James

Die Dunkelheit verflog, als James und das Mädchen das Ende einer Häuserflucht erreichten und auf die High Holborn Street hinausliefen. Das orangefarbene Licht mehrerer Laternen erhellte den Asphalt. Autos rollten über die Straße, und Passanten strömten um James herum wie Wasser um einen lästigen Felsen.

»Was zum …«, setzte das Mädchen an, aber James schüttelte nur knapp den Kopf. Ihm war immer noch schwindelig, und das beunruhigte ihn. Ipek hatte ihn zwar gewarnt, dass die Benutzung des Siegels einen Tribut fordern würde, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass es ihn derart auslaugen würde. Keine gute Voraussetzung für das, was Diane und er mit dem Siegel vorhatten.

Er schloss die Augen und versuchte, nach ihrem Verfolger zu tasten. Doch sein siebter Sinn blieb merkwürdig stumpf, und alles, was er wahrnahm, waren die Gerüche und Geräusche um ihn herum. Kein warnendes Stechen auf seiner Haut. Kein Prickeln im Nacken. Hieß das, sie hatten den Tagboten abgeschüttelt? Oder war James nur zu ausgebrannt, um ihn zu spüren?

Er öffnete die Augen und spähte angespannt zwischen die Häuser. Die Gasse, aus der sie gekommen waren, blieb leer. Es schien, als wären sie mit dem Schrecken davongekommen. Vorerst.

James erlaubte sich, tief durchzuatmen. Die junge Frau stand immer noch neben ihm und starrte ihn an, als wäre er eben aus einem Raumschiff gestiegen.

Sie stieß sie beiseite. »Fass mich nicht an«, zischte sie. Sie zitterte immer noch, aber ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Was war das eben? Was zur Hölle war das? Wer bist du?«

James hob beschwichtigend die Hände. »Das lässt sich nicht so leicht erklären.«

Sie starrte ihn an. »Willst du mich verarschen? Du hast mich aus der Luft gezerrt, durch eine lokale Dunkelheit geschleift, und deine einzige Antwort ist: Es ist kompliziert?«

James stieß ein überraschtes Lachen aus. »Ja. Ich weiß, wie das klingt.« Er seufzte und sah auf die Handfläche, an der die Schmauchspuren seines zerstörten Handys klebten. Seine Haut brannte, als hätte er damit über einen Stahlschwamm gerieben.

»Okay«, murmelte er, dann wiederholte er es mit festerer Stimme und sah das Mädchen an. »Okay, fangen wir von vorne an. Ich heiße James.«

Sie zögerte, dann sagte sie: »Erin.«

»Erin.« James rieb sich die rußverschmierte Hand an der Jacke ab. »Wenn ich dir ein Taxi rufe, schaffst du es dann allein nach Hause?«

Sie stieß ein Schnauben aus. »Dein Ernst? Ich gehe nirgendwohin, bevor du mir erklärst, was da eben passiert ist.«

»Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, du bist besser dran, wenn ich dir das nicht beantworte?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Braue.

James seufzte. »Habe ich mir gedacht.« Es sollte ihn nicht überraschen, dass sie hartnäckig blieb. An ihrer Stelle würde er auch nicht nachgeben. Dennoch wäre es schön gewesen, wenn sie einfach zurück in ihr gewohntes Leben verschwinden würde. Dann hätte sie irgendwann wieder ruhig schlafen können, und er hätte ein Problem weniger in seinem ohnehin schon schweren Gepäck.

Erin beobachtete ihn misstrauisch. »Das soll heißen?«

Das soll heißen, zu dir oder zu mir, dachte James und verbiss sich ein Lachen. Wenn er unter Stress stand, riss er schlechte Witze. Er war sich ziemlich sicher, dass Erin diesen Bewältigungsmechanismus nicht begrüßen würde.

»Das soll heißen, dass wir einen Ort brauchen, an dem uns der Tag … der Typ nicht findet.« Kurz dachte er an sein Zimmer in der Neal Street, doch diese Option verwarf er sofort. Wenn der Orden des Ersten Tages wusste, wer er war, dann kannten sie womöglich auch seine aktuelle Adresse. Es würde James nicht wundern, wenn sie ihm bereits seit seiner Ankunft in Heathrow an den Hacken klebten.

Wenn dem so war, würde er sich von Diane so einiges anhören müssen.

»Ich kann dich nach Hause bringen, wenn du möchtest«, schlug er Erin vor.

Sie schien darüber nachzudenken, doch dann sog sie scharf die Luft ein, und irgendeine Erkenntnis ließ ihr Gesicht noch blasser werden.

»Keine gute Idee«, antwortete sie.

Er runzelte die Stirn. »Wieso?«

Erin sah zurück zu der Seitenstraße, aus der sie geflohen waren. »Ich habe meine Tasche fallen gelassen, als … bevor du aufgetaucht bist. Wenn der Typ sie mitgenommen hat, hat er meine Adresse. Shit.« Sie schloss die Augen. »Da ist alles drin. Mein Handy, mein Geldbeutel. Mein Laptop!« Wenn sie die Finger noch fester in ihre eigenen Unterarme grub, würde sie sich blaue Flecken verpassen.

James konnte ihre Verunsicherung sehr gut nachempfinden. Und er war sich ziemlich sicher, dass sie der Schock erst

Er konnte sie wirklich nicht alleine lassen, oder? Besonders dann nicht, wenn der Ordensagent wusste, wo sie wohnte. James schwankte, schloss erneut die Augen und presste sich den Daumen zwischen die Brauen. Hatte der Agent es wirklich auch auf Erin abgesehen?

Die Fragen in seinem Kopf kreisten wie ein knirschendes Mahlwerk. Er brauchte Ruhe. Einen Moment, um all das zu sortieren, was in der letzten knappen halben Stunde passiert war.

Du hast einen Menschen vor dem Chaoszerfall gerettet. Es hat tatsächlich funktioniert.

Er spürte, wie seine eigenen Knie nachgeben wollten. So viel zu verzögerter Schockreaktion.

Als er die Augen öffnete, starrte Erin mit verkniffenem Mund ins Leere. Wieder spürte er eine Woge des Mitgefühls. Was auch immer er gerade durchmachte, für sie musste das alles viel erschreckender sein.

»Hey«, sagte er. »Ich weiß, es kommt dir gerade nicht so vor, aber du hast das Schlimmste überstanden. Und den Rest bringen wir auch in Ordnung. Aber zuerst müssen wir irgendwohin, wo wir sicher sind.«

Sie schlang die Arme noch enger um sich, aber ihre Stimme blieb fest. »Wo soll das sein?«

James spähte die Straße hinunter. Wenn er an einen sicheren Ort in London dachte, gab es genau eine Adresse, die ihm einfiel.

Wundervoll. Als ob diese Nacht nicht schon abgefuckt genug wäre.

»Whitechapel«, sagte er und hob den Arm, um ein Taxi anzuhalten.