Esenshire

Geoffrey blätterte vergeblich in seinen Aufzeichnungen.

Verdammt, er hatte vergessen, Isabel Palmer nach dem Namen ihrer Freundin zu fragen. Es half alles nichts, er musste sich erneut mit ihr in Verbindung setzen. Dabei stand er vor dem nächsten Problem, denn Isabel Palmer hatte ihnen nicht mitgeteilt, wo oder wie sie zu erreichen sein würde. Das Haus war schließlich noch nicht wieder freigegeben worden.

Zähneknirschend wählte Geoffrey die Mobilfunknummer von Chief Inspector Taylor. Nach einigen Sekunden kam die Verbindung zustande, und Geoffrey hörte die angespannte Stimme seines Vorgesetzten.

»Verzeihen Sie die Störung, Sir, ich kann Mrs. Palmer nicht erreichen. Haben Sie eine Idee, wo sie sich aufhält?«

Taylor atmete mehrmals tief durch. Im Hintergrund hörte Geoffrey einen Mann etwas sagen, verstand aber nicht, worüber der sprach. »Fragen Sie Sam Palmer nach dem Namen der Freundin«, sagte Taylor schließlich leise. »Vielleicht hat er auch eine Ahnung, wo seine Frau sich jetzt befindet.«

»Ja, Sir. Danke, Sir.«

»Noch was, Holmes. Sagen Sie Hartman, er soll auch das Anwesen der Coopers auf den Kopf stellen.«

Geoffrey versprach, sich darum zu kümmern, und legte wieder auf. Es ärgerte ihn, dass er nicht allein darauf gekommen war, Sam Palmer zu fragen, wo seine Frau ihre Zeit verbrachte, wenn er sich mit seinen Freunden traf. Wenn er hier bestehen wollte, musste er künftig konzentrierter arbeiten. Er griff erneut zum Telefonhörer und veranlasste, dass Sam Palmer ihm für ein Gespräch zur Verfügung stand.

Eine halbe Stunde später traf Geoffrey im Besprechungsraum auf einen Tatverdächtigen, dem der Aufenthalt in einer Zelle deutlich anzumerken war.

»Wollen Sie mir mitteilen, dass ich endlich gehen kann, Constable?«, knurrte Palmer, als Geoffrey den Raum betrat.

»Nun, bisher gibt es keine Anhaltspunkte, die für Ihre Unschuld sprechen, Mr. Palmer. Ihre Frau hat ausgesagt, es hätte Streit mit Ian Cooper wegen der Schmuggelei von Whisky nach Schweden gegeben. Was können Sie uns dazu sagen?«

In dem Blick, den Palmer ihm zuwarf, lag gleichzeitig Unverständnis und Belustigung. »Ich kann diesen Dreck nicht mehr hören. Ian war mein bester Freund. Selbst wenn er getan hätte, was meine Frau ihm vorwirft, hätte ich zu ihm gehalten. Wenn das Ihr einziges Motiv ist, weshalb ich ihn hätte töten sollen …« Er brach ab und sah zum Fenster. Die Sonne stand tief und schien ihm direkt ins Gesicht. »Uns weshalb hätte ich Madeleine töten sollen? Weil sie Zeugin war, wie ich Ian getötet habe? Das ist doch alles lächerlich. Statt mich hier festzuhalten und mich an meiner Arbeit zu hindern, sollten Sie lieber nach dem Mörder meiner besten Freunde suchen.«

Palmer stand auf und stellte sich hinter seinen Stuhl. Geoffrey beobachtete ihn aufmerksam. Er glaubte dem Kaufhaustycoon und war versucht, ihm das auch zu sagen. Gleichzeitig wusste er, dass dies nicht der richtige Weg war, die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen zu belegen.

Er ertappte sich dabei, dass er seine Entscheidung, auf die Seite des Gesetzes zu treten, hinterfragte. Am liebsten würde er das Recht ohne die Grenzen umsetzen, die ihm als Polizist gesetzt wurden.

»Wissen Sie, wo sich Ihre Frau aufhalten könnte? Das Haus ist noch nicht wieder freigegeben, und sie hat uns leider nicht mitgeteilt, wo wir sie finden können. Außerdem müssen wir noch mit der Freundin Ihrer Frau Kontakt aufnehmen. Sie können uns doch sicher sagen, um wen es sich handelt, nicht wahr?« Geoffrey hatte seinen Notizblock aufgeschlagen und malte einige geometrische Figuren hinein.

»Anne Faraday. Sie wohnt irgendwo in Esenshire. Ich habe keine Ahnung, wo. Ich habe nichts mit diesen Leuten zu tun«, erwiderte Palmer schmallippig.

Geoffrey schrieb den Namen auf und stutzte. Den Namen Faraday kannte er, auch wenn er ihn in diesem Augenblick nicht zuordnen konnte.

»Jack Faraday ist Staatsanwalt für Wirtschaftsstrafrecht«, sagte Palmer, der Geoffreys Reaktion wohl wahrgenommen hatte.

»Haben Sie ein Problem mit der Staatsanwaltschaft?«, fragte Geoffrey und grinste.

»Nein, Constable. Und auch, wenn es Ihnen gefallen würde, Faraday hat bisher nicht gegen mich ermittelt. Er bumst allerdings meine Frau.«

Titel

Geoffrey hatte Palmer wieder in seine Zelle bringen lassen und war hastig zurück ins Büro geeilt. Bis zur Rückkehr von Chief Inspector Taylor wollte er das Alibi von Isabel Palmer überprüfen und mit dieser Kristin Lundby in Stockholm sprechen.

Eine private Telefonnummer von Faraday war nicht zu ermitteln, wahrscheinlich hatte er als Staatsanwalt eine Geheimnummer. Also rief Geoffrey in dessen Büro an und ließ sich mit Faradays Sekretärin verbinden.

»Tut mir leid, Constable. Staatsanwalt Faraday ist nicht im Haus, und ich bin nicht befugt, Ihnen irgendwelche Auskünfte zu geben«, sagte sie, nachdem Geoffrey ihr erklärt hatte, dass er Mrs. Faraday für eine Zeugenaussage befragen müsse.

»Sie soll sich bitte dringend bei mir melden. Es ist sehr wichtig«, beteuerte er.

»Ich werde es Staatsanwalt Faraday ausrichten, Constable. Von welcher Dienststelle rufen Sie nochmal an?«

»Criminal Investigation Department Esenshire. Dezernat Gewaltverbrechen.« Er hoffte vergeblich, dass dies Eindruck schinden würde.

»Sie arbeiten für das Team von Chief Inspector Taylor?«

»Er ist mein Vorgesetzter, richtig.«

»Staatsanwalt Faraday wird sich bei Ihnen melden«, sagte sie schnippisch und legte auf.

Geoffrey saß verdutzt mit dem Telefonhörer in der Hand an seinem Schreibtisch und starrte auf den leeren Computerbildschirm. Verdammt, dachte er und wählte die nächste Nummer auf seiner Liste. Diesmal würde er sich nicht so einfach abspeisen lassen.

