James

James Hände zitterten, als er den zweiten Draht aus dem Arm einer Nachtbotin zog. Birdie tat dasselbe bei dem Nachtboten auf der nächsten Liege, während Sami sich um einen dritten kümmerte.

James warf einen Blick zu Birdie, die stoisch weitermachte, obwohl sie nicht stehen konnte, ohne sich irgendwo abzustützen. Das grauenvolle Staunen, das in der Nacht von ihr Besitz ergriffen hatte, war von ihr abgefallen, sobald sie in die irdische Sphäre zurückgekehrt war. Auch ihre Augen schienen zum Glück unversehrt, aber durch dieses Erlebnis befand sie sich anscheinend am Rand des Kollapses. Das hatte sie jedoch nicht davon abgehalten, die Finger in James’ Krankenhaushemd zu krallen.

»Wir müssen dafür sorgen, dass die Transmutation der Energien aufhört«, stieß sie aus. »Sofort.«

James fragte nicht nach, sondern legte los. Fieberhaft entfernte er Drähte und suchte mit den Augen bereits nach dem nächsten Boten. Vier von acht hatten sie bereits losgelöst. Bisher schienen ihre Bemühungen jedoch keine Auswirkung auf die Maschinerie zu haben, welche die gewaltvoll generierte Tagenergie verströmte. Die Inschrift auf der zentralen Säule leuchtete genauso golden wie die Steintafeln an der Decke. Mit jeder Sekunde drückte das Übermaß an Energie schwerer auf James. Und mit jeder Sekunde schlitterten sie alle näher an den ältesten aller Abgründe.

Zum bestimmt hundertsten Mal sah James nach oben.

Keine von Dianes Quellen hatte je von einem derartigen Kollaps zwischen den Sphären gesprochen.

Nyx, beeil dich. James eilte zur nächsten Liege, kam jedoch keine zwei Schritte weit, bevor Birdie seinen Namen rief.

Er fuhr herum. Nur wenige Meter von ihnen entfernt öffnete sich ein Riss in der Luft und gab den Blick auf die Nacht frei. Mit einem Schrei wirbelte Birdie herum und riss sich den Arm vors Gesicht. James’ Herz rutschte mehrere Stockwerke in den Keller, dann stürzte ein Körper rücklings aus der Nacht.

Erin.

James trat auf sie zu, sah hoch und erwartete, Nyx hinter ihr auftauchen zu sehen. Doch der Riss zwischen den Sphären schloss sich bereits.

Plötzlich war Sami an seiner Seite. »Wo ist Nyx?«

James brachte kein Wort heraus. Er starrte auf die Stelle, wo der Riss gewesen war, und hatte das Gefühl seine Zunge und seine Kehle wären zu Stein erstarrt.

Sami drückte seinen Arm, dann lief er zu Erin und half ihr, sich aufzusetzen. James hörte, wie Entschuldigungen aus ihr heraussprudelten.

»Es tut mir leid«, wimmerte sie. »Es tut mir leid, es tut mir so leid.«

Sami legte ihr einen Arm um die Schultern, während der Stein aus James’ Kehle hinunter zu seinem Herzen kroch. In den nächsten Sekunden bebte und knirschte der Raum unter einer neuen Erschütterung. Automatisch sah James nach oben. Die Laborwand war nahezu komplett verschwunden, nur die

Birdie stolperte in ihn hinein, hielt sich an ihm fest.

»Kommt schon«, drängte sie verzweifelt. »Das Chaos staut sich weiter auf, wenn wir diesen Scheißenergiefluss hier nicht unterbrechen.«

Sami sah zu James, und blanke Hoffnungslosigkeit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Zu spät, dachte James. Niemals würden sie es schaffen, alle Nachtboten in diesem Gebäude zu entkoppeln, bevor das Chaos durchbrach.

»James, bitte«, flehte Birdie.

Erin murmelte etwas.

»Was?«, fragte Sami mit erstickter Stimme.

Erin suchte James’ Blick. »Die Säulen«, rief sie. »Die Inschrift. Durchbrecht den Kreislauf.«

James verstand nicht, bis Erin mit der flachen Hand auf den Boden schlug. Dann sog er die Luft durch die Nase, drehte sich um und rannte zu der Säule inmitten der Liegen. Er fühlte immer noch den Stein in seiner Brust. Es war ein nicht auszuhaltender Druck, aber darunter regte sich seine Dunkelheit. Er krümmte die Finger, als er sie nach oben, nach außen, in seine Hände rief. Er dachte daran, wie er seine Fesseln gesprengt, wie er seine Kraft aufgestaut hatte, bis er sie beinahe nicht mehr halten konnte.

Als er die Säule erreichte, glomm wieder jener blauschwarze Nimbus um seine Finger. James hob seine Arme, spreizte die Finger und stieß beide Hände mit Wucht gegen die beschriebene Säule. Ein dumpfes »WUMP« erklang, Dunkelheit klatschte gegen den Sandstein, und eine Druckwelle schleuderte James zu Boden.

