Nyx

In der Tiefe des Chaosstroms, in dem immerwährenden Fluss aus Materie, Antimaterie, Licht und Dunkelheit, erinnerte sie sich daran, wer sie war. Sie versuchte, die Form, die sie bewohnt hatte, festzuhalten: ein Körper mit Armen, Beinen, anderen Bestandteilen. Doch die Moleküle, die sie einst zusammengehalten hatten, blieben in Bewegung, sammelten sich, stoben auseinander, bildeten Formen und lösten sie auf. Mit jeder Woge der Entwirrung schwand ihre Erinnerung, verlor sie den Halt.

Was wird aus der Energie, die uns ausmacht?

Jemand hatte ihr diese Frage einmal gestellt.

Nyx.

Nyx. War das ihr Name? Nyx. Νύχτα. 夜. Nacht.

Mit ihrem letzten Rest Bewusstsein betrachtete sie das Sternbild, dass einmal ihre Hand gewesen war. Einer der Sterne …

einer der Sterne …

einer der …

einer der Sterne leuchtete heller als die anderen.

Hundsstern.

Sirius.

Der hellste Stern am Nachthimmel.

Vergesst den Nordstern. An Sirius und dem Großen Hund kann man sich viel besser orientieren.

Das sagst gerade du? Wo du uns mit schöner Regelmäßigkeit irgendwohin lotst, wo wir gar nicht sein sollten?

Das ist Absicht, Jay Bird, pure Absicht. Und ihr habt noch nie bereut, mit mir auf Entdeckungstour zu gehen. Oder, Eulchen?

Hundsstern.

Puppy.

Bist du hier?

Sie erinnerte sich. An den Stern, der über Leons Klinikbett schwebte. An James, der einsam neben dem Bett saß. Der mit einem Reiserucksack über der Schulter aus ihrer WG verschwand. Der sie anflehte, zu ihm zurückzukommen.

Kummer. Trost. Wärme. Unsicherheit.

Alles. Alles davon.

Sie erinnerte sich an Freyas Buchhandlung. Den Tulpenstrauß im Schaufenster. Den Geschmack von buttrigem Zimtgebäck. Sie dachte an Birdie, die auf einer Gartenbank saß und über das ganze Gesicht strahlte, als Nyx ihr einen Schokoriegel reichte.

Wir existieren weiter. Nur eben in anderer Form.

Sie war dabei, eine neue Form anzunehmen.

Konnte sie auch in eine vertraute Form zurückfinden?

Nyx war daran gewöhnt, das Ungreifbare in etwas Sichtbares, Stoffliches, Verständliches zu verwandeln. Egal, ob sie malte oder ihre Talente nutzte, sie verlieh Gedanken, Gefühlen, Träumen eine Gestalt.

Die Sterne, die Atome und Eigenheiten, die sie einmal ausgemacht hatten, wanderten wie eine Stranddüne durch die Dunkelheit. Licht krümmte sich in eleganten Kurven, bäumte sich auf, fiel in sich zusammen und strudelte einer Windhose gleich nach oben.

Einer der Sterne, der Hundsstern, bewegte sich nicht vom Fleck. Nyx benutzte ihn als fixen Punkt und malte sich selbst zurück ins Sein.