierte sie. Sie spürte, wie ein Schauder durch Erin lief, dann kroch ein kleiner grauer Frosch an ihrem Bein hinauf.
»Danke«, stöhnte Nyx und ließ los. Sie hatte die Hände jedoch kaum von Erin genommen, als ein zweiter Frosch zu ihrer Hüfte hinaufkletterte. Zwei weitere tauchten über dem Rand ihres linken Schuhs auf, und als Nyx hochsah, entdeckte sie fünf weitere, die sich an Erins Bauch, ihren Rippenbogen und ihre Arme klammerten.
»Oh, Schande«, entfuhr es ihr. So viele Träume, und kein einziger davon war freundlich. Schockiert beobachtete sie, wie ein weiterer Frosch unter dem Kragen von Erins Hemd hervorkroch, dann sackte der Boden unter ihren Füßen nach unten.
Nyx schrie auf, aber in derselben Sekunde stand sie wieder auf solidem Untergrund. Nur, dass der Strudel jetzt ihre Hüften umspülte. Mit Schrecken erkannte sie, dass der Sternenstrom mittlerweile von Dutzenden violetten Wirbeln durchzogen war, die sich um ihre eigenen Achsen drehten. Sie streiften an Nyx entlang wie ein Schwarm Quallen. Ihre Berührung brannte nicht, nicht direkt, aber sie spürte ein Ziehen und Zerren, als ob sich winzige Widerhaken in ihre Kleidung gruben und wieder losrissen.
»Okay«, murmelte sie. »Zeit, das Tempo anzuziehen.«
Sie spreizte ihre Finger und begann, Erins Träume zu verändern. Der erste Frosch löste sich von Erins Knie, wurde durchsichtig, leuchtete hell auf und verwandelte sich in einen weiß schimmernden Fisch.
»Einer erledigt«, sagte Nyx. Sie warf einen Blick nach oben, und ihr Mund wurde schlagartig trocken. Der Funkenregen hatte aufgehört, doch an seiner statt schien sich der komplette, lichtdurchwirkte Himmel nach unten zu wölben. Dunkler Nebel, der an den Rändern strahlte, senkte sich auf Erin und Nyx herunter wie eine riesige Hand.
Sie stieß einen Atemzug aus, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und machte weiter. Der Boden unter ihren Füßen wurde weggeschwemmt. Sie stellte sich breitbeiniger hin, erkämpfte sich immer wieder ihr Gleichgewicht, während sie einen Traum nach dem anderen änderte. Ihr Nachtsinn wurde schwächer, aber schließlich waren alle Frösche verschwunden. An ihrer Stelle umschwärmten Erin an die zwanzig Fische mit perlmuttschillernden Schwanzflossen.
Nyx schob sich ihre schweißnassen Haare aus der Stirn. »Das kannst du fühlen, oder?«, fragte sie.
Mit einem Seufzen sank Erin weit genug nach unten, dass Nyx sie an den Händen fassen konnte. Sie hatte ihre Finger kaum um die von Erin geschlossen, als diese mit einem Blinzeln die Augen öffnete. Es waren normale Augen, mit blassblauer Iris und dunkler Pupille. Keine Spur von Lichtfunken oder Chaosnebel. Erin hatte noch ein Bewusstsein. Das Chaos hatte sie noch nicht völlig überwältigt. Nyx’ Knie wurden weich vor Erleichterung, und beinahe stürzte sie in den Sog des Mahlstroms.
Schön stehen bleiben, mahnte sie sich.
Erins Hände lagen nur lose in Nyx’ Griff, aber sie betrachtete ihre Traumfische mit aufmerksamem Blick.
»Sie sind wunderschön«, sagte sie.
Nyx spürte einen wachsenden Druck auf ihrer Kopfhaut und wagte einen weiteren Blick nach oben. Der längste Ausläufer des Chaosnebels war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Erin bemerkte, wohin Nyx schaute, und runzelte die Stirn. Rasch nahm Nyx wieder Augenkontakt mit ihr auf. Wenn Erin jetzt hochsah und in Panik geriet, würde Nyx sie verlieren. Also lenkte sie Erins Aufmerksamkeit auf die Fische.