Jemand schrie, jemand anderes rief seinen Namen. James stemmte sich auf die Unterarme. Kurz klebte seine Dunkelheit

James rappelte sich auf. In der Säule prangte ein gezackter Riss auf der Höhe, auf der seine Hände den Stein getroffen hatten.

Mit einem Aufflattern von Hoffnung richtete er den Blick wieder nach oben. Dort fand er nur die deaktivierten Tafeln und eine graue Deckenverkleidung vor. Keine Spur mehr vom Chaos oder anderen Sphären.

Birdie trat neben ihn and sank mit einem zutiefst erschöpften Seufzen auf den Boden. »Es ist vorbei«, murmelte sie, dann beugte sie sich vornüber und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern bebten, dann entrang sich ihrer Kehle ein Schluchzen.

James lag immer noch halb auf dem Rücken, als Sami auftauchte und ihm auf die Füße half. Wortlos legte er eine Hand an James’ Nacken, und für einen Augenblick schloss James seine Finger um Samis Kragen. Dann ließ er los und sah sich um. Nichts regte sich mehr im Labor. Er spürte kein Aufwallen von Energie, keine Erschütterung in den unsichtbaren Wänden, die die Sphären voneinander trennten.

Nyx war nicht hier.

Sami sah ihn mitfühlend an, aber James schob ihn sanft beiseite. Zuerst drehte er sich zu der Schiebetür, die ein Stück weit offen stand. Doch in dem Spalt zwischen Wand und Tür erkannte er nur das benachbarte Labor. Er drehte sich um und ging stattdessen zum gegenüberliegenden Ausgang des Raumes.

Die Schiebetür auf dieser Seite verschloss den Durchgang in

James berührte die Barriere mit den Fingerspitzen. Ein Teil von ihm war sich sicher, dass er dahinter nur ein weiteres Labor, eine weitere Säule und betäubte Nachtboten finden würde. Er weigerte sich, auf diesen Teil zu hören.

James lehnte erst seine Hände, dann seine Stirn gegen das Glas.

»Nyx«, sagte er. »Ich werde dich nicht verlieren. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben.«

Er wusste nicht, wie lange er dort stand, aber mit einem Mal sanken seine Hände in Glas, das so weich wie Rauch geworden war. Er wich zurück.

Vor seinen Augen verschwamm die Tür zu milchigem Nebel. Er verdunkelte sich, löste sich auf und offenbarte perfekte Schwärze und einen mit Sternen gepflasterten Boden, der sich ins Unendliche erstreckte.

James zog sich weiter zurück. Der Durchgang wuchs, wanderte über den Umriss der Tür hinaus, bis er die Größe eines Tors hatte, dann begann er wieder zusammenzuschrumpfen.

»Komm schon«, murmelte James.

Aus den entlegenen Winkeln der Nacht näherte sich eine Gestalt, die vollständig aus wirbelnden Sternen zu bestehen schien. Je näher sie kam, um so dichter zogen sich die Schwärme aus Lichtern zusammen, bis James einen Kopf, Schultern, einen Torso und den Rest eines menschlich anmutenden Körpers ausmachen konnte.

Sein Atem verfing sich in seiner Kehle. Er spürte sie, bevor er sie mit den Augen erkennen konnte. Die Berührung ihrer Aura war federleicht und so lautlos wie eine Eule im Flug. Die Gestalt kam näher, und James erkannte schwarze Chucks. Sie ging weiter auf ihn zu, und er sah Hosen, deren Beine am Saum hochgerollt waren. Ein Handgelenk mit einem Armband aus

Der Übergang zwischen den Sphären schloss sich, und Nyx stand vor ihm. Lose Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht, und da war diese kleine Furche zwischen den Brauen, die immer auftauchte, wenn sie etwas irritierte.

James holte so tief Luft, als hätte er die letzten Minuten unter Wasser zugebracht, dann schloss er sie in die Arme. Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust, und James verspürte eine so allumfassende Dankbarkeit, dass er sich weder rühren noch klar denken konnte.

Irgendwann klopfte Nyx mit der Hand gegen seine Seite und nuschelte: »Oy, Atmen wäre jetzt ganz gut.«

Mit einem Laut, der halb Schluchzen, halb Lachen war, ließ er sie los. Nyx grinste zu ihm hinauf und hob ihre linke Hand, die sie zur Faust geschlossen hatte.

»Das hier gehört dir«, sagte sie. »Danke, dass du ihn mir geliehen hast.« Als sie ihre Finger öffnete, schwebte Leons Stern über ihrer Handfläche. Eine Träne rann über James Wange, und er wischte sie rasch weg. Er fasste Nyx am Hinterkopf, lehnte seine Stirn gegen ihre, während Leons Stern zwischen ihnen schimmerte.