Nach wenigen Sekunden kam die Verbindung zustande, und Geoffrey war froh, dass in Schweden so gut wie jeder Englisch sprach. Er stellte sich vor und verlangte nach Kriminalkommissarin Kristin Lundby.

»Tut mir leid, Sir, Kristin hat das Revier vor ein paar Minuten verlassen. Wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, wird sie sich aber in jedem Fall so schnell wie möglich bei Ihnen melden«, sagte die junge Polizistin, die das Gespräch entgegengenommen hatte.

Erneut fühlte sich Geoffrey als Verlierer. Dabei wollte er doch nur einen guten Job machen – und ja, er wollte auch vor Taylor gut dastehen. Bis jetzt hatte er allerdings nichts in der Hand, womit er ruhigen Gewissens vor seinen Vorgesetzten treten konnte. Er war versucht, Claire anzurufen und sie um Informationen über Palmer, Cooper, Faraday und Olufson zu bitten. Er ließ es sein. Zum einen wollte er seine Verlobte nicht in Schwierigkeiten bringen, und zum anderen wäre Taylor nicht begeistert, wenn er die Presse in die Polizeiarbeit einband.

Niedergeschlagen stand er auf und ging in Richtung Kaffeeküche, als er Taylor mit dem Mobiltelefon am Ohr die Treppe hinaufkommen sah.

Titel

Taylor war nach seinem Gespräch mit Nigel Ramsey wütend wieder nach Esenshire gefahren. Dass Ramsey nichts von den Gerüchten um den Alkoholschmuggel nach Schweden gewusst haben wollte, nahm er ihm nicht ab, allerdings schien er sich insgesamt kaum um das zu kümmern, was in der Firma vor sich ging. Er entwickelte Marketingstrategien und Werbebotschaften. Aber das operative Geschäft wie Einkauf, Buchhaltung und Lieferwege ging scheinbar vollkommen an ihm vorbei.

Als Taylor auf den Parkplatz des Polizeireviers einbog, klingelte sein Mobiltelefon, und er nahm das Gespräch entgegen, während er mit einer Hand den BMW in die Parklücke lenkte. Er hatte nicht auf das Display gesehen und ein »Ja, Taylor« ins Telefon geknurrt.

»Du klingst nicht begeistert, mich zu hören«, lachte Jessica Taylor offenbar bestens gelaunt.

»Entschuldige, Liebling. Ich komme gerade von einer Zeugenbefragung«, sagte er und wusste, dass seine Frau für seine Stimmung wie immer Verständnis haben würde.

»Vielleicht sollten wir die Inquisition wiedereinführen, wenn deine Zeugen nicht das sagen, was du hören möchtest«, sagte sie süffisant. Taylor lächelte gequält. Er liebte seine Frau dafür, dass sie ihn stets aufzumuntern vermochte, diesmal waren ihre Versuche jedoch erfolglos.

»Willst du darüber am Telefon reden? Oder lieber heute Abend?«, fragte sie schließlich.

»Nicht am Telefon. Wie war dein Tag?«, erkundigte er sich pflichtbewusst, auch wenn sie beide wussten, dass er sich im Augenblick nicht für ihre Probleme interessierte.

»Er war grauenhaft, lass uns lieber von so was Erfreulichem wie einem Doppelmord reden«, lachte sie und diesmal war es ihr endgültig gelungen, Taylor aufzuheitern.

Jessica Taylor hatte vor einem halben Jahr wieder begonnen, vier bis fünf Stunden am Tag beim Medical Competence Center, einer der vielen privaten Krankenversicherungen in England, zu arbeiten. Die Tätigkeit in der Buchhaltung bereitete ihr viel Vergnügen, zumal ihr Sohn Felix mit seiner Freundin Julia Whitfield kurz nach ihrem Urlaub zum Studium nach London gezogen war.

»Leider gibt es nicht die geringste positive Neuigkeit«, sagte er und stieg aus dem Wagen.

»Dann wirst du dich freuen, dass Patricia und Andrew wieder in England sind.«

»Ich bin tatsächlich froh darüber. Holmes gibt sich alle Mühe, aber …«

»Andrew hat angerufen. Ich denke, Sergeant Duncan hätte sich nie getraut zu fragen …«, unterbrach Jessica Taylor ihren Mann.

Taylor stockte. Er ahnte, dass die folgende Botschaft ihn nicht glücklich machen würde. »Was ist passiert?«

»Sie kamen aus dem Urlaub zurück, und ihr Kühlschrank ist kaputt …«, begann sie, und Taylor hätte beinahe laut losgelacht.

»Der Kühlschrank …?«

»Ich habe die beiden für heute Abend zu uns zum Essen eingeladen. Das ist doch okay für dich, oder?«

Taylor betrat das Gebäude und nickte dem Diensthabenden kurz zu. »Natürlich ist das in Ordnung, Liebling«, sagte er beiläufig und verabschiedete sich von einem ruhigen Feierabend.

»Prima. Willst du deinen neuen Constable nicht ebenfalls einladen? Ist er eigentlich verheiratet?«

»Er hat eine Verlobte …«

»Gut. Er soll sie mitbringen. Felix kommt übrigens auch. Julia ist offenbar anderweitig verabredet. Ich fahre dann gleich zum Markt und besorge die Einkäufe«, sagte sie fröhlich, während er zu seinem Büro ging. Geoffrey stand vor der Kaffeeküche und sah ihn zerknirscht an.

»Ich werd´s ihm ausrichten. Bis heute Abend«, sagte er und beendete das Gespräch. Dann wandte er sich seinem Constable zu. »Sie sehen unzufrieden aus, Holmes«, sagte er und steckte das Telefon wieder in seine Jackentasche.

»Was sollen Sie mir ausrichten, Sir?«, fragte Geoffrey unsicher.

»Mrs. Taylor hat ein großes Herz und einen vollen Kühlschrank. Außerdem ist mein Sergeant mit ihrem Lebensgefährten heute Abend bei uns zum Essen eingeladen. Es wäre eine gute Gelegenheit, sich kennenzulernen.«

Geoffrey stutzte und sah Taylor irritiert an. Offenbar hatte er mit einer derartigen Gastfreundschaft nicht gerechnet oder war sie einfach nicht gewohnt.

»Das ist sehr nett. Ich werde Claire sagen, dass ich …«

»Ihre Freundin ist selbstverständlich ebenfalls eingeladen«, schob Taylor hastig hinterher und lächelte süffisant. »Sie wollten gerade Kaffee machen? Ich erwarte Sie gleich im Büro«, sagte er und ging zu seinem Arbeitsplatz.

Titel

Geoffrey hatte eine Thermoskanne Kaffee zubereitet und trug sie zusammen mit zwei Bechern, Sahne und Zucker auf einem Tablett ins Büro. Taylor saß an seinem Schreibtisch und las E-Mails, während Geoffrey den Kaffee verteilte.

