Kapitel 5
Vivien blickte noch einmal über die Frauen, die es sich auf den bunt durcheinander gewürfelten Stühlen und Hockern bequem gemacht hatten. Auf den Schränken und Regalen vor ihnen standen verschiedene Pinsel und Aquarellfarben. Sie hatte absichtlich die Aquarellfarben als Tuben und Farbtöpfchen bereitgestellt, damit sie ihren Kurs-Teilnehmerinnen die unterschiedliche Handhabung direkt zeigen konnte. Auch das raue Aquarellpapier durfte natürlich nicht fehlen. Sie war verdammt aufgeregt, denn es war ihr erster Kurs. Sie wusste, dass sie malen konnte, doch es war ein seltsames Gefühl es vor anderen zu tun und es ihnen zu zeigen. Die meisten von den Frauen, die gekommen waren, kannte sie, einige nur über mehrere Ecken, doch Vivien dachte, dass das genau richtig für einen Testlauf ihres Kursangebotes war.
Für heute stand eine einfache Szene mit Sonnenuntergang auf dem Plan. Das ging erstens ganz leicht und zweitens schnell. Es war Vivien wichtig, dass sie den Kursteilnehmern ein gutes Gefühl und ein gelungenes Werk mitgeben würde, deshalb hatte sie sich für ein Motiv entschieden, das wenig Feingefühl brauchte und mit dem sie dennoch die verschiedenen Techniken der Aquarellmalerei erklären konnte.
Sie reichte den Stapel Aquarellblätter der Dame, die ihr am nächsten saß. Gerade als jede Teilnehmerin ein Blatt vor sich liegen hatte, ging die Tür auf. Da das Glöckchen noch immer nicht wieder über der Tür hing, bemerkte Vivien die Nachzüglerin erst, als diese mit entschuldigendem Blick vor ihr stand.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Emmy. »Ich wollte pünktlich sein, aber du weißt ja, wenn man es eilig hat, dauert alles ewig.«
Vivien lächelte. »Ach was, kein Problem.« Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Emmy war wirklich eine wunderbare Freundin. Sie wusste, dass die Blondine, die gerade auf einem der freien Hocker Platz nahm, kaum etwas mit Kunst am Hut hatte - wenn man von ihrem Partner absah, der Künstler war. Dass Emily sich dennoch die Zeit nahm, um bei Viviens Premiere als Kursleiterin dabei zu sein, rechnete sie ihr hoch an.
Sie gab der Blonden ein Aquarellblatt und deutete auf die Kreppbandrollen die auf dem Tisch lagen.
»Wir beginnen damit, unser Papier am Tisch festzukleben. Da wir in der ersten Runde mit viel Wasser arbeiten, hilft uns das, das Wellen des Papieres zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Versucht das Kreppband möglichst gerade zu befestigen.« Sie ergriff eine der Rollen und machte es ihren Schülerinnen vor.
Sobald das erledigt war, tauchte sie einen der größeren Pinsel ins Wasser. »Wir beginnen mit der Nass in Nass Technik.« In einer schwungvollen Bewegung befeuchtete Vivien das ganze Blatt. »Davon redet man, wenn man die Farbe auf das feuchte Papier aufträgt.« Sie zog mit einem dunklen Lila-Ton einen breiten Streifen. Die Farbe vermischte sich mit dem Wasser und nahm an Intensität ab. Darunter fügte sie noch ein sanftes Pink und Orange hinzu.
»Bei diesem Bild ist es wichtig, die Übergänge zu verstreichen.« Längst hatte Vivien zu einem schmaleren Pinsel gegriffen, mit dem sie die Übergänge ineinander verwirbelte. »Wenn wir in den Abendhimmel sehen, finden wir auch keine harten Kanten, deshalb versuchen wir, diese hier zu vermeiden.«
Sie blickte in die Runde. »Und jetzt seit ihr dran!« Vivien machte eine ausladende Handbewegung. Emmy war die erste, die zögerlich nach einem Pinsel griff.
»Bitte bedient euch an allem, was hier auf dem Tisch steht«, verdeutlichte Vivien nochmals. Sie holte tief Luft und legte ihren Pinsel ab. Erst jetzt bemerkte sie, wie sich ihre Finger um den Holzgriff verkrampft hatten.
