James

Das Taxi brachte James und Erin zur East-London-Moschee. Nur wenige Gassen weiter befand sich eine alte Jeans-Fabrik, die zu einem Wohnungskomplex umgebaut worden war. Alles sehr hipsterschick, mit Wänden aus rotem Backstein und blauen Fensterrahmen. Dass die Wohnungen winzig und überteuert waren, stand außer Frage.

James klingelte, während Erin nervös an ihrer Unterlippe kaute. Es dauerte ein paar Minuten, dann knackte die Gegensprechanlage, und eine vertraute Stimme fragte: »Ja?«

James schloss kurz die Augen. »Sami, ich bin es.«

Stille. James überlegte schon, wo sie einen anderen Unterschlupf finden konnten, dann summte der Türöffner.

Augen zu und durch, dachte er, drückte die Tür auf und ging die Treppe hinauf in den ersten Stock.

Sami lehnte in der offenen Tür seiner Wohnung, die Arme vor der Brust verschränkt. Scheinbar hatten sie ihn aus dem Bett oder von der Couch heruntergeklingelt. Er trug bereits Pyjamahosen, ein abgetragenes T-Shirt, und die Haare fielen ihm lose bis auf die Schultern.

Als James am oberen Ende der Treppe ankam, musterte Sami ihn von Kopf bis Fuß.

»Das ist ein Witz, oder?«, fragte er.

Schön wär’s, dachte James. Laut sagte er. »Wir brauchen deine Hilfe.«

Sami presste die Lippen aufeinander, dann glitt sein Blick zu Erin. James konnte förmlich spüren, wie Sami mit sich rang,

Kurz darauf standen James und Sami in der kleinen Küchenzeile neben dem Wohnbereich. Erin hatte sich für ein paar Minuten ins Bad zurückgezogen.

Die Küchenecke lag nahezu im Dunkeln. Sami hatte nur die kleinen, honiggelben Leuchten unter den Hängeschränken angeschaltet, und James war dankbar dafür. Während Sami Tee aufsetzte, schickte er über dessen Handy rasch eine E-Mail an Diane. Bin okay. Handy kaputt. Melde mich morgen.

Nicht gerade informativ, aber momentan fehlte ihm die Kraft, um die Ereignisse des heutigen Abends zu schildern. Seine Knie fühlten sich immer noch weich an, und seine Hände zitterten. Dennoch hatte er das Gefühl, wieder freier durchatmen zu können.

Er legte das Handy auf die Arbeitsfläche und sah zu, wie Sami drei Tassen aus einem Regal holte. Ein Jahr war es her, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Weder die Wohnung noch Sami hatten sich groß verändert. Er trug seinen Bart immer noch kurz und die Haare lang. Am Handgelenk entdeckte James das Lederarmband mit der Nazar-Perle, das seine kleine Schwester ihm geschickt hatte.

»Mirabell nicht da?«, erkundigte sich James nach Samis Mitbewohnerin.

»Besucht ihre Familie«, antwortete Sami knapp. Die Haare hatte er sich inzwischen zu einem Knoten hochgebunden. »Seit wann bist du zurück?«

»Seit –«, James sah auf seine Uhr, »fünf Stunden.«

»Und direkt in Schwierigkeiten geraten«, murmelte Sami. »Ein neuer Rekord?«

»So, wie mein Leben abläuft?«, brummte James. »Nicht

Der warf Teebeutel in die Tassen. »Das Mädchen«, fragte er. »Ist sie eine von euch?«

James schüttelte den Kopf. »Ahnungslose Zivilistin.«

»Das heißt, sie hatte heute ziemlich Pech?«

»Du machst dir keine Vorstellung.«

Sami warf einen Blick auf die geschlossene Badezimmertür. »Wie viel wirst du ihr erzählen?«

»Ich bin mir nicht sicher«, gestand James. Er hatte nicht gelogen, als er versucht hatte, sie nach Hause zu schicken. Je mehr Erin über seine Welt wusste, umso gefährlicher würde es für sie werden. Falls der Orden jedoch tatsächlich hinter ihr her war, hatte sie keine andere Wahl, als tiefer in den Kaninchenbau zu klettern. Und vielleicht konnte James ihr genug Informationen geben, damit sie sich selbst schützen konnte.

Was nicht hieß, dass er alle Antworten besaß. Im Gegenteil. Je länger er darüber nachdachte, umso mehr irritierte es ihn, dass der Agent Erin nicht gehen lassen wollte. Welches Interesse hatte der Orden an ihr? Sicher, wenn der Chaoszerfall in Erin noch weiter vorangeschritten wäre, hätte der Orden alles darangesetzt, um sie verschwinden zu lassen. Aber James hatte die Chaosenergie aus Erin herausgezogen. War das dem Agenten entgangen? Oder war es ihm egal?

Konnte es sein, dass die Berührung durch das Chaos irgendwelche Nachwirkungen auf Erin haben würde?

Verdammt. Auf diesen Gedanken hätte er schon früher kommen müssen. James stützte sich mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte ab, als ihm langsam, aber sicher blühte, wie groß der Schlamassel war, in dem er steckte.

James lachte trocken, aber er nickte. Samis Hand befand sich nicht weit von seiner entfernt. Kurz stellte er sich vor, wie er seinen kleinen Finger über den von Sami hakte.

Er berührte ihn nicht. So war es sicherer. Besonders für Sami.

Starke Behauptung, stichelte seine innere Stimme. Vor allem weil du beim ersten Anzeichen von Gefahr zu ihm gerannt bist.

James schüttelte den Kopf über sich selbst. Er besaß wirklich die schlechte Angewohnheit, sein Leben komplizierter zu machen, als es sein müsste.

Ich bin ein wandelndes Bi-saster, hatte er Leon vor Jahren anvertraut, nachdem er sich bei einem Versuch zu flirten ordentlich blamiert hatte.

Das wird in Zukunft noch viel krasser, hatte Leon mit einem Grinsen prophezeit. Ich freu mich jetzt schon drauf!

James lächelte traurig. Ja, wahrscheinlich hätte Leon James’ Beziehungschaos ohne Ende amüsiert.