»Sie mögen auch keinen Tee, Sir«, sagte er und stellte Taylor die große Tasse hin.

»Danke, Holmes. Ich weiß gar nicht, was wir Engländer so sehr an Tee lieben. Und Sie trinken auch lieber Kaffee?«

»Irland ist nicht gerade das Land der Teetrinker«, antwortete er und nahm einen Schluck des schwarzen, heißen Getränks.

»Irland? Ich dachte, Sie stammen aus Liverpool?«

»Da bin ich geboren, richtig. Aber mit neunzehn bin ich meinem Großvater gefolgt, der viele Jahre vorher schon nach Dublin ausgewandert war.«

»Und was haben Sie dort getan?« Taylor sah ihn neugierig an und hielt seinen Kaffeebecher in beiden Händen.

»Ich war Taxifahrer«, antwortete er. Taylor hätte beinahe seinen Kaffee verschüttet.

»Sie waren was …?«

Das Telefon bewahrte Geoffrey davor, Taylor seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen. Vielleicht blieb es ihm sogar dauerhaft erspart, seine Vergangenheit offenzulegen. Er nahm den Hörer ab und erkannte sogleich die Stimme von Faradays Sekretärin.

»Staatsanwalt Faraday hat nun Zeit für Chief Inspector Taylor. Wenn Sie bitte durchstellen würden, Constable«, sagte sie so freundlich, dass Geoffrey beinahe übel wurde. Er hatte während seiner Zeit in Irland vollkommen verlernt, wie klassenorientiert dieses Land immer noch war. Selbst während seiner Ausbildung war es ihm nicht so ausgeprägt aufgefallen. Womöglich war es in dörflichen Regionen sogar ausgeprägter als in den Großstädten.

»Staatsanwalt Faraday für Sie, Sir«, sagte Geoffrey und hielt mit einer Hand die Sprechmuschel verdeckt.

Taylor zog eine Augenbraue hoch und sah Geoffrey fragend an. »Dann verbinden Sie mal«, sagte er irritiert, und Geoffrey fiel in diesem Augenblick ein, dass er Taylor noch nicht über den Grund für Faradays Rückruf berichtet hatte.

»Faradays Frau ist die Freundin von Isabel Palmer, und nach Palmers Aussage hat der Staatsanwalt ein Verhältnis mit ihr«, berichtete Geoffrey, während er das Gespräch in die Warteschleife zum Verbinden gelegt hatte.

Taylor verzog angewidert das Gesicht, und Geoffrey konnte nur hoffen, dass es nichts mit ihm zu tun hatte. Dann stellte er das Telefonat durch und beobachtete Taylor aufmerksam.

Auch das war etwas, was er während seiner Ausbildung verstanden hatte. Es reichte manchmal aus zu beobachten und die richtigen Schlüsse ziehen.

»Taylor«, meldete sich der Chief Inspector und hörte einige Augenblicke zu. »Ja, Sir, das ist richtig. Wir ermitteln im Mordfall Ian und Madeleine Cooper. Wir müssten dazu Ihrer Frau einige Fragen stellen.« Erneut entstand eine kurze Unterbrechung, und Geoffrey ahnte, welche Antworten der Staatsanwalt gab.

»Das wäre mir sehr recht, Sir. Ich bin in einer Stunde bei Ihnen … Ja, die Adresse habe ich notiert, Sir. Vielen Dank.« Dann legte Taylor auf und sah Geoffrey tadelnd an.

»Ich warte auf den Rückruf von dieser schwedischen Polizistin …« Geoffrey blätterte verlegen in seinen Unterlagen. »… Kristin Lundby. Sie wollte zurückrufen, sobald sie wieder im Büro ist.«

»Danke, Holmes«, sagte Taylor lediglich und nickte ihm zu.

Titel

Taylor hatte überlegt, die wenigen hundert Meter zu Faradays Wohnhaus zu Fuß zurückzulegen, sich aber dann doch für seinen BMW entschieden. Einer der Gründe war sicherlich, dass der Staatsanwalt ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass Status für ihn eine herausragende Bedeutung hatte. Er parkte sein Fahrzeug hinter einem Bentley, von dem er annahm, dass es Faradays Privatwagen sei, und stieg aus. Noch bevor Taylor die Haustür erreicht hatte, wurde ihm geöffnet, und ein junges dunkelhäutiges Mädchen begrüßte ihn.

»Mr. Taylor, herzlich willkommen. Ich bin Annabelle Faraday.« Sie reichte ihm die Hand und bemerkte seine Irritation. »Ich bin die Adoptivtochter «, sagte sie und trat lächelnd einen Schritt beiseite.

»Verzeihen Sie«, sagte er verlegen. »Ich wusste nicht, dass die Faradays eine Tochter haben. Ich wusste nur von einem Sohn …«

»Mein Bruder Ashton, ja. Er studiert in Oxford. Aber Sie sind sicher nicht hier, um über mich oder meinen Bruder zu sprechen.« Sie lächelte und führte ihn in das Wohnzimmer. Anne Faraday saß auf der Couch und erhob sich, als ihre Tochter und Taylor eintraten.

Taylor hatte die Frau des Staatsanwaltes nur bei einer früheren Veranstaltung getroffen und hätte sie anhand dieser Begegnung nicht wiedererkannt. Sowohl ihre Haarfarbe, eine Art Dunkelrot, als auch ihre Körperfülle hatten sich stark verändert. Der Chief Inspector fand, beides nicht zu ihrem Vorteil.

»Chief Inspector Taylor. Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte sie und schritt auf ihn zu. »Annabelle, Liebes, machst du dem Chief Inspector einen Tee?«, fragte sie und reichte Taylor die Hand. Dann nahm sie Platz.

»Vielen Dank, Miss Faraday, aber ein Glas Wasser reicht«, erwiderte Taylor, ehe Annabelle das Wohnzimmer verließ. Sie lächelte ihn an und verschwand. Als er sich in einen der Sessel setzte, kam sie mit einer Flasche Wasser und einem Glas zurück.

»Ich bin in meinem Zimmer, wenn noch was ist, Mum«, antwortete sie und schloss die Wohnzimmertür.

»Danke, dass Sie Zeit für mich gefunden haben«, eröffnete Taylor das Gespräch und kam ohne Einleitung auf den Dienstagabend zu sprechen. »Ihre Freundin Isabel Palmer besucht Sie regelmäßig?«

»Ja, in der Regel jeden ersten Dienstag im Monat, wenn ihr Mann sich mit seinen Freunden trifft. Aber seit kurzem ist Isabel wesentlich häufiger hier. Immer dann, wenn ich nicht zu Hause bin, kommt sie vorbei und vögelt meinen Mann.« Ein hämisches Grinsen breitete sich über ihrem Gesicht aus. Taylor blickte sie irritiert an.