Langsam begannen die Frauen sich mit den Utensilien vertraut zu machen. Pinsel wanderten durch junge und alte Hände, die Farben wurden mit Wasser benetzt, um sie benutzbar zu machen. Die Stille im Laden wurde nach wenigen Sekunden durch das Geschnatter und Lachen der Kundinnen vertrieben. Vivien musste daran denken, wie sehr sich ihre Großmutter darüber gefreut hätte, ihren Laden so voller Leben zu sehen.
Die ersten zaghaften Pinselstriche wurden aufs Papier gezaubert und Vivien lief an den Frauen vorbei, bereit zu helfen, falls trotz des einfachen Themas jemand Probleme hatte. Als alle so weit waren, trat sie wieder nach hinten zu einem der Tische. »Das sieht schon super aus! Der wichtigste Schritt ist jetzt, die Aquarellfarben ordentlich trocknen zu lassen!« Sie demonstrierte auf einem zweiten Blatt des festen Papiers wie die Farben ineinander liefen, wenn man zu ungeduldig war. Sie selbst hatte ewig gebraucht, um das zu verinnerlichen, doch mittlerweile hatte sie ihre Ungeduld zumindest in dieser Hinsicht recht gut im Griff. Sie legte den Pinsel beiseite.
»Dieser Effekt kann zwar manchmal erwünscht sein, da wir jedoch gleich Häuser malen, brauchen wir klare Kanten. Deshalb wartet lieber etwas länger als zu wenig oder föhnt euer Bild vorsichtig trocken.«
Ihr Bild war vollkommen trocken, weshalb sie dieses Mal einen dünnen Pinsel ergriff. »Diesen Teil kann man auch mit einem Fineliner machen«, erklärte sie und benetzte die feinen Haare des Pinsels mit Farbe. »Aber es ist eine gute Übung für dünne Pinselstriche. Sie begann sorgsam damit die Umrisse von Hochhäusern über den unteren Teil des Blattes zu zeichnen. »Überlegt euch, was es alles in der Stadt gibt. Antennen, Stromleitungen. Manche Häuser haben Balkone …« Ihre Stimme wurde leiser und nach einem kurzen Moment blendete sie alles um sich herum aus. Strich um Strich landete auf dem getrockneten Abendhimmel, immer mehr dunkle Farbe kam dazu. Eine Stimme in Viviens Kopf erklang. Sie blinzelte. Vor ihren Augen verschwamm das Bild. Ihre Finger schmerzten, fest umklammerte sie den Pinsel, als wäre es ihr letzter Halt in der Realität. Ihre Hand begann sich zu bewegen, dippte die Borsten in die dunkelgrüne Farbe, dann die schwarze. Immer mehr verliefen die Farben ineinander, bildeten einen finsteren Strudel. Vivien hörte um sich herum das verwirrte Raunen der Frauen, doch ihre gesamte Konzentration lag auf dem Bild vor sich. Sie konnte nicht anders und musste weitermalen. Mehr dunkle Farbe, mehr Pinselstriche auf dem ohnehin schon übersättigten Blatt.
Plötzlich fiel die Konzentration von Vivien ab. Mitten in der Bewegung erstarrte sie und hob den Kopf. Die Frauen um sie herum starrten sie an und für einen Moment glotzte sie zurück.
Ihr Blick senkte sich und fiel auf das Bild. Von dem Abendhimmel, den sie gemalt hatte, war jetzt kaum noch etwas zu erkennen. Stattdessen war auf dem Aquarellpapier eine Art Strudel oder Grube zu erkennen. Um die Grube herum leuchteten dunkelrote Blütenblätter auf dunklem Gras. Das Gruseligste an dem Bild waren die Augen. Aus dem Erdloch blickten blutrote Augen heraus. Vivien schluckte. Sie wusste nicht, was eben geschehen war.
»Alles okay?« Emmy beugte sich etwas über den Tisch und legte ihre Hand auf ihren Unterarm. Sie nickte schnell.