»Ich hab sie für dich gemacht«, sagte sie.
Eines der Tiere glitt geschmeidig an Erins Nase vorbei. Erin blinzelte wieder, und lächelte. »Ich habe mal einen Jungen getroffen, der Nachtfalter aus dem Nichts schaffen konnte«, sagte sie verträumt. »Zumindest habe ich geglaubt, dass er es war. Aber in meinen Träumen … in meinen Träumen war ich es selbst. Ist das möglich?«
»Würde mich nicht mehr wundern«, sagte Nyx. Was auch immer Erin war, ein gewöhnlicher Mensch war sie nicht.
»Ich hatte immer Angst davor«, gestand Erin. »Dass ich etwas Verbotenes tun könnte, etwas, das mich als Betrügerin entlarvt.«
Nyx schluckte. Irgendwie musste sie dafür sorgen, dass das Chaos Erin nicht erreichte, aber sie hatte keine Ahnung, wie. Zumindest blieb Erin ruhig, solange sie miteinander redeten. »Wie meinst du das?«, fragte sie.
»Meine Mutter«, sagte Erin, und ihr Gesicht verzerrte sich vor Kummer. Rasch verstärkte Nyx ihren Griff, und diesmal erwiderte Erin den Händedruck. »Ich wollte, dass sie stolz auf mich ist. Aber ich habe die Welt nie so gesehen wie sie.« Sie sah auf ihre Schuhspitzen und fügte dann leiser dazu. »Ist das dumm?«
»Nein«, platzte es aus Nyx heraus. »Nein, überhaupt nicht.«
Eine Träne rollte über Erins Wange. »Ich wollte nicht, dass sie herausfindet, wie verunsichert ich andauernd war.«
Nyx starrte sie an. Josephine hat dir echt ein Päckchen aufgebunden, dachte sie. Genau wie Diane uns. Mit einem Mal spürte Nyx die Blessuren, die sie in ihrer Kindheit abbekommen hatte, in aller Deutlichkeit. Und das Perfide daran war, dass sie Kummer überkam, wenn sie an Dianes Tod dachte.
Sie wollte Erin nicht umarmen, aber eines konnte sie ihr geben.
»Jemand, den ich sehr liebhabe, hat mir gesagt, dass wir völlig in Ordnung sind. Komplett mit allem, was uns ausmacht.«
Erin hob den Kopf. »Wir?«
»Yep«, sagte Nyx und hob den Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. Wäre James jetzt hier, würde er sagen, dass das Universum einen beschissenen Humor hatte.
Nyx presste die Lippen aufeinander. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ihre Konzentration drängte immer mehr unter die Oberfläche des Sternenstrudels, zu ihren Füßen und Beinen, an denen sich das Kitzeln inzwischen zu einem Stechen gesteigert hatte. Ihre Vorstellung warf ihr Bilder von sprudelnden Chaosfunken zu, die ihre Jeans auflösten, in ihre Haut eindrangen und mit winzigen Teilen von ihr davonwirbelten. Sie versuchte, einen Fuß nach vorne zu setzen, stellte jedoch fest, dass sie ihre Beine nicht mehr bewegen konnte.
Ein grollendes Knurren rollte über ihre Köpfe hinweg. Erin machte Anstalten, den Blick zu heben, aber Nyx hielt sie an den Schultern zurück.
