Nyx saß auf der Dachterrasse über ihrer Wohnung und wartete darauf, dass die Farbe an der Wand des Nebengebäudes trocknete. Kobalt, Indigo, Obsidian. Blaue Wirbel auf schwarzem Hintergrund.
Ohne hinzusehen, griff sie nach dem Thermosbecher mit Tee, der neben ihr stand, und öffnete den Deckel mit einem leisen »Plopp«. Sie nahm einen Schluck, dann sank sie zurück auf die Matratze, die auf ein paar Holzpaletten lag und sonst als Sofa herhielt.
Über ihr spannte sich ein schwarzgrauer Himmel, an dem sich trotz des Dauerschimmers, den die Stadt ausstrahlte, ein paar Sterne zeigten. Sie hatte Glück. Wäre die Temperatur heute Nacht nicht so mild, wäre es hier draußen ziemlich unangenehm.
Nyx schloss die Augen. Die Ruhe aus der Sphäre der Wahren Nacht hatte sie begleitet, bis sie in ihre Wohnung zurückgekehrt war. Sie hatte schon gehofft, dass sie den Frosch früh genug freigelassen hatte. Doch kaum eine halbe Stunde später spürte sie die Resonanz des Albtraums in ihrem Kopf und ihrem Körper.
Es begann mit Schüben aus Traurigkeit und Verunsicherung, die wie aus dem Nichts über sie hereinbrachen. Dann begannen ihre Finger zu zucken, und sie konnte nicht mehr stillsitzen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie einen Vortex aus dunklen Blautönen mit sternhellen Einschüssen, der ihre Wahrnehmung mit jeder Minute stärker beherrschte.
So ging es ihr oft, wenn sie mit einem Traum in Berührung gekommen war. Auch wenn sie die Träume in ihrer Tiergestalt rasch losließ, hinterließen sie einen Nachklang in ihrem Bewusstsein. Fremde Gefühle mischten sich in ihre Gedanken, und ihr Körper reagierte auf Impulse aus Angst, Sehnsucht, Freude oder Trauer, die sie nicht zuordnen konnte. Manchmal verblassten diese Nachklänge sofort wieder. Häufig wurden die Traumeindrücke jedoch dermaßen aufdringlich, dass Nyx am liebsten aus ihrer eigenen Haut gekrochen wäre.
Das war nicht immer so gewesen. Früher waren die Träume anderer Menschen durch sie hindurchgeglitten wie Wolken über den Himmel. Doch je älter sie wurde, umso hartnäckiger verankerten sich die Stimmungen der Träumenden in ihrem Kopf.
Das war mit ein Grund, warum sie ihre Fähigkeit, Träume wahrzunehmen, unterdrückte. Mitunter fiel es ihr schon schwer genug, mit ihren eigenen Gedanken klarzukommen. Das Gewicht fremder Gefühle wurde auf Dauer zu schwer, als dass sie es hätte alleine tragen können.
Das Ganze hatte seinen Zenit erreicht, als sie mit James in die Stadt gezogen war. Vielleicht lag es an der Masse an Menschen, die hier lebten. Vielleicht daran, dass Nyx vom Sprung in dieses neue Leben überwältigt gewesen war. Doch egal, welche Auslöser es gegeben hatte, nach ein paar Wochen konnte sie den Ansturm weder abwehren noch aushalten. Zum ersten Mal hatte es sich so angefühlt, als würden sich die Träume anderer in einen Mahlstrom in ihrem Kopf verwandeln.
Da hatte sie zum ersten Mal einen Bleistift genommen und die Gefühlsformen und Schattierungen in ihrem Kopf auf Papier gebannt. Auf viel Papier. Bis sie das Gefühl hatte, dem, was in ihr toste, eine einigermaßen passende Form verliehen zu haben. Gelang ihr das, verschwanden die Traumreste wie Kaffeesatz im Spülbecken.
Das Zeichnen wurde ihr Ventil, doch Bleistifte funktionierten als Werkzeug nur mäßig. Sie brauchte Farbe. Sie brauchte Leinwände, die größer waren als ein schlichter Skizzenblock.
Sie hatte mit Keilrahmen begonnen, aber auch die gaben ihr als Grundlage nicht genügend Freiraum. Eines Abends hatte sie auf der Dachterrasse gesessen und das Nachbarhaus betrachtet. Das Gebäude nebenan war ein Stockwerk höher, und beim Anblick seiner blanken Backsteinmauer war in Nyx der Wunsch nach einem Pinsel erwacht.