»Jetzt schauen Sie nicht so pikiert, Chief Inspector. Ich bin aufgrund meiner Kortisonbehandlungen ein unansehnlicher Hefekloß geworden, und mein Mann steht nun einmal auf knackige Frauen. Und besser, er nimmt jemanden wie Isabel, als dass er sich an irgendeiner dahergelaufenen Prostituierten vergreift. Meinen Sie nicht auch?«

Taylor wusste keine passende Erwiderung und schwieg. Vielleicht brachte das Anne Faraday dazu weiterzusprechen und Dinge auszuplaudern, die sie nicht erzählen würde, wenn er sie unterbrochen hätte.

»Nein, das dürfen Sie nicht von Jack denken«, korrigierte sie sich und griff nach einem Glas, das vor ihr auf dem Tisch stand. Sie trank es in einem Zug aus. »Ich habe seit zwei Jahren diese rheumatischen Schübe und bekomme deshalb zweimal in der Woche eine Kortisonspritze. Jack ist gewiss ein gefürchteter Staatsanwalt, aber er hat auch Gefühle und … nennen wir es männliche Bedürfnisse. Jedenfalls habe ich ihm vorgeschlagen, sich Isabel anzunähern und sie zu seiner Geliebten zu machen. Er denkt übrigens, er sei der einzige Mann in ihrem Leben, nachdem sie Sam Palmer den sexuellen Laufpass gegeben hat.« Sie lachte laut und verdrehte die Augen.

Taylor hatte bereits so viele verschiedene Konstellationen von menschlichem Zusammenleben kennengelernt, dass ihn diese Geschichte nicht in Verlegenheit brachte. Allerdings ergaben sich hierdurch auch etliche neue Fragen, die er Jack Faraday stellen würde.

»Aber Sie wollten ja mit mir über Isabel und letzten Dienstag sprechen, richtig?«

Taylor nickte und trank einen Schluck Mineralwasser. »Mrs. Palmer hat gesagt, sie habe das Haus …«, er hatte sein Notizheft hervorgeholt und blätterte darin herum. »… gegen achtzehn Uhr verlassen. Sie will kurz vor neunzehn Uhr bei Ihnen gewesen sein, können Sie das bestätigen?«

Anne Faraday dachte einen Augenblick nach und nickte dann, was durch ihr massives Doppelkinn kaum zu sehen war. »Das kommt hin, ja. Wir haben etwa um halb acht zu Abend gegessen und es uns dann vor dem Fernseher gemütlich gemacht und einige alte Folgen The Gentle Touch gesehen. Sie erinnern sich doch bestimmt auch noch an Jill Gascoine, nicht wahr?«

Taylor nickte. Ja, er kannte die Serie, die Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre auf BBC lief, wenngleich er Die Profis bevorzugt hatte. Gleichwohl hatten beide Serien nur bedingt Gemeinsamkeiten mit seinem Alltag als Polizist. Taylor machte sich hin und wieder einige Notizen, was Anne Faraday belustigt zur Kenntnis nahm.

»Nun, Isabel war jedenfalls die ganze Nacht und den gesamten Mittwoch hier und ist erst heute früh nach dem Frühstück nach Werdum Market gefahren.«

Taylor stutzte. »Sie haben im selben Zimmer geschlafen?«

»Unsinn, Chief Inspector. Natürlich nicht. Isabel hat wie immer das Gästezimmer benutzt. Wir haben gegen halb elf gefrühstückt, und Isabel ist dann zurück nach Hause. Verdächtigen Sie die arme Frau etwa der Beihilfe? Das wäre ja absolut grotesk.«

»Ich versuche nur, mir ein Bild zu machen, Mrs. Faraday. Waren Ihre Tochter und Ihr Mann am Dienstag auch im Haus?«

Anne Faraday schüttelte den Kopf. »Annabelle war vermutlich bei ihrem Freund, von dem sie glaubt, dass wir keine Ahnung von seiner Existenz haben. Aber er ist ein niedlicher Kerl, und Jack hat ihn natürlich näher beleuchtet. Er studiert Kunstgeschichte und wird vermutlich später einmal auf der Themse sitzen und einen Hut vor sich stehen haben. Aber so lange soll sie sich ruhig mit ihm amüsieren.« Sie griff nach der Wasserflasche, die zwischen ihr und Taylor stand, und füllte ihr Glas erneut randvoll. »Jack hat wahrscheinlich im Büro übernachtet. Das macht er meistens, wenn er noch ein Meeting mit Mitgliedern des Oberhauses hat und nicht mehr den Weg bis in unser gemeinsames Bett findet.« Sie lachte bitter und trank das Wasser aus.

Titel

Geoffrey atmete erleichtert auf, als das Telefon klingelte und eine Frau am anderen Ende der Leitung sich als Kristin Lundby vorstellte. Er hatte schon befürchtet, sie würde entweder sehr spät zurück in ihr Büro kommen oder seine Rückrufbitte gar ignorieren.

»Mrs. Lundby …«

»Miss, aber sagen Sie bitte Kristin. In Schweden duzen sich alle.«

»In Ordnung, Miss … Kristin. Ich bin jedenfalls froh, dass du so schnell zurückgerufen hast. Wir ermitteln hier in England im Mordfall Ian Cooper. In diesem Zusammenhang tauchte Ihr … dein Name auf.«

»Bengt … also Bengt Olufson war den Schmugglern auf den Fersen. Ich habe seine Ermittlungen ernst genommen, im Gegensatz zu vielen anderen Polizisten hier.«

»Mr. Smalland schien nicht davon überzeugt zu sein, dass es einen großen Alkoholschmuggel von England nach Schweden gegeben hat«, sagte Geoffrey.

Sie lachte verächtlich auf. »Ja, und ich bin überzeugt, dass das nicht das einzige ist, worin er sich irrt. Aber ich bin nicht lebensmüde genug, am Telefon mit dir darüber zu sprechen, Geoffrey.«

»Bengt Olufson ist verschwunden …«

»Er ist tot«, sagte sie entschieden. und Geoffrey zuckte bei ihren Worten zusammen.

»Soweit ich erfahren habe, ist seine Leiche nirgendwo aufgetaucht.«

»Und deshalb ist er noch am Leben, oder was?«

»Hey, das habe ich nicht behauptet. Aber Sie … du weißt doch besser als ich, wie so etwas läuft, Kristin. Solange keine Leiche gefunden wird und niemand in Verdacht gerät …«

»Ich habe einen Verdächtigen«, fuhr sie dazwischen.

Geoffrey spannte instinktiv seine Muskeln an und hörte aufmerksam zu. »Und wer?«, fragte er.

Sie lachte, aber es klang eher zynisch. »Nicht am Telefon, und wie du schon sagtest, ohne Beweise ist dem besten Verdächtigen nichts anzuhaben.«

»Hatte Olufson Beweise?«

»Er hat es jedenfalls behauptet, aber was immer er besaß, ist mit ihm zusammen verschwunden.«

»Auch an seinem Arbeitsplatz gab es keine Aufzeichnungen? Auf Papier oder als Diskette?«

»Nichts. Zumindest hat Smalland das behauptet, aber er …« Sie brach ab und schwieg.