»Kannst du das für den Moment ignorieren?«, bat sie. »Und dich auf die Fische konzentrieren?«
Funken schwebten auf Erins Haar zu, waren nur noch wenige Zentimeter entfernt. Sie hob die Brauen, aber sie gehorchte. »Was sind sie?«
»Träume«, antwortete Nyx. Ihr linker Fuß rutschte nach hinten, und sie drückte ihn mit aller Kraft zurück auf den unsteten Boden. »Nur die guten.«
Erin hob ihre Hand und hielt sie unter einen der Fische. Der kleine Kerl drehte sich im Kreis und schlug einen gelassenen Salto über ihrer Handfläche. Während sie ihn ansah, sanken Erins Lider herab, und sie rutschte noch ein Stück abwärts. Mittlerweile berührten ihre Fußspitzen beinahe den Strudel. »Ich würde gerne einschlafen.«
Wenn Nyx sie jetzt losließ, würde Erin dann in diesem Chaospfuhl versinken und sich auflösen? Wenn sie wie Leon starb, wäre die Chaosflut abgewendet. Dann hätten James und die anderen vielleicht genügend Zeit, die Maschinerie von Project Daylight zu zerstören, bevor der nächste Träger aktiviert wurde.
»Das ist okay«, sagte Nyx. Sie selbst war mittlerweile bis über den Bauchnabel eingesunken. »Mach einfach die Augen zu, und wenn du aufwachst, bist du in Sicherheit.«
Erin nickte schläfrig. Nyx, der vor Anstrengung der Schweiß in die Augen lief, streckte ihre freie Hand aus und bemühte noch einmal ihren Nachtsinn. Sie schaffte es nicht mehr, eine Tür herbeizurufen, aber direkt hinter Erin öffnete sich ein gezackter Riss. Nyx sah Wände, auf denen sich ein unruhiges, goldenes Licht abzeichnete. Sie hoffte, dass es das Labor war.
»Viel Glück«, murmelte sie und schob Erin nach hinten. Sie kippte durch den Spalt, während dieser sich bereits wieder schloss. Plötzlich alleine und ohne Anker sackte sie bis zur Brust in den Strudel. Nur einen Meter vor ihr schlossen sich die Ränder des Risses und des einzigen Auswegs nahtlos.
Erin hatte es auf die andere Seite geschafft. Immerhin, dachte Nyx.
Ihr Herz schlug so schnell, dass seine Frequenz sich wie das Surren von Insektenflügeln anfühlte. Die Angst war immer noch da, natürlich war sie das. Sie saß wie ein Stein in ihrem Magen. Gleichzeitig fühlte sie sich seltsam befreit. Sie hatte getan, was sie konnte. Hatte gekämpft, so lange wie möglich.
Ein letztes Mal sah sie nach oben. Der Chaosnebel dräute immer noch über ihr, schien sich jedoch zurückzuziehen. Er ballte sich wie Gewitterwolken, die im Zeitraffer zum Horizont zurückwichen. War es das? Hatten sie es geschafft? Sie wusste es nicht, und es fiel ihr immer schwerer, sich zu konzentrieren.
Nyx senkte den Kopf, und ihr Blick fiel auf ihre Hände. Sterne leuchteten unter ihrer Haut, fremde und vertraute Konstellationen entlang der Linien ihrer Handflächen.
Sie musste lächeln. Immer noch schön, dachte sie. Trotz allem.
Um sie herum erhoben sich Chaosfunken aus dem Strudel und strebten nach oben. Die Sterne folgten, trudelten hinauf in die Nacht.
Nyx stand mitten darin. Sterne lösten sich auch aus ihrer Haut, aber sie spürte es nicht mehr. Sie betrachtete ihre Hand. Eins der Lichter unter ihrer linken Handfläche leuchtete besonders hell. Hundsstern, dachte Nyx. Der hellste Stern am Himmel.
Sie streckte ihre Arme aus. Ihre Haut wurde durchsichtig, und Birdies Armband zerfiel zu Staub. Immer mehr Lichtpunkte drangen aus ihrem Körper und schwebten mit dem Rest des Lichtgestöbers nach oben. Sie wusste nicht, ob der Boden unter ihren Füssen verschwunden oder ob sie selbst schwerelos geworden war.
Nyx dachte an Birdie und James. »Den Rest müsst ihr übernehmen«, murmelte sie. Dann sprudelte das Licht von ihren Fußsohlen durch ihren Körper, und sie stob auseinander wie –
Komm nach Hause.