Ein paar Tage später hatte sie mit Freya und den Nachbarinnen auf dem Dach zu Abend gegessen. Sie waren bereits alle satt, als Nyx fragte, ob sie die Wand bemalen durfte.
Freyas Antwort war typisch für sie ausgefallen.
Schätzchen, sieh dich um. Du bist im perfekten Stadtteil dafür. Tob dich aus. Also hatte Nyx ihr eigenes Wandgemälde inmitten der Graffiti- und Collagenkunst gemalt, die die Häuser der Hanbury Lane schmückten.
Seitdem war das ursprüngliche Gemälde ein dutzend Mal weiß überstrichen und neu von ihr gemalt worden. Es ging ihr nicht darum, etwas Permanentes zu schaffen. Sie wollte die Traumnachklänge an einen Raum außerhalb ihres Kopfes entlassen, das war alles.
Nyx runzelte die Stirn, als sie sich an den winzigen Frosch erinnerte. Zwei Monate lang hatte sich kein Traum in ihrer Nähe manifestiert. Sie war sich immer noch nicht zu hundert Prozent sicher, warum Albträume in ihrem Orbit als Frösche auftauchten, selbst wenn sie sie nicht dazu animierte. Der Verdacht lag jedoch nahe, dass es immer dann passierte, wenn ihr die alltägliche Welt zu viel und ihre Sehnsucht nach der Nacht zu stark wurde.
Diese Sehnsucht begleitete sie schon, solange sie denken konnte. Genauso wie der siebte Sinn, dem sie ihre besonderen Talente verdankte. Jener Nachtsinn, wie Nyx ihn nannte, erlaubte es ihr, Träume zu spüren, und brachte sie gleichzeitig dazu, unsichtbare Gespinste in greifbare Gestalten zu verwandeln.
Im Haus ihrer Adoptivmutter lernte Nyx, ihre angeborenen Fähigkeiten zu kontrollieren. Solange sie sich im Griff hatte, manifestierten sich die Träume anderer nur, wenn sie es bewusst darauf anlegte. Wenn sie ihren Nachtsinn ausstreckte wie die dünnen, durchsichtigen Tentakel einer Qualle.
Geh vorsichtig mit deinen Fähigkeiten um, hatte Diane sie gemahnt. Je häufiger du sie einsetzt, umso größer wird die Gefahr, dass dich jemand erwischt. Ganz abgesehen davon, dass du mit dem Einsatz deines Talents Kräften die Tür öffnest, die du womöglich nicht beherrschen kannst.
Überschätz dich nicht. Die Warnung lag wie ein bitterer Orangenkern unter Nyx’ Zunge. Trotzdem bemühte sie sich, verantwortungsvoll zu bleiben. Sie verbot sich, Träume anzulocken, und hielt die Tür zur Nacht so lange verschlossen, wie sie es aushielt. So lange, bis die Sehnsucht in ihrem Blut zu laut summte. Dann wirkte ihr Nachtsinn ohne ihr Zutun, und plötzlich sangen Träume in ihrer Nähe wie Sirenen und baten darum, nach Hause gebracht zu werden.
Zwei Monate. Nyx hatte wirklich geglaubt, dass sie ihre Zwänge mittlerweile besser unter Kontrolle hatte. Ihre Routinen halfen: die Arbeit im Buchladen, ihre Freundschaft mit Freya, der Austausch mit dem Buchclub und ihre Streifzüge durch die Stadt. Es lief alles gut, oder nicht? Es gab keinen Grund, weshalb sich ihr Nachtsinn verselbständigen sollte.
Sicher, manchmal wurde sie melancholisch. Dann hatte sie das Gefühl, dass es in ihrem Leben zu viele Leerstellen gab. Sie vermisste ihre Brüder, vermisste ihre mitternächtlichen Picknicks und Filmabende. Sie dachte darüber nach, die Reise nach Kyoto anzugehen, die sie ursprünglich mit James und Leon geplant hatte, fühlte sich jedoch schon bei der Vorstellung, Flugverbindungen auszusuchen, unsagbar müde. Sie zog die Postkarte hervor, die ihr Vater ihrer Mutter geschrieben hatte. Obwohl sie die Botschaft auf der Rückseite auswendig kannte, las sie die englischen Beschreibungen seiner griechischen Heimatinsel und die japanischen Koseworte, die Nyx’ Mutter ihm beigebracht hatte. Sie hatten sich in Oxford kennengelernt, zwei Jahre zusammengelebt und ein Kind bekommen, bevor sie mit einem Abstand von nur einem Jahr starben. Nyx hatte kein Foto von ihnen, und wenn sie die Postkarte in der Hand hielt, erschien ihr das als unerträglicher Verlust.