»Du glaubst, die Polizei vertuscht was?«

»Ich werde nicht am Telefon darüber reden. Vermutlich werde ich überhaupt nicht darüber reden. Mit wem auch?« Sie lachte wieder, und diesmal hörte es sich beinahe traurig an.

»Dann hast du vermutlich auch nicht die geringste Ahnung, ob Ian Cooper tatsächlich der Kopf der Schmugglerbande war?«

»Ich weiß, dass Bengt ihn verdächtigt hat. Er hat die Transporte von Palmers LKWs verfolgt. ihre Routen überprüft und Unregelmäßigkeiten gesucht. Ich weiß aber nicht, was er letztlich wirklich gefunden hat. Er sprach jedenfalls davon, dass die Schmuggelware, die wir gefunden haben, immer einen Tag vor den Warenlieferungen von Palmer & Ramsey an das Kaufhaus auftauchte.«

Geoffrey hatte an einigen Stellen Mühe, seine eigene Schrift lesen zu können. »Was ist mit der englischen Polizei? Hat die euch weiterhelfen können?«

»Bengt hat durch sie die Termine der Schiffstransporte erfahren, aber das war auch schon alles, glaube ich. Ich wüsste jedenfalls nicht, dass der englische Zoll die Container überprüft hätte, bevor die Waren verschifft wurden.«

»Und die Schweden haben das bei der Einfuhr auch nicht getan?«

»Ich glaube, es hat, wenn überhaupt, nur Stichprobenprüfungen gegeben.« Sie machte eine kurze Pause, und Geoffrey hörte das Klicken eines Feuerzeugs im Hintergrund. »Ich hoffe, ich konnte dir ein wenig helfen«, sagte sie schließlich.

Geoffrey schüttelte den Kopf. Im Grunde hatte er nichts erfahren. Wenn Bengt Olufson irgendwelche Beweise für die Beteiligung von Ian Cooper am Alkoholschmuggel hatte, waren sie ebenso spurlos verschwunden wie der schwedische Polizist.

Titel

Anne Faraday blickte Taylor neugierig an. »Wozu stellen Sie all diese Fragen, Inspector? Braucht Isabel ein Alibi für die Tatzeit? Oder gar ich oder Jack?«

Taylor nahm wieder sein Notizbuch zur Hand. Er ließ einige Augenblicke verstreichen, ehe er ihr antwortete. »Ihr Mann ist Staatsanwalt, Mrs. Faraday. Sie sollten doch wissen, wie Polizeiarbeit abläuft. Wir wollen nur vermeiden, irgendetwas übersehen zu haben, was der Kronanwalt uns vor Gericht zerpflückt.«

Sie nickte. »Das verstehe ich natürlich. Also haben weder Isabel noch ich ein Alibi, da wir in getrennten Zimmern übernachtet haben und sich jede von uns heimlich hinausschleichen konnte, um … ja, um was eigentlich zu tun?«

Taylor konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sagen Sie es mir, Mrs. Faraday.«

»Ich hatte keinen Grund, jemanden zu erschießen. Zumal ich nicht einmal wüsste, wie ich an eine Waffe kommen sollte.«

»Ihr Mann ist im hiesigen Jagdclub. Ich bin überzeugt, es gibt hier im Haus durchaus Waffen.«

»Ja, natürlich. Mein Mann hat im Keller einen Waffenschrank mit sechs Gewehren. Wollen Sie ihn sehen?«

Taylor schüttelte den Kopf. Sie machte sich lustig über ihn, und er nahm es ihr nicht einmal übel. Dennoch registrierte er, wie ihre Selbstsicherheit Stück für Stück bröckelte.

»Mrs. Palmer wird vermutlich erst Samstag oder Sonntag in ihr Haus zurückkönnen. Sie hat uns nicht gesagt, wo sie sich aufhalten wird, solange die Spurensicherung noch in ihrem Haus ist. Haben Sie eine Ahnung, wo sie zurzeit wohnt?«

»Ich könnte mir denken, sie ist bei einem ihrer Liebhaber untergekommen. Fragen Sie mich bitte nicht, bei welchem, aber sie könnte auch hierherkommen, wenn sie wollte.«

»Sie haben doch sicher ihre Mobilfunknummer …«

Anne Faraday dachte kurz nach und nannte sie ihm. Taylor schrieb mit und stand dann langsam auf. Seine Gastgeberin blieb sitzen und reichte ihm die Hand.

»Vielen Dank, Mrs. Faraday. Ich finde allein hinaus«, sagte er und wandte sich zur Tür. Ehe er sie erreichte, stand Annabelle vor ihm.

»Ich bringe Sie hinaus, Chief Inspector.« Sie lächelte ihn an. An der Haustür hielt sie erneut inne. »Verdächtigen Sie meine Eltern, etwas mit dem Tod der Coopers zu tun zu haben?«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Faraday. Diese Befragungen sind nur Routine und gehören beim aktuellen Stand der Ermittlungen dazu.«

Sie nickte und öffnete die Haustür. Taylor blieb kurz stehen und sah Annabelle Faraday ernst an. »Ihre Mutter sagte, Sie seien bei Ihrem Freund gewesen. Er studiert Kunstgeschichte, richtig?«

Ihre dunkle Haut wurde für den Bruchteil einer Sekunde bleich, wechselte dann in ein tiefes Rot. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

»Ich glaube, Ihre Eltern haben nichts gegen ihn«, lächelte Taylor und ging dann an ihr vorbei aus dem Haus.

Titel

Taylor kam kurz vor halb sieben nach Hause und betrat als erstes die Küche. »Ich hatte mit sieben Personen gerechnet, aber ich wusste nicht, dass du uns vier Wochen verpflegen wolltest«, sagte er ernst und betrachtete die unzähligen Töpfe und Schüsseln.

»Oh, ich dachte, dein Constable soll einen guten Eindruck von dir bekommen. Morgen kannst du ihn dann wieder verhungern lassen«, lachte Jessica und gab ihm einen flüchtigen Kuss. »Geh ins Wohnzimmer. Felix ist auch schon da.«

Taylor nickte dankbar und verließ die Küche. Sein Sohn saß in seinem Lieblingssessel und stand auf, als er seinen Vater erblickte. »Hallo, Dad. Schön dich endlich wieder zu sehen«, freute er sich und fiel ihm um den Hals.

»Du bist ausgezogen, Sohn«, lachte Taylor. »Wo ist Julia?«

»Ihre Mutter hat darauf bestanden, heute Abend mit ihr essen zu gehen.«

»Sehen sie sich häufig?«

»Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Aber ich habe ihr zugeredet, dass sie heute Abend ruhig zu ihr gehen soll.«

Ehe Taylor antworten konnte, hörte er die Klingel, ging in den Flur und öffnete schwungvoll die Haustür.