»Ja. Es tut mir Leid«, begann sie und legte den Pinsel beiseite. Sie straffte die Schultern und sah dann die Frauen an. Ihr war nicht nach lächeln, doch sie setzte ein schiefes Grinsen auf. »Da ist wohl meine Kreativität mit mir durchgegangen.« Sie spürte die Hitze in ihren Wangen. Das war so verdammt peinlich! Ihr erster Kurs und dann so etwas?! Sie räusperte sich. »Ich trinke kurz etwas und dann zeige ich euch noch einmal das richtige Motiv.«
Sie ließ den Tisch fluchtartig hinter sich und ergriff im Hinterzimmer eine Wasserflasche. Dieses Bild. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete durch. Noch immer war ihr, als würden der Blick aus blutroten Augen auf ihr liegen.
»Hey. Ist wirklich alles okay?« Emily stand an der Tür. Vivien drehte sich um und nickte. »Klar. Alles gut. Das eben … war einfach nur unerwartet.«
Was hatte es mit dieser Grube auf sich?
***
Grheys Stiefel bohrten sich in den Matsch. Feuchte Blätter blieben an der Sohle kleben, doch er stapfte weiter. Wo hatte dieses Biest sich versteckt? Nur wenige Minuten zuvor hatte er einen kurzen Blick auf das Wesen erhaschen können. Seitdem er sie erblickt hatte, war er sich sicher, dass das Wesen nur eine Dämonin sein konnte. Ihre gesamte Ausstrahlung brachte die Luft zum Sirren und es war ihm unverständlich, wie er das nicht hatte früher bemerken können. Er lief weiter, blieb achtsam. Vielleicht versuchte die Dämonin, ihn in eine Falle zu locken. Hatte die Hölle sie ausgeschickt, um nach ihm zu suchen?
Er schnaubte. Wahrscheinlich erinnerte sich dort unten ohnehin niemand mehr an ihn. Das war auch erstmal ganz gut so.
Hinter ihm knackten trockene Zweige, das Geräusch erinnerte ihn an das prasselnde Feuer in den Tiefen der Hölle. Er fuhr herum.
Sie stand vor ihm. Die langen, dunklen Haare fielen ihr bis zur Hüfte. Sie hatte zarte Gesichtszüge und ihre gesamte Statur wirkte sehr filigran, einer schwarzhaarigen Elfe gleich. Doch ein Blick in ihre dunkelroten Augen verriet, dass das alles nur Show war. Dieses Wesen war alles andere als hilflos.
Die Dämonin hob mit den Händen ihren weiten, schwarzen Mantel an, der aussah, als wäre er ihr 5 Nummern zu groß, und machte einen verspielten Knicks.
»Womit habe ich deinen Besuch verdient, Dämon?«
Er unterdrückte ein weiteres Schnauben und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du entführst Menschen aus der Stadt«, stellte er fest. Er war garantiert nicht auf Smalltalk aus.
»Entführen?« Sie ließ den Stoff des Mantels wieder sinken. Langsam legte sie den Kopf schief. »Diese Männer sind freiwillig zu mir gekommen. So wie du.« Sie lächelte, doch in ihrem Gesicht fand sich nicht die kleinste Spur Liebenswürdigkeit. Grhey schüttelte den Kopf. »Du musst damit aufhören. Das ist mein Gebiet.« Er machte mit den Armen eine ausladende Bewegung, um das zu verdeutlichen.
»Dein Gebiet?« Sie lachte auf. »Ich bin schon so viel länger als du in diesem Wald zuhause. Mein Name ist Leyhla.« Sie hob eine Hand noch oben. »Wachse«, sagte sie in der alten Sprache der Dämonen. Für einen Moment erstarrte Grhey. Diese Sprache war so alt, dass es kaum noch Dämonen gab, die sie benutzten. Das bedeutete …
Ranken brachen aus dem Boden hervor. Sie wollten sich um Grheys Knöchel wickeln, doch es gelang ihm rechtzeitig zur Seite zu springen. Leyhla, wie die Dämonin sich eben vorgestellt hatte, musste noch geschwächt sein. Und das war seine einzige Chance. Dass er nicht auf der Höhe seiner Existenz war, wusste er, schon lange hatte er keine Seele mehr genutzt, um seine Macht zu stärken. Doch er konnte nicht zulassen, dass die Dämonin sich weiter durch Frost Creeks Bewohner nährte und damit an Kraft gewann. Nein! Das war zu gefährlich für Vivien. Ein besseres Wesen als er, hätte sich vielleicht noch um die anderen Einwohner Sorgen gemacht, doch um ehrlich zu sein, nein. Es war ihm wichtig, dass Vivien in Sicherheit war. Und diese mysteriöse Dämonin sorgte aktuell dafür, dass dem nicht so war.