Aber Stimmungstiefs gehörten zum Alltag. Und Nyx hatte nicht das Gefühl, dass sie in der letzten Zeit besonders aufgewühlt oder unzufrieden gewesen war.
Also warum heute? Wenn es einen Auslöser gegeben hatte, konnte sie ihn nicht erkennen. Was eine beunruhigende Entwicklung war.
Sie atmete tief aus. Die erste Lage aus Farben an der Wand hatte den Wirbel des Traumechos beruhigt, doch ihr Kopf summte immer noch vor Unruhe und einem vagen Gefühl der Bedrohung, das nicht ihr eigenes war. Zumindest glaubte sie das nicht. Sie strich mit der Hand über die Matratze, atmete tief ein und versuchte, sich zu erden.
Blau, raunten ihre Gedanken. Blau und Silberweiß. Etwas kommt. Es ist fast da.
Nyx blinzelte, setzte sich auf und griff nach einer der Spraydosen, die sie neben der Matratze aufgereiht hatte. Sie stand auf und ging zu ihrem Gemälde. Mit jedem Schritt verblasste die Welt um sie herum, bis sie nur noch die Wirbel aus Blautönen sah und das Rauschen des Vortex in ihrem Innern spürte.
Sie berührte die Wand mit den Fingerspitzen. Die Farbe war noch leicht feucht. Besser wäre es, noch eine Stunde zu warten. Das Rauschen wurde jedoch mit jeder Sekunde lauter und eindringlicher.
Etwas kommt. Etwas beginnt. Es hat begonnen.
Nyx schüttelte die Sprühdose und sprühte die Form auf die Wand, die durch ihre Fingerspitzen entkommen wollte. Weiße, schimmernde Punkte, angeordnet in sanften Kurven und Linien. Sie nahm nicht wirklich wahr, was sie malte. Ihr Blick wurde unscharf, hing an dem unruhigen Hintergrund und den Schatten, die sich darin wanden. Wie Tinte. Oder Abgründe, die sich öffneten.
Nyx sprühte den letzten Strich und ließ die Sprühdose fallen. Die Unruhe, die von ihr Besitz ergriffen hatte, flaute ab, löste sich auf und verschwand. Zurück blieb Stille. Sie schloss erneut die Augen, fuhr mit beiden Händen über ihren Kopf und verschränkte die Finger im Nacken. Ein kühler Wind kräuselte sich über das Dach, und die Lichterketten, die zwischen den Holzpfeilern der Pergola hingen, klapperten leise.
Die Welt stabilisierte sich, und Nyx war wieder allein in ihrem eigenen Kopf. Sie seufzte, dann trat sie einen Schritt zurück und sah sich an, was sie auf die Wand gesprüht hatte.
Was …
Mit einem Stirnrunzeln entfernte sie sich zwei weitere Schritte, um die Form vor sich besser sehen zu können. War das ein Mensch? Die Sprühfarbe verlief auf dem feuchten Untergrund, aber ja: Ein Dutzend weißer Punkte formte den Umriss einer menschlichen Gestalt. Kopf, Schultern, Arme, Torso, der Rest eines schlanken Körpers und zwei Beine.
Irritiert starrte Nyx auf das Graffito. Etwas an diesem Bild fühlte sich seltsam an. Der Kontrast zwischen dem dunklen Hintergrund und den hellen Flecken wirkte beinahe hypnotisch. Je länger Nyx hinsah, umso heller strahlte das Weiß, bis die Silhouette geradezu leuchtete.
Sieht aus wie fallende Sterne. Der Gedanke jagte eine Gänsehaut über Nyx’ Arme. Plötzlich hatte sie das unheimliche Gefühl, als ob sie die Gestalt vor ihr schon einmal gesehen hatte. Als ob sie sie wiederkennen müsste.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, die Gänsehaut kroch hoch zu ihren Schultern, dann kräuselte sich die Farbe an der Wand, und die Gestalt kam auf Nyx zu. Schritt um Schritt kam sie näher, und es sah aus, als würde sich die Nacht hinter ihr ausbreiten, weiter und tiefer und –
Erschrocken sog Nyx die Luft ein. Der Sternenumriss streckte die Hand nach ihr aus. Sie stolperte zurück, prallte gegen die Holzpalette und stürzte rücklings auf die Matratze.
Mit rasendem Herzen rappelte sie sich wieder hoch. Sie starrte auf die Wand vor sich, aber das Grafitto war nun nichts weiter als ein Gemälde.