Geoffrey trug einen dunklen Anzug und lächelte seinen Vorgesetzten an. »Guten Abend, Sir. Vielen Dank für die Einladung«, sagte er. In einer Hand hatte er einen großen Blumenstrauß, der nach Taylors Einschätzung ein halbes Vermögen gekostet haben mochte. Mit der anderen hielt er die Hand von Claire Wedding, die sich in ihrem blumigen Cocktailkleid mit einem Knicks verbeugte. Taylor hätte beinahe laut losgelacht.

»Miss Wedding, wenn ich mich richtig erinnere«, sagte er und reichte erst der Journalistin und dann Geoffrey die Hand. »Kommen Sie herein und fühlen Sie sich wie zu Hause«, sagte er schmunzelnd.

»In Ihrem Haus herrscht auch das totale Chaos, Sir?«, grinste Geoffrey, und Taylor erinnerte sich daran, dass die beiden sich ja noch in der Einzugsphase befanden. Taylor warf einen Blick in die Küche, in der es in der Tat ein wenig chaotisch aussah.

»Das diskutieren Sie besser mit Mrs. Taylor«, lachte er und nahm ihm die Blumen aus der Hand. Als er sich damit zur Küche umdrehte, stieß er beinahe mit seiner Frau zusammen, die sich angeschlichen hatte.

»Oh, du hast mir Blumen mitgebracht, Schatz? Das hast du doch seit Jahren nicht mehr gemacht.« Sie grinste breit und schob sich an ihrem Mann vorbei. »Sie müssen Geoffrey sein«, begrüßte sie den Constable und wandte sich dann Claire zu.

»Claire Wedding. Vielen Dank für die Einladung, Mrs. Taylor. Ich war völlig überrascht, als Geoff mir heute Nachmittag sagte, ich dürfe ihn begleiten.« Sie reichte Jessica Taylor die Hand.

»Jemand muss doch auf Holmes aufpassen«, erwiderte Taylor und zwinkerte Claire grinsend zu. Dann führte er sie ins Wohnzimmer und machte seine Gäste mit Felix bekannt.

Titel

»Du hättest dir wenigstens ein Sakko anziehen sollen«, schimpfte Patricia Duncan, während Andrew Higgins den Wagen hinter einem roten Alfa Romeo parkte.

»Was zum Teufel ist denn hier los?«, wechselte sie unmittelbar darauf das Thema und starrte auf das Auto vor ihnen.

»Was meinst du, Schatz? Kennst du den Alfa?«, fragte Andrew Higgins teilnahmslos und betrachtete sein Outfit im Rückspiegel.

»Ich … ich weiß es nicht. Wahrscheinlich habe ich nur Halluzinationen. Schließlich gibt es Hunderte davon in England. Ich musste nur gerade an jemanden aus der Vergangenheit denken, der genauso einen Wagen fuhr«, sagte sie irritiert und löste den Sicherheitsgurt. »Lass uns endlich aussteigen.« Und damit war sie auch schon aus dem Wagen gesprungen.

Andrew folgte ihr in einem Abstand und musste, als er sie beinahe erreicht hatte, zurück zum Auto. »Ich hab den Rotwein auf dem Rücksitz vergessen.« Patricia verdrehte die Augen und klingelte an der Haustür der Taylors.

Es war Felix, der ihnen die Tür öffnete und sie ins Haus ließ. »Hallo, Miss Duncan, Mr. Higgins. Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Urlaub«, sagte er und nahm den Wein entgegen. »Ein gutes Tröpfchen«, bemerkte Felix, als Taylor ebenfalls im Flur erschien.

»Sergeant Duncan, Mr. Higgins«, begrüßte er sie freundlich und reichte ihnen die Hand. »Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich freue, Sie wohlbehalten zurück in England zu sehen.«

»Ist der Neue so schlimm, Sir?«, lachte Patricia und ließ sich von Taylor ins Wohnzimmer führen. Als sie jedoch den Raum betrat, hatte sie das Gefühl, schreien zu müssen. Sie starrte die beiden anderen Gästen entsetzt an und wäre am liebsten aus dem Haus gerannt.

»Hallo, Patricia«, sagte Geoffrey und grinste sie frech an.

Taylor blickte neugierig zwischen Geoffrey und Patricia hin und her. »Sie kennen sich?«, fragte er verwirrt.

»Was hat dieser Terrorist hier verloren?«, keuchte Patricia und hielt sich an Andrew fest, der sprachlos neben seiner Freundin stand.

»Police Constable Geoffrey Holmes, Sergeant. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit«, sagte Geoffrey und grinste dabei so breit und frech, wie er nur konnte.

Police Constable? Was erdreistete sich dieser Kerl! Police Constable, von wegen! Wie kam so ein Mensch dazu, sich so zu nennen? Patricia wandte sich hilfesuchend an Taylor. »Was hat das zu bedeuten, Sir? Sagen Sie mir, dass das nur ein sehr schlechter Witz ist und Sie ihn in Wirklichkeit als IRA-Terroristen verhaftet haben.«

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, wenn sie an ihre letzte Begegnung mit Geoffrey in Schottland dachte. Was Geoffrey, sein Großvater, ihr Exfreund David und dessen Vater John McConley getan hatten, war Selbstjustiz gewesen und für sie als Polizistin nicht hinnehmbar. Es führte dazu, dass sie ihren Job in Belfast an den Nagel gehängt und sich nach England hatte versetzen lassen. Und nun kam das alles wieder in ihr hoch.

Es war Jessica Taylor, die ihr ein Glas Rotwein reichte. »Beruhigen Sie sich erst einmal, meine Liebe.« Dann wandte sie sich an alle Anwesenden und klatschte zwei Mal in die Hände. »Setzt euch, das Essen ist fertig.« Sie schob sich an Patricia vorbei und eilte in die Küche. Felix folgte seiner Mutter und entzog sich somit offenbar für einen Augenblick der angespannten Situation.

»Ich setze mich nicht mit diesem Verbrecher an einen Tisch«, zischte Patricia Andrew zu, der sich bereits auf einen Stuhl setzen wollte und in seiner Bewegung innehielt.

»Setz dich bitte, Patricia. Ich denke, wir sollten die Gastfreundschaft von Mrs. Taylor nicht durch einen emotionalen Streit mit Füßen treten.«

Die Worte ihres Freundes hallten in Patricias Ohren nach, als sie sich wie in Trance neben Andrew setzte. Geoffrey nahm demonstrativ ihr gegenüber Platz, zuckte mit den Schultern und blickte sie hilflos an.

Patricia ignorierte ihn und versuchte, sich ausschließlich auf das Abendessen zu konzentrieren. Wie paralysiert schob sie sich Bissen um Bissen in den Mund, spülte mit Rotwein nach und bemühte sich zu antworten, wenn Taylor sich nach ihrem Urlaub erkundigte. Als Jessica Taylor zusammen mit Felix den Tisch abräumte, erwachte Patricia aus ihrer Hypnose und half den beiden, allerdings hauptsächlich, um Geoffreys Anblick auszuweichen.

»Möchten Sie darüber reden?«, fragte Jessica Taylor später, während Patricia half, die Spülmaschine einzuräumen.

Sie schüttelte nur energisch den Kopf und reichte Jessica einen weiteren Teller, während Felix sich auf sein Zimmer verabschiedete.

»Sie werden darüber reden müssen. Spätestens, wenn mein Mann Sie dazu auffordert«, sagte Jessica und Patricia wusste, dass genau das passieren würde.

Verdammt, wieso hatte sie sich so hinreißen lassen? Instinktiv hatte sie gespürt, dass etwas passieren würde, als sie den roten Alfa gesehen hatte. Irgendetwas an dem Wagen hatte sie sofort an Geoffrey erinnert, den sie niemals wiedersehen wollte.

»Es tut mir leid, Mrs. Taylor. Ich kann das jetzt nicht erklären, und ich hoffe, Ihr Mann gibt mir Zeit, bis ich mir selbst darüber im Klaren bin.«

Jessica Taylor lächelte süffisant.

Titel

Taylor hatte seinen Platz zwischen seinem Sohn und seiner Frau gewählt und behielt Patricia im Blick, die mit teilnahmsloser Miene ihrem neuen Constable gegenübersaß.

Er hatte nicht die geringste Vorstellung, was ihr Ausbruch zu bedeuten hatte. Sie nannte Geoffrey Holmes einen Terroristen und weigerte sich, mit einem Verbrecher an einem Tisch zu sitzen. Was um alles in der Welt verband die beiden? Zugegeben wusste Taylor nicht das Geringste über die Vergangenheit von Holmes. War er wirklich nur Taxifahrer? Er hatte sich nicht weiter damit beschäftigt, schließlich hatte Forester ihn ausgewählt.

Während des Essens hatte er es vermieden, Patricias verbalen Ausbruch weiter zu vertiefen, und stattdessen über Urlaub und Sport gesprochen. Dabei waren ihre Antworten schmallippig und eher einsilbig ausgefallen. Ihr Blick war während der gesamten Zeit auf ihren Teller gerichtet gewesen, als habe sie Angst, Holmes oder ihn anzusehen. Als Jessica begann, den Tisch abzuräumen, war Patricia aufgesprungen und ihr in die Küche gefolgt. Andrew Higgins schien ebenfalls nicht zu wissen, welche gemeinsame Vergangenheit seine Freundin mit Geoffrey Holmes verband. Er hatte Patricia ebenso neugierig wie mitleidig beobachtet.

Es war Claire Wedding, die als erste das Wort ergriff. »Ich wusste, dass genau das geschehen würde, als ich sie erkannt habe«, sagte sie leise.

Geoffrey nickte und sah Taylor mit rotem Kopf an. »Ich glaube, ich muss jetzt einiges erklären, Sir«, sagte er.

»Dann tun Sie das, Holmes«, sagte Taylor leise. Seine Stimme klang schroffer, als er beabsichtigt hatte, und Geoffrey zuckte zusammen.

»Wir kennen Patricia Duncan aus ihrer Zeit als Police Constable in Belfast«, ergriff Claire das Wort. Taylor sah sie aufmerksam an. »Geoffreys Großvater war bis zu seinem Tod Mitglied der IRA. Diese Nähe wirft Patricia ihm wohl vor. Zudem hat Geoffrey tatsächlich zwei nordirische Terroristen erschossen, um zwei Zivilisten zu schützen.« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das war jetzt die Kurzfassung. Möchten Sie das ausführlicher schildern, Holmes?«, fragte Taylor.

Geoffrey verzog das Gesicht. Dann atmete er tief durch und berichtete aus seiner Sicht, was sich im September 1993 in Irland und Schottland abgespielt hatte. Claire ergänzte Geoffreys Bericht immer wieder, während Taylor stumm dasaß und aufmerksam zuhörte.

»… kurz nach dem Tod meines Großvaters ging ich zurück nach Liverpool und las die Stellengesuche der Polizei …«, sagte Geoffrey gerade, als Jessica Taylor zusammen mit Patricia Duncan ins Wohnzimmer zurückkehrte.

»Und die hat deine Vergangenheit nicht interessiert?«, fragte Patricia bissig und setzte sich wieder auf ihren Platz. Offenbar hatte sie nicht vor, einen schnellen Waffenstillstand zu schließen.

Geoffrey grinste. »Doch, sogar sehr genau. Vor allem für Abraham Holmes haben sie sich brennend interessiert. Aber mein Großvater ist seit beinahe drei Jahren tot, und die Friedensverhandlungen in Nordirland sind weit fortgeschritten. So leid es mir tut, Patricia, aber ich bin weder vorbestraft, noch war ich jemals selbst Mitglied der IRA. Ich gebe zu, ich habe ihre Ziele unterstützt, aber nicht die Gewalt, die auf beiden Seiten ausgeübt wurde.«

»Glaubst du, ich würde mit einem Verbrecher ins Bett gehen?«, blaffte nun auch Claire über den Tisch hinweg Patricia an.

»Schön, dass wir das jetzt geklärt haben. Dann können wir das Thema ja nun beenden«, sagte Taylor lapidar, der wusste, dass nichts geklärt und beendet war.

Jessica Taylor war erneut in die Küche gegangen und kam nun mit Tee, Kaffee und ein wenig Gebäck zurück, als Felix ins Wohnzimmer hereinstürmte.

Titel

»Julia ist am Telefon«, keuchte Taylors Sohn atemlos, als habe er durch die halbe Siedlung rennen müssen, um wieder ins Erdgeschoss zu gelangen. Er hielt seinem Vater das Mobiltelefon mit zitternden Fingern entgegen.

Taylor nahm ihm das Telefon aus der Hand, ehe es Felix aus den Fingern gleiten konnte. Felix nickte ihm dankbar zu und ließ sich auf den nächstbesten freien Stuhl sinken. Der Chief Inspector blickte verwirrt hin und her zwischen dem Telefon, seinem Sohn und seiner Frau, die augenblicklich zu Felix geeilt war und ihn umarmte.

»Taylor«, meldete er sich und hörte einen Augenblick zu. »Julia? Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er, und Patricia spürte seine Anspannung.

»Julia, was ist passiert? Wo bist du?« Diesmal war seine Stimme eine Spur schärfer, so als führe er eine Zeugenvernehmung.

Taylor gefror der Gesichtsausdruck, während er Julia gebannt zuhörte. »In Ordnung, Julia. Bleib ganz ruhig. Wo bist du? Wo sind deine Eltern?«

Jessica Taylor und Felix starrten wie paralysiert zum Telefon, und auch Patricia vergaß in diesem Augenblick ihren Streit mit Geoffrey.