»Ach, Grhey«, säuselte Leyhla. Woher wusste sie seinen Namen? Plötzlich verschwand sie aus seinem Sichtfeld und er spürte sie hinter sich. Grhey ließ sich zu Boden fallen. Kleine Äste und grobe Steine drückten sich in seinen Rücken, als er sich beiseite rollte, um ihrem Griff auszuweichen. Er presste die Lippen aufeinander und sprang auf.
»Du wirst verschwinden!«, knurrte er. »Diese Menschen stehen unter meinem Schutz!« Er konnte Leyhla verstehen. Sie war hungrig erwacht und es gierte sie danach, ihre Kräfte zurück zu erhalten. Dennoch konnte er das nicht zulassen!
Sie drehte sich um. Aus ihren langen Haaren rieselte Erde hinab, die noch aus ihrem Grab darin hing. Grhey schloss für einen kurzen Moment die Augen und konzentrierte sich. Er hatte seine Energie lange nicht ernsthaft genutzt, doch er spürte sofort das Feuer durch seinen Körper lodern. Er vollführte eine schwungvolle Bewegung, riss die Augen auf und ließ dann das Höllenfeuer auf Leyhla hinabregnen.
Die Dämonin schrie auf, es gelang ihr jedoch im letzten Moment, seinem Angriff auszuweichen. Sie drehte sich zu ihm, der Mantel flatterte um ihren schlanken Körper herum und aus ihrem Blick sprach nur drohendes Unheil.
»Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst, kleiner Dämon!«
Kleiner Dämon? Wollte sie ihn jetzt beleidigen, bis er weinend in die Hölle lief?
»Diese Stadt ist meine Heimat. Die Hexen haben mir dieses Zuhause genommen und mich die letzten Jahrzehnte in die Erde dieses Waldes gebannt, doch da die letzte Hexe des Covens gestorben ist … Bin ich wieder frei.« Sie hob die Arme nach oben und der Wind nahm zu, rauschte um sie beide herum und zerrte an seiner Kleidung und seinen halblangen Haaren.
Wow. Die Zeit unter der Erde schien dieser Dämonin echt nicht gut getan zu haben. Grhey nutzte den Moment, in dem Leyhla herumschwadronierte, und riss die Arme zu einem erneuten Angriff nach vorne.
Doch sie verschwand, ehe das prassende Feuer auf sie treffen konnte. Einzig ihr Kichern hallte noch durch den Wald, während Grhey sich hektisch umblickte und versuchte sie ein weiteres Mal zu finden.
Leyhla war weg, verdammt! Er war schwach geworden. Ein unwilliges Knurren entrang sich seiner Kehle. Wie hatte das passieren können?
Grhey blickte auf seine verkrampften Hände hinab und zwang sich dazu, sie wieder zu öffnen. Er musste die Dämonin aufhalten.
Obwohl er ein weiteres Mal quer durch den Wald gerannt war, hatte er die Dämonin nicht gefunden. Grhey war sich sicher, dass sie in irgendeiner dunklen Ecke lauerte und ihn bei seiner Suche beobachtet hatte. Für den heutigen Tag hatte er genug von ihr. Er lief durch die Straßen von Frost Creek. Kurz bevor er beim Soulspirit ankam, fiel ihm ein, dass Vivien heute ihren ersten Kurs gegeben hatte. Sicher hatte sie wenig Lust Abendessen zu kochen. Er tastete die Taschen seiner Jeans ab und stellte zufrieden fest, dass er sogar noch Geld einstecken hatte. Kurz darauf kehrte er mit einer dünnen Plastiktüte vom Diner ein paar Straßen weiter zurück zum Esoterik-Laden. Das Licht im Laden war bereits aus, doch als er versuchte die Tür zu öffnen, ging sie ohne Probleme auf. Er trat ein und sobald er im Verkaufsraum stand bemerkte er, dass im Hinterzimmer noch das Licht leuchtete. Er blickte an sich hinunter. Bis auf seine dreckigen Stiefel sah er noch ganz passabel aus. Mit dem Essen in der Hand lief er nach hinten. Das erste was er sah, war Vivien, die auf dem Sessel ihrer Großmutter saß und den Schreibtisch anstarrte.
»Hey, kleine Hexe, ich bin zuhause und hab Essen dabei.« Er hob die Tüte hoch, als wäre sie der Hauptgewinn in irgendeiner seltsamen Lotterie. Vivien schreckte auf und drehte sich zu ihm. Dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augen ausgebreitet.
»Was ist los?« Er ließ die Tüte wieder sinken. Der köstliche Duft des Essens breitete sich bereits im Raum aus.
»Mein Kurs war einfach nur ein Desaster.« Ihre Stimme klang so müde, dass er sie am liebsten direkt ins Bett gesteckt hätte. Er kam näher und stellte das Essen auf dem Schreibtisch ab.
»Ein Desaster? Das kann ich mir nur schwer vorstellen.« Er beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen, doch Vivien wich ihm aus. Wenn er ein Herz gehabt hätte, in diesem Moment wäre es zumindest für einige Sekunden versteinert. Das tat weh.
»Vivien? Was ist wirklich los?« Seine dunkle Stimme hallte durch den Raum, obwohl er leise gesprochen hatte. Sie zuckte mit den Schultern, hob dann aber den Blick.
»Ich glaube, ich werde verrückt«, sagte sie dann. Mit der Hand griff sie nach vorne und zog unter der Essenstüte ein Blatt hervor, dass Grhey zuvor nicht aufgefallen war.
»Verrückt?«, echote Grhey. Wie kam Vivien denn auf so eine dumme Idee?
Das Blatt, das sie ihm nun entgegen hielt, ergriff er und warf zunächst einen flüchtigen Blick darauf.
»Was ist das?«, fragte er schließlich betont langsam, ohne die Augen von dem Bild zu nehmen. Es kam ihm verdammt bekannt vor. Das tiefe Loch in der Erde, die blutroten Blüten der Herbstzeitlosen im Wald. Das war die Stelle, an der Leyhla aus der Erde gestiegen war. Allein der Anblick des Bildes ließ ihn den Geruch der modrigen, feuchten Erde noch einmal riechen und übertünchte den köstlichen Duft des Abendessens.
Vivien seufzte. »Ich weiß es nicht. Mitten im Kurs habe ich angefangen, das auf mein Blatt zu kritzeln und jetzt halten mich wahrscheinlich alle Teilnehmerinnen für irre.«
Das ungute Gefühl in Grheys Magen nahm zu. War das eine Warnung von Leyhla? Er legte das Blatt zurück auf den Tisch und ging neben dem Sessel in die Hocke. Seine Hand landete auf Viviens Schulter und er schob ihr in einer zärtlichen Berührung die blonden Haare dort zurück. »Mit dir ist alles in Ordnung. Vielleicht hast du jetzt einen Ruf als egozentrische Künstlerin, aber das kann für einen Esoterikladen, der Kunstkurse gibt, sicher nichts Negatives sein.« Viviens Kopf hob sich und sie blickte ihn aus ihren blauen Augen an.
»Vielleicht hast du Recht.«
»Vielleicht?« Er verzog das Gesicht und erhob sich dann. »Ich hab immer Recht.« Er zwinkerte ihr zu und deutete auf das Essen. »Ich verschreibe dir jetzt Abendessen und einen entspannten Abend.«
»Vielleicht solltest du vor dem entspannten Teil Duschen gehen.« Grhey spürte, wie Viviens Blick von seinen Füßen nach oben glitt. Auch seine Jeans hatte im Wald einige Flecken abbekommen. Er zuckte mit den Schultern. »Erst wichtige Dinge wie Essen und meine Liebste küssen.« Mit der Tüte in der Hand ging er nach oben. Er konnte spüren, wie Vivien ihm für einen Moment hinterherblickte, dann erhob sie sich und folgte ihm.