»Wir sind unterwegs. Bleib, wo du bist.« Dann legte er auf und drehte sich langsam zu seiner Familie um. »Julia war mit ihren Eltern in Birmingham essen. Kurz nach dem Hauptgang sind Ernest und Catherine Whitfield zusammengebrochen. Sie sind auf dem Weg ins Krankenhaus.«

Felix stand langsam auf. »Wie geht es Julia?«

»Sie ist ebenfalls im Krankenhaus. Ich fahre zu ihr. Willst du mitkommen?«, fragte er seinen Sohn und wusste, dass die Frage überflüssig war. Patricia war bereits aufgesprungen und ignorierte Higgins‘ fragenden Blick. Geoffrey saß unsicher neben Claire und schien zu überlegen, ob er ebenfalls in dieser Situation gebraucht wurde. Taylor riss ihn aus seinen Gedanken. »Sie kommen auch mit, Holmes«, sagte er entschieden, und Geoffrey erhob sich langsam von seinem Platz.

»Ruf an, wenn du etwas weißt«, sagte Jessica Taylor und gab ihrem Mann und ihrem Sohn einen Kuss.

»Ich fahre mit Felix. Patricia, Sie fahren zusammen mit Geoffrey«, sagte Taylor entschlossen, und wäre die Situation nicht so surreal, hätte ihn Patricias Gesichtsausdruck sicherlich erheitert. Geoffrey hingegen nickte nur und verzog keine Miene, während die drei Männer das Haus verließen und Geoffrey den Alfa aufschloss und einstieg. Patricia schlich zögernd hinter ihnen her. Während Taylor und Felix bereits losbrausten, stand sie vor der Haustür und versuchte, aus diesem Alptraum aufzuwachen. Sie kniff die Augen zusammen und als sie sie wieder öffnete, grinste Geoffrey sie an, als verhöhne er sie zu allem Überfluss auch noch.

»Kommst du mit, Patricia, oder soll ich Taylor allein folgen?« In seiner Stimme schwangen weder Zynismus noch Überheblichkeit mit.

»Ich komme«, brummte sie und setzte sich widerwillig auf den Beifahrersitz.

Geoffrey raste los, und schon nach wenigen Augenblicken hatten sie Taylors BMW vor sich. Patricia schwieg und starrte aus dem Seitenfenster, um Geoffrey nicht ansehen zu müssen.

»Hat dieser Whitfield eigentlich etwas mit dem Pharmakonzern zu tun?«, fragte Geoffrey, kurz nachdem sie auf die Autobahn aufgefahren waren.

Patricia drehte ihren Kopf langsam nach rechts und betrachtete sein Profil. Geoffrey sah sie kurz an und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße.

»Ernest Whitfield ist der Konzernchef. Seine Tochter Sandra hat zusammen mit Carlos Bardon ihre Entführung vorgetäuscht, und die beiden haben sich dann mit zehn Millionen Pfund nach Südamerika abgesetzt«, erklärte sie schließlich.

»Ich erinnere mich. Die Presse war im letzten Jahr voll mit der Story. Es gibt immer noch keine Spur von den beiden, richtig?«

Patricia verdrehte die Augen. Sie musste sich zusammenreißen, um in Geoffrey Holmes tatsächlich einen Polizisten zu sehen. Würde sie das jemals können? Oder würde er in ihren Augen immer derjenige sein, der auf der anderen Seite des Gesetzes stand? Schließlich gab sie sich einen Ruck und erzählte ihm von den Ermittlungsergebnissen.

»Sie sind nach wie vor spurlos verschwunden. Genauso wie das Geld.«

Geoffrey hatte aufmerksam zugehört und blickte in den Außenspiegel, ehe er die Spur wechselte. Patricia musste gestehen, dass er ein guter und umsichtiger Autofahrer war. Wenn er sich weiterhin so unverschämt positiv verhielt, würde sie ihn am Ende womöglich noch mögen. Sie lächelte still in sich hinein.

»Hat Whitfield versucht, den Aufenthaltsort seiner Tochter herauszubekommen?«

»Es wäre ihm zuzutrauen, jedenfalls ist davon nichts offiziell in den Akten vermerkt.«

»Und Catherine Whitfield? Hatte sie ebenfalls keine Ahnung, wohin ihre Tochter verschwinden würde?«

Patricia schüttelte den Kopf. »Sie hat sich noch weniger für ihre Kinder interessiert als Whitfield selbst.«

»Bleibt also noch Julia.«

»Taylor sagt, Julia habe offensichtlich zu keinem Zeitpunkt versucht, mit Sandra in Kontakt zu treten.«

»Nur wohnen Julia und Felix jetzt in London. Habt ihr keine Angst, dass die beiden eines Tages gemeinsam nach Rio abhauen?«, fragte er, ohne die Augen von der Straße zu nehmen.

»Nur weil du die Situation ausnützen würdest, müssen Felix und Julia das noch lange nicht tun«, schnaubte sie und spürte, wie ihr Kopf langsam rot anlief.

Geoffrey lächelte und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Wow, du willst das echt durchziehen, nicht wahr?«

»Wovon zum Teufel redest du? Was will ich durchziehen?« Seine beherrschte Reaktion verwirrte sie.

»Wusstest du, dass David immer noch todunglücklich ist, seit du ihn verlassen hast?«, fuhr er fort, als habe sie ihm keine Gegenfrage gestellt.

»Ihr habt kaltblütig Menschen getötet«, grollte sie.

Geoffrey schwieg für einen Augenblick. Es schien, als müsse er sich eine passende Antwort zurechtlegen. Dann allerdings antwortete er entschieden. »Nein, das haben wir nicht getan. Ich habe zuvor noch nie auf einen Menschen geschossen, und es ging damals nur darum, John McConley und Rita Sheldon zu retten oder sie sterben zu lassen. Eine andere Alternative hatte ich nicht.«

»Und was war mit Stone und Dillings? Hattest du da auch keine Alternative

»John wollte es so. Und David wollte es ebenfalls.« Er hob die Hand und unterbrach damit ihren Versuch einer Antwort. »Du bist Polizistin, das warst du damals schon. Du hättest die Möglichkeit gehabt, Johns Pläne zu verhindern. Du hast es ebenso wenig getan wie ich, also stell mich jetzt nicht wie einen Schwerverbrecher hin.«

Patricia schwieg. Sie spürte ihren Blutdruck ansteigen. Ihr Puls beschleunigte sich, und ihre Finger wurden feucht. Sie wusste, dass Geoffrey recht hatte.

»Vielleicht wären sie sogar vor Gericht freigekommen. Wäre das die Gerechtigkeit gewesen, für die du eintreten wolltest?« Geoffrey sprach immer noch ruhig und leise.

»Du verdammter Mistkerl«, zischte Patricia leise. Geoffrey nickte nur.

»Wenn es dir besser damit geht, die Schuld für damals mir zu geben, dann werde ich das nicht verhindern. Ich möchte dir nur sagen, dass ich meine Entscheidung, Polizist zu werden, gründlich überlegt habe, und ich möchte meinen Job gut machen. Gib mir wenigstens jetzt eine Chance«, bat er, und sie bogen auf den Parkplatz des Krankenhauses ein, in das Julias Eltern gebracht